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Kapitel 2 Leben und Leben lassen

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Das Lied hatte ich geträumt, ich erinnerte mich beim Aufwachen deutlich daran.

An das helle Kinderlachen.

Das fröhliche, unbeschwerte Lachen dreier Mädchen.

Drei Schwestern, die heiter beim Seilspringen Abzählverse sangen.

Blitzlicht zuckte auf.

Es war, als sähe ich die spielenden Kinder durch das Objektiv einer Fotokamera. Im flirtendem Blitzlicht wurden die Bewegungen, die Gesichter, das Lachen für die Ewigkeit eines Augenblickes eingefroren.

Klick, Klick, die Mädchen sprangen, die blonden Zöpfe flogen.

Klick, Klick, am Rande des runden Kamerablickes formte sich ein dunkler Schatten.

Schwarze, diffuse Dunkelheit, die sich träge, aber unaufhaltsam in den Blick des Beobachters hinter der Kamera schob.

Daran erinnerte ich mich.

Ich war im Traum in meine Kindheit zurückgekehrt, spielte Seilspringen mit meinen Schwestern und sang den Drachenvers.

Es war wie eine herausgeschnittene Szene. Gab es ein Davor oder ein Danach, so erinnerte ich mich nicht daran.

Das wunderte mich nicht.

Ich erinnerte mich nur an wenige meiner Träume, vielleicht, weil ich mich nur selten an meine Kindheit erinnern mochte.

Meinen Lebensunterhalt verdiente ich durch den Betrieb einer Kneipe in Frankfurt.

Um sechzehn Uhr eröffnete ich.

Um siebzehn Uhr wurde es schon dämmerig.

Es waren kurze, regnerische Dezembertage. Die Dunkelheit schien sich zuerst in den engen, fensterarmen Seitenstraßen zu bilden. Die Nacht schaffte es noch nicht, auf die heftig befahrene Hauptstraße zu schwappen. Sie wurde zurückgedrängt von aufflammenden Scheinwerfern, von taghell erleuchteten Schaufenstern, von zuckenden Blitzlichtern der Reklamen, der beweglichen Helligkeit der Straßenbahnen.

Zu früh knipsten sich die Straßenlaternen dazu.

Bald würde daraus das matschige Halbdunkel der Großstadt werden.

Dieses nie- richtig- Dunkel und auf- gar- keinen- Fall- ruhig.

Nachdem ich bereits drei Jahre in Frankfurt lebte, verbrachte ich nach der Hochzeitsfeier meiner jüngeren Schwester die letzten Nachtstunden im Haus meiner Mutter.

Sie wohnte im alten Teil des Dorfes. Dort war ich geboren worden.

Inzwischen waren zwei Neubaugebiete hinzu gekommen. Leute, die dort wohnten, aber nie richtig heimisch wurden. Sie waren zu wenige, um in den Gemeinderat gewählt zu werden, oder gar zum Bürgermeister. Weder sprachen, noch verstanden sie den heimischen Dialekt, der sie ausschloss von den Kneipengesprächen am Bauernstich, den Winzerstammtisch und dem Klatsch der älteren Frauen.

Das Dorf mochte sich verjüngt haben.

Es gab neuerdings einen Supermarkt, die Kirche wurde vom Pfarrer der Nachbargemeinde versorgt, aus der alten Schule war ein Kinderhort geworden.

Aber die Klüngelei der Dorfleute war geblieben.

Ein malerisches Bächlein schlängelte sich zwischen braven weißen Häuschen, grün- bunten Vorgärten, mit richtig netten, properen Durchschnittsbürgern.

Es ging das Gerücht, das Leute, die ihr Haus lila strichen, vom Vorstandskomitee für genehme Farbgestaltung standrechtlich erschossen würden.

Wahrscheinlich lachten die Zugezogen über solche Gerüchte.

Ich nicht.

Frühmorgens fuhr ich mit einem Schrei hoch, voller Angst, im Schlaf erblindet zu sein. Ich erinnerte mich nicht mehr daran, ob ich einen Alptraum hatte, oder ob es nur dieses einzigartige Gefühl des Sturzes, blind und hilflos, gewesen war.

Um mich herum war es DUNKEL und STILL.

Vielleicht war es auch das Abflauen des Cocktails aus Sekt und Valium, den ich mir verpasst hatte. Sonst trank ich keinen Tropfen Alkohol, in meinem Job wär’s ja auch eine Katastrophe, aber an diesem Tag hatte ich es einfach gebraucht.

Ich schluckte zwei Valium, alleine, um den Schock über den zartgelben Farbton des Hochzeitskleides für schwangere Bräute zu überleben.

Der Sekt brachte mich am Tisch über die Runden.

Ich saß zwischen meiner Mutter und meiner älteren Schwester Yvonne, die sich an einem riesigen, hölzernen Kreuz festhielt, das die unter reizlosen braunen Stoff versteckten Rundungen ihrer Brüste begrub, so gut, als habe sie tatsächlich die Gelübde abgelegt und den Schleier genommen, wie sie es einmal vorgehabt hatte.

Durch den Wodka schaffte ich es, das Geschwätz zweier Tanten zu ertragen. Sie erzählten niedliche Geschichten, was für aufgeweckte, fröhliche und hübsche Kinder wir gewesen waren. Ich konnte mich an keine einzige dieser Fabeln erinnern. Die Tanten waren uralt, deshalb nahm ich an, dass sie uns mit irgendwelchen Cousinen verwechselten. Außerdem hätte ich gar nichts mehr sagen können, ich musste zur Toilette, mich übergeben.

Ich verstand es einfach nicht!

Ich war dreizehnjährig von Zuhause abgehauen, vorher hatte ich durchaus versucht, auf meine Probleme aufmerksam zu machen. Aber die plappernden Tanten ignorierten das, oder schienen es tatsächlich vergessen zu haben.

Selektives Gedächtnis nannte man das.

Sollte massenweise nach dem zweiten Weltkrieg aufgetreten sein, sobald das Wort JUDE erwähnt wurde.

Ha.

Vielleicht war es auch eine jener Nächte, in denen man nicht schlafen konnte, selbst wenn man eine ganze Packung Valium eingeworfen hatte.

So eine Nacht, in der man hochfuhr und mit entsetzten Augen ins Dunkle starrte, unsicher, ob der Traum zu Ende war, oder weiterging.

Eine Nacht, die einem schwer auf dem Magen lag, selbst wenn man seine Seele im Weihwasserbecken hinter den Beichtstühlen ausgewaschen hatte, um sie zur Ruhe zu bringen.

Eine Nacht, um Drachen aufzuwecken.

Schließlich stand ich auf, griff meinen Koffer und machte mich davon, noch bevor Mama aus ihrem Glücks- Koma erwachen konnte.

Die Häuser waren dunkel, nur in einem ging ein schwaches Küchenlicht an. Ich begegnete lediglich den Fegern, die den Bürgersteig blitzblank machten und rechtzeitig vor dem ersten Licht des Tages unsichtbar wurden.

Meine Schritte hatten einen ungehörig lauten Hall in der morgendlichen Stille, die nur das erste Zwitschern der frühen Vögel durchdrang.

Am Bahnhof warteten nur wenige Menschen, ich nahm einen der ersten Züge.

Ich war entsetzlich müde, aber ich konnte während der Fahrt nicht mal dösen. Ich war hellwach.

Erst in meiner Wohnung in Frankfurt, über der Kneipe, in meinem Schlafzimmer, das unaufgeräumt im fahlem Licht des Morgens lag, konnte ich die Augen schließen.

Ein Flugzeug brummte über der Stadt, ungeduldiges Hupen kam von der Straße und das sanfte Ansurren der Bahnen. Das löste den engen Strick um meinen Hals. Alle diese Menschen, die in ihrer frühmorgendlichen Mürrischkeit aneinander vorbei hasteten, sich nicht kannten und nie kennenlernen würden, ja, da konnte ich schlafen.

In die Kneipe kamen die üblichen Feierabend- Typen.

Die Schnell- noch- ein- Bierchen- Papas und die ersten Schlampen, die Leere ihrer ungeputzten Wohnung nicht ertragen konnten, überbrückten die Zeit bis zu den Schluckspecht- Kunden.

Ivoco, meine Bedienung, verspätete sich.

Statt dessen schneite Benny herein.

Das erste, was er mir zurief, war:

”Kriege ich Nächsten Sommer meinen Job wieder?”

Ich zapfte ihm ein Bier an.

”Vergiss es, du bist zu fett für meine Schürzen geworden.”

Jeden Sommer stellte ich eine Studentin für den Biergarten im Hof ein. Letzten Mai warf ich nacheinander drei faule, ungeschickte Schlampen hinaus.

Dann tauchte Benny auf. Er studierte irgendeine Wirtschaft, konnte gut Kopfrechnen und zerbrach nicht mehr Gläser als ich erwartete. Zu spät kapierte ich, dass er schwul bis hinter beide Ohrläppchen war.

Ob er seine Bettlaken mit Weiblein, Männlein oder jungen Hunden füllte, war mir egal, aber ich wollte nicht, das meine Kneipe zum Schwulentreff geriet.

So etwas konnte ein Lokal verdammt schnell Abstürzen lassen.

Ich hatte zu hart für meine Kneipe gearbeitet, um dies zulassen zu können.

”Ich will nur noch von echten Stuten bedient werden,” sagte Karl, ein Stammkunde. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu.

”Ja, aber die nicht von dir.”

Die anderen lachten grölend, während ich das Bier verteilte.

Benny sah mich mit großen Glubschaugen an.

Verdammt, warum konnte ich den Kerl nur so gut leiden? Er hatte ein breites, gutmütiges Gesicht und Augen, die wenig übel nahmen.

Er war gerade mal so groß wie ich und kaum schwerer, sein Haar hatte eine weiche Nußschalenfarbe. Doch wenn er seine weibische Nummer als Fernseh- Schwuler hinlegte, nervte er mich echt.

”Isa, Liebste, sei kein Macho, ich brauche den Job. Ich lasse mir ja auf den Hintern klopfen und Geldscheine ins T- Shirt stecken.”

Ich blickte gepeinigt zur Decke.

”Du solltest MIR was zahlen für den Job”

Die Kerle am Tresen lachten schon wieder.

”Ich muss jetzt Taxi fahren. Ich hasse den Job. Mir ist morgens schon schlecht, wenn ich nur daran denke.”

”Soll mich das wundern?

Jeder Kerl, der hier ein Taxi fährt, weiß, das er irgendwann mal zusammengeschlagen und beklaut wird. Jede Frau, die diesen Scheiß- Job nimmt, muss sich darüber im klaren sein, mal einfach so flachgelegt zu werden. Aber DU ... trägst doppeltes Risiko.”

Jetzt grölten die Typen an der Theke richtig los.

Ich hatte keine Ahnung, warum die so lachten.

Das war wie mit diesen amerikanischen Sendungen, die ich morgens beim Staubwischen ansah. Jemand sagte etwas ganz normales und schon wieherten hundert unsichtbare Leute los.

Ich konnte es mir nicht erklären.

Ich war mir sicher, ich hatte in meinem Leben noch nie was Komisches gesagt.

Endlich kam Ivoco. Ich brauchte nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen, um zu wissen, was los war.

Sie sprach nur Englisch, immer noch, obwohl ich sie in diesen kostenlosen Kurs schickte.

Sie murmelte, das sie sofort mit dem Salat und den Schnitzeln anfangen würde und verschwand in der Küche.

Benny besah mich mit einem dieser Blicke, den er besser Zuhause gelassen hätte.

”Läuft ihre Zeit ab?”

Ich zuckte die Schultern und sah in den Spiegel, überprüfte mein Make- Up.

Ich hatte ein sehr ebenmäßiges Gesicht. Es war leicht zu schminken. Hatte ich ihm einmal einen Ausdruck aufgemalt, behielt es diese Maske bis zum Schließen der Kneipentür.

Es war ein braves Gesicht.

Ivoco hatte kein braves Gesicht.

Man konnte in ihm lesen wie in einem aufgeschlagenem Buch.

Als sie vor fast drei Monaten kurz nach Öffnung meiner Kneipe hereingekommen war, hatte ich sofort Bescheid gewusst.

Einen Moment lang war ich total sauer gewesen.

Ich hatte mir geschworen, nach Binary keine dieser Frauen mehr einzustellen. Ich hatte Ahnung, ich konnte mir nichts mehr vormachen.

Für Pi- Joy war ich verantwortlich.

Mit der hatte mein Ärger angefangen.

Die hatte ich selbst aufgelesen. Sie hatte lag zitternd zwischen den Mülltonnen im Hof. Ich hatte sie aufgerafft, gefüttert und zur Polizei gebracht.

Ich dachte, damit wäre die Geschichte für mich erledigt, aber nee, so lief das bei mir nie.

Pi- Joy war ein fünfzehnjähriges Mädchen, das illegal nach Deutschland geschmuggelt wurde, um hier als Sex- Sklavin verbraucht zu werden. Die übelste Variante, mit Prügel und in ein Kellerloch gesperrt.

Als die Bullen kamen, um das Loch aus dem sie geflohen war, auszuheben, waren die fiesen Typen schon alle weg.

Dafür stand in der nächsten Nacht mein Laden in Flammen.

Nicht lustig, gar nicht lustig.

Witzig war allerdings, das ich eine Super- Versicherung besaß. Die hatte mir damals dieser schwitzende Typ aufgeschwatzt, der so pomadig daher quatschte, das ich Angst hatte, er wurde ewig und drei Tage an der Theke kleben bleiben, wenn ich nicht unterschrieb.

Ich hatte große Zweifel gehabt, das der Vertrag tatsächlich etwas taugte, aber sie erstatteten mir mehr, als das verbrannte Zeug wert war.

Und Pi- Joy bekam anständige Pflegeeltern. Davon überzeugte ich mich persönlich, denn das mit der Versicherung lief praktisch von selbst.

Im Nu stand meine Kneipe wieder. Schicker als vorher.

Damit dachte ich, wäre die Sache erledigt.

Ich könnte in Ruhe weiterleben.

Hoffen konnte man ja, oder?

Leider tauchten dreimal hintereinander echt fiese Kerle auf und demolierten mir den Laden.

Beim letzten Mal kündigte mir meine nette Versicherung den Vertrag.

Machte aber nichts.

Denn am diesem Tag saß der Neffe des hiesigen Paten in meiner Kneipe.

Nein, ich hatte den nicht angerufen und um Beistand gebeten. Ich wusste ja nicht mal, das es diese Typen gab.

War eigentlich eine lustige Sache.

Django war zwei Meter hoch, einen guten Meter breit und bestand nur aus Muskeln und Blödheit.

Echt, sein Onkel, der Pate, hatte ihm gleich zwei Leibwächter zugeteilt, damit Django über die Straße kam, ohne dabei überfahren zu werden.

Django sollte ihn hier in Deutschland unterstützen, aber nicht nur mir kam der Gedanke, die heimatliche Mafia hatte ihn einfach abgeschoben, weil Django, nee, Django, der so gerne mit seiner Knarre rumfuchtelte, war ein echter Chaot.

Um ihn herum gingen jede Menge Sachen kaputt, ohne das er irgendwie dafür konnte.

Jedenfalls suchte er sich haargenau meine nette Kneipe aus, als diese drei hirnlosen Schlägertypen von den Thais wieder auftauchten und ihre Ninja- Nummer bei meinen (inzwischen rar gewordenen Kunden ) abzogen.

Django fand Thais Scheiße und sagte das auch, die Sache endete dann mit einem halbtoten Thai (brach sich etliche Knochen, als er durch das große Fenster nach draußen flog ) und einem verletzten Django. ( Hatte sich selbst in den Fuss geschossen, der Schwachkopf.- Verblutete nur nicht, weil ich ihm einen Druckverband anlegte.)

Humpelte mit Hilfe seiner Leibwächter nach draußen und verschwand in seinem magnetafarbenen Porsche. Vergaß sein Handy bei mir, das ich dann in einer Schublade verkramte, weil ich mit so Typen nichts zu tun haben wollte.

Den Typen anrufen? Nee.

Die Polizei kam, doch keiner der Anwohner konnte auch nur eine ungefähre Beschreibung der Typen abgeben. Selbst wenn Django auf einem Dinosaurier angeritten ware, hätte niemand was gesehen.

Heinze, mein liebster Streifenpolizist legte seine Mütze auf die Theke, während ich ihm einen Cognak in den Kaffee kippte. Er kratzte sich unter den verschwitzten Achseln und meinte nur: “Pest oder Cholera. Mädel, Mädel.”

Da hatte er recht.

Ja, klar, das war irgendwie filmreif, total irre. Aber echt.

Ich packte am nächsten Tag meine Koffer und ließ die Kneipe stehen.

Frankfurt war für mich abgebrannt. Machte nichts. Die Welt war groß und ich wollte schon immer mal Richtung Süden.

Ich saß gerade im Zug, als ich einen Anruf auf meinem Handy bekam.

Ich kannte die Nummer nicht und fragte mich ewig, woher der Anrufer meine Nummer hatte. Ich hielt den Typen am anderen Ende der Leitung erst für einen Versicherungsvertreter. War lustig.

Dabei hatte ich den obersten Boss der örtlichen Mafia am Handy.

Djangos Onkel. Ja, der Pate.

Er war höflich und nett, dankte mir herzlich für die Rettung seines lieben Neffen.

Don Sandro. Der hiesige Pate.

Er war ganz Happy, als er mir erzählte, das Django wieder nach Sizilien geflogen war, weil es ihm hier zu kalt und zu brutal zuging. Jedenfalls teilte mir Djangos Onkel, der Pate, mit, das er den Thais diese Frechheit nicht durchgehen lassen konnte und er sich kümmern würde.- Blöd wäre es natürlich, wenn die Kneipe morgen geschlossen bliebe.

Sähe ja aus, als hätten diese Typen, die Frauen einfach nicht anständig behandeln konnten, gewonnen. Als könne Don Sandro die Mädels in seinem Bezirk nicht beschützen.

Das würde mir doch nicht gefallen, oder?

Ich hatte mir einen Haufen Prospekte von Ibiza und Marbella besorgt und ehrlich, so richtig Lust zurück zu kommen besaß ich nicht. Nur um einen Paten glücklich zu machen?

Andererseits, er verlangte für seinen Schutz nicht mehr, als ich für diese fast ruinierte Versicherung zahlte und auf so Inseln lief das Geschäft doch nur während der Saison, oder?

Im Süden war ich doch eine Fremde. Das würde auch nicht einfach sein.

Würde ich das nächste Mal so ein Mädel zwischen den Mülltonnen liegen lassen?

Wahrscheinlich trat ich locker den nächsten kriminellem Typen mit meinen übergroßen Füßen auf die Zehen.

Musste ich nicht zusehen, das Beste daraus zu machen?

In einer Gegend, in de rich mich wenigstens auskannte?

Also stand ich am nächsten Tag wieder in meiner Kneipe und Don Sandro, wie er sich gerne nennen ließ, rollte manchmal in seinem megacoolen hightech- Rollstuhl hinein, über die Rampe, die ich etwa für ihn angeschafft hatte. Quatschte über das Wetter und das weder die Russen, noch die Albaner oder Thais Manieren zeigten, wenn es um das Geschäft der Frauen ging.

Was sollte ich dazu schon groß sagen?

Don Sandro machte halt gerne auf netten Onkel und mit fieser Familie kannte ich mich Bestens aus.

Hatte ich selbst eine, kam damit klar.

Der alte Sack schaffte es hin- und wieder, mir auf den Hintern zu klapsen, dann kicherte er und drohte seinen Leibwächtern, er würde ihnen die Hände abhacken, falls sie auf ähnliche Ideen kämen.

Das tat er nicht, weil er geil war, oder besitzergreifend.

Das machte er, um mich zu warnen.

Ich war nicht so doof, um es nicht zu kapieren.

Akzeptierte ich seine Pfoten auf meinem Hintern, würde er dafür sorgen, das niemand sonst mich belästigte.

So sagte ich, ich wäre echt froh, über seine gelegendlichen Besuche.

Er nannte mich ein schlaues Mädel.

Und lobte meinen Kaffee.

Danach schickte er mir Binary.

Ich stellte sie als Bedienung an und sie machte ihr Ding.

Binary hatte genau gewusst, was sie zu tun hatte.

Sie war der Typ des stählernen Schmetterlings, ihr Lächeln war so unzerstörbar wie ihre Entschlossenheit.

Innerhalb von drei Monaten war sie mit einem Deutschen verheiratet, besaß eine Aufenthaltsgenehmigung, schaffte in Don Sandros besten Puff an und bildete die kleinen Mädchen aus, die weniger Verstand als sie besaßen.

Über Binary machte ich mir weiter keine Gedanken.

Das Leben war hart, jeder sah zu, wie er zurechtkam.

Binary verkaufte sich freiwillig und mir wars egal.

Zumindest redete ich mir das ein.

Manchmal konnte ich nicht schlafen, deswegen.

Dann schickten sie mir Ivoco, dieses große, schöne Mädchen mit Augen wie ein verlassener Welpe.

Ihre Haut war wirklich schwarz, nicht farbig, ( so ein Quatschwort ) sondern schwarz. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, den hätte ich nicht beschreiben können, aber ich wußte, ich wollte nicht schuld daran sein.

Ich stellte sie an und sah zu, wie sie sich abmühte.

Ihre Geschichte war kurz und simpel.

Zumindest die, die ich kannte.

Sie war über Frankreich angereist, hatte in Deutschland Asyl beantragt, war abgewiesen und abgeschoben worden.

Noch am Flughafen wurde sie von einem sehr netten Italiener angesprochen, der ihr genau erklärte, wie sie doch noch zurück nach Deutschland kam ..... und wie sie dort bleiben konnte.

Er bezahlte ihr den Rückflug und verschaffte ihr innerhalb einer Woche ein Touristenvisa für drei Monate.

Dafür schrieb sie den ersten Schuldschein aus. Zwanzigtausend Euro.

Den musste sie bezahlen oder abarbeiten. Und selbst zusehen, das sie eine gültige Aufenthaltsgenehmigung bekam.

Am besten, indem sie einen deutschen Deppen fand, der sie heiratete.

So arbeitete Don Sandro.

Nein, der gute, alte Pate sperrte keine Mädchen in Kellerlöcher.

Er half ihnen und sie waren bemüht, ihre Schulden abzuzahlen.

Manche kauften ihre Drogen bei ihm, das mochte er aber gar nicht.

Drogenabhängige Nutten brachten weniger Geld ein als hübsche, vernünftige Girls, die ihr Geschäft verstanden.

Das erklärte er mir genau.

Don Sandro war ein netter, freundlicher Onkel, meistens musste er nicht einmal unhöflich werden, um die Mädchen springen zu lassen.

Nicht wahr? Schließlich tat ich ebenfalls, was er verlangte.

Sicher, es war nicht so viel und ich konnte mir leicht einreden, das ich nur vernünftig war und mich die Mädchen eigentlich gar nichts angingen.

Was aber würde passieren, wenn er eines Tages mehr von mir verlangte?

Aber blieben wir bei Ivoco.

Die Zeit war knapp.

Vordringlich brauchte sie eine Aufenthaltserlaubnis.

Ich kannte Binarys Vorgehensweise.

Kamen hier zehn Männer herein, ich hätte sofort gewusst, welchen Binary sich ausgesucht hätte.

Er musste klein und schmächtig sein, mit schütterem Haar und Brille (die Brille war wichtig), im Anzug von der Stange.

Er war der Typ Mann, der nicht mal im Vollrausch eine Frau angequatscht hätte. Die Sorte, die Verkäuferin im Buchladen gegenüber anbeteten, ihr jahrelang Briefe mit Gedichten ( oh, du meine Blume, mein ) schrieben und ihr Rosen vor die Türe legten, ohne sich jemals zu offenbaren.

Jene, die entweder als Jungfrau bei der Mama wohnten, bis diese auf den Friedhof verzog, oder ein Jahresabonnement bei der Nutte im Nachbarviertel hatten.

Hauptsache, er war deutsch und unverheiratet.

Was sonst?

Der gute, deutsche Mann im mittleren Alter, der einmal im Jahr wagte, sich in die Zeitung zu setzen unter :

Treu, Kinder- und Tierlieb, Nichtraucher.

Binary hatte gewusst, wie der Hase lief und zögerte nicht. Sie sprach genug Englisch, um eine gute Lügengeschichte auftischen zu können und zuwenig, um mit mir zu diskutieren.

Sie hatte Zuhause neun jüngere Geschwister, eine ältere Schwester arbeitete hier in Frankfurt im Puff, aber Binary würde es besser treffen. Sie besaß das Zeug dazu.

Bei Binarys Methode war ich mir unsicher, wer hier wen ausnutzte.

Sicher war nur, betrogen wurde allemal.

Ivoco aber besaß nicht Binarys asiatisch- stählernes Lächeln.

Ivoco hatte ein Gesicht mit einem Ausdruck darin, an dem ich nicht schuld sein wollte, aber nicht wußte, ob das auch so war.

Ivoco suchte sich mit dem untrüglichen Instinkt einer Motte immer haargenau die Typen aus, die sich mit dem Austrinken ihres Bieres verpissen würden.

Ivoco sprach diese Studenten an, jenen sauberen, adretten, blitzgescheiten Typ, der nach zehn Minuten genau wußte, was Sache war. Die Hälfte der Kerle lächelten ihr Sonny- Boy- Lächeln und verschwanden mit ihren Kumpels in der nächsten Kneipe.

Die andere Hälfte verschwand erst, nachdem sie es geschafft hatten, den Ausdruck in Ivocos Gesicht tiefer einzuprägen.

Vielleicht gaben sie ihr Geld, aber sie nahmen ihr jedes Mal ein Stück von ihrem Leben.

Ich fragte Ivoco nichts, mir reichte, was ich so sah.

Selbst wenn sie in Deutschland bleiben konnte, musste sie noch ihre Schulden abarbeiten.

Ich befürchtete, diese Schulden gehörten zu denen, die immer mehr als weniger wurden.

Wer mal mit Prostitution anfing, kam so schnell nicht mehr raus.

Was würde passieren, wenn sie keinen Deppen fand, der ihr Leben hier legalisiere?

Würde sie Don Sandros Angebot annehmen, heimlich, still und leise für ihn zu arbeiten?

Ganz und gar von ihm abhängig zu sein?

Oh, nein, Don Sandro brauchte keine Prügel und Drogen und Keller, er schickte die Mädchen auf den Strich und sie waren ihm noch dankbar.

Er schickte mir Mädchen, damit sie sich in meiner Kneipe einen Ehemann besorgen konnten und ich war dankbar, das ich ansonsten in Ruhe gelassen wurde.

Alles paletti!

Also betrachtete ich die gleichmäßige Maske meines Gesichtes im Gläserspiegel und gab Benny keine Antwort.

Irgendeiner der Gäste sagte gerade:

”Ich wünschte, ich wäre ein Hund. Hunde müssen nicht arbeiten, kriegen ihr Futter und alles. Hunde haben es doch gut, oder?”

Ich brachte ihm ein neues Bier, ein neues Korn.

”Nicht in China,” erwiderte ich abwesend.

Diesmal lachte Benny, aber er hörte sofort damit auf, als er meinen fragenden Blick bemerkte.

Es war überhaupt auch kein Lachen gewesen, das die Augen groß mitmachen ließ.

”Isabelle, kannst du mir mal sagen, warum das Bier gegenüber zehnmal teurer ist?” fragte Karl, ein Stammkunde. Er stemmte seine Ellenbogen auf das glattpolierte Holz, dass ich so oft abwischte, wie Pilatus seine Pfoten wusch.

Alle Kerle sahen mich gespannt an. Im Lokal gegenüber servierte man Oben- Ohne.

”Klar kann ich dir das sagen,” sagte ich.

”Drei von den zwanzig Mark fürs Glas sind fürs Bier, den Rest

brauchen die Mädchen für Hustenbonbons.”

Der Witz war so alt wie der traurige Job, der drüben ablief.

Karl hieb grölend vor Lachen auf den Tresen.

Ivoco kam gerade mit einer Platte frischer Buletten rein und betrachtete ihn erstaunt. Ich glaube, sie hätte auch nicht verstanden, was Karl so komisch fand, wenn sie Deutsch verstünde.

Ich zapfte gerade Bier hoch, als ein Pärchen zur Tür reinkam. Die männliche Besetzung kam mir bekannt vor.

Dies schien wirklich einer dieser Abende zu werden, die man getrost vergessen konnte.

Der Mann war Joachim, mein kleiner Disco- Ausrutscher.

Er schmetterte mir einen so arroganten Blick hin, das ich beinahe den Sinn seines Kneipenbesuches erriet.

Er war der Typ des ewig trotzigen Jungens. Niedlich, nett, aber unfähig, den Mülleimer rauszutragen, ohne zu motzen.

Die Frau neben ihm war hübsch, schlank, trug eine Brille und sah eigentlich intelligent genug aus, um sich zu gut für eine : Das- ist- meine- Neue- und- sie- hat- viel- größere- Möpse- als- du- Show herzugeben.

Ich nahm es aber keinen von beiden Übel und servierte das Bier mit gleichgültigem Lächeln.

Joachim war ein großer, cool aussehender Junge, der den Erwartungen, die ich in sein Heavy- Outfit gesetzt hatte, nicht gerecht wurde. Er war Buchhalter von Beruf und ein Illusionist der Liebe.

Mann, ich musste so was von besoffen gewesen sein!

Sich mit ihm einzulassen und sei es nur für einen Fick, war ein großer Fehler gewesen.

Ich hatte in einer Disco wild abgetanzt, in einer, in die Blondinen ohne Eintritt hineinkamen. Da hätte man doch erwarten können, dass der Junge einen Plan hatte.

Nicht Joachim.

Ich hatte ihn auf dem Rücksitz seines Wagens gefickt, mehr war da nicht. An dem Abend hatte ich mir nicht mal seinen Namen gemerkt. Wirklich, in solche Lokale ging man nur, wenn man Spaß haben wollte. Man konnte von den Typen dort nicht erwarten, das sie sich für Freundschaft, Partnerschaft, oder, würg, die große Liebe eigneten.

Joachim sah das anders. Er suchte mich und fand mich schließlich in meiner Kneipe.

Klasse.

Fast ein halbes Jahr hing er fast täglich am Tresen, sah mich mit verletzten Rehkitzaugen an und versuchte mir zu erklären, das er in mich verliebt sei, mich liebte, ich die einzige war, die ihm was bedeutete.

Nicht lachen. Bloß nicht. Er meinte das Ernst!!!!!

Solchen Sachen war ich immer aus dem Weg gegangen.

Joachim hatte sexy und cool ausgesehen, aber wenn ich gerade mal Lust auf einen knackigen Hintern hatte, hieß das noch lange nicht, dass ich jemanden suchte, um die Miete zu teilen.

Joachim konnte es nicht fassen, das wir keine Beziehung, sondern nur einen Fick gehabt hatten.

Er hatte sich auf die Frau fixiert, die ihn entjungfert hatte (das war mir echt peinlich, abgesehen davon, dass ich nichts davon hatte).

Ich versuchte auch gar nicht, es ihm zu erklären.

Erstens war es menschlicher, Männer gleich zu erschießen, als ihnen zu sagen, dass sie als Liebhaber durchgefallen waren.

Er hatte zwar einen schönen, steifen Schwanz gehabt, den ich gut benutzen konnte, aber ansonsten keinerlei Raffinesse aufzuweisen. Aus so einem wurde bestenfalls ein guter Rammler, aber kein erfahrener Liebhaber.

Jungs mit kleineren Schwänzen gaben sich wesentlich mehr Mühe.

Und Joachim hatte nicht mal ein Kondom dabei gehabt, das sagte doch wohl alles, oder?

Zweitens glaubten Männer doch, falls eine Frau sich auf eine Diskussion einließ, sie wäre irgendwann doch noch zu überreden.

Ich hatte versucht, Joachim mit Ivoco zu verkuppeln, er hätte eine bessere Partie gemacht, als ihm je klar geworden wäre, aber das scheiterte.

Ivoco betrachtete mich als Freundin ( Gott alleine wusste, warum ) und hätte mir nie den Lover abspenstig gemacht, selbst wenn ich sie auf Knien angefleht hätte.

Und ich hätte beide auf Knien angefleht, wenn Hoffnung bestanden hätte, ehrlich.

Aber beide waren einfach doof. Jeder auf seine Art. DOOF.

Die Frau neben Joachim war hier, um den lächerlichen Versuch zu starten, mich eifersüchtig zu machen, (seine Schwester?) und ich konnte es mal wieder nicht fassen.

Der Junge lebte echt in einer anderen Welt und kapierte es einfach nicht.

Ich machte gerade doppelten Espresso für zwei Russen, sie spielten bereits seit Stunden Schach, als das Telefon klingelte. Ich hob ab.

Zuerst verstand ich kein Wort, jemand flüsterte praktisch in den Hörer. Also steckte ich den kleinen Finger ins andere Ohr und gab dem Kerl noch eine Chance, bevor ich auflegen würde.

Schließlich kapierte ich, das meine Mutter am anderen Ende der Leitung war. Wahrscheinlich war sie wieder mal betrunken, das erklärte vieles.

So wie ich es sah, war meine Mutter seit meinem elften Lebensjahr betrunken.

Wenn es zwischen Rausch und Kater andere Phasen gab, hatte ich sie jedenfalls nicht mitbekommen.

Ihre Trinkerei hatte nichts mit meinem elften Lebensjahr zu tun, sie hatte da nur begonnen. Es war das Jahr, in dem Papa starb.

”Isabelle .... “ Ihre Stimme war wirklich kaum zu verstehen.

”Ich muss dir etwas wichtiges sagen. Du musst jetzt sehr stark sein, mein Kind.”

”Mama, sprich bitte lauter .... oder rufe morgen früh an, ich habe jetzt Arbeit und so.” Das “und so” stand dafür, das ich hoffte, morgens wäre sie nüchtern.

”Nein, ich ... du musst es erfahren, es ist so furchtbar, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ich begreife es selbst doch kaum ...”

Sie weinte und das konnte ich am allerwenigsten vertragen.

Das Telefon hing am Ecken des Gläserschrankes, zwischen Küche und Tresen.

Die Kunden vor der Theke murmelten halblaut, Benny fischte nach meinen Zigaretten auf dem gelöcherten Blech unter der Zapfsäule.

Ich nickte ihm ungeduldig zu.

Ich wollte sowieso mit dem Rauchen aufhören, also konnte er sie meinetwegen ganz aufdampfen.

”Mama,” sagte ich sauer. “Bitte, ruf morgen an. Wenn die Kneipe zu ist. Ist besser, Mama.”

Gott und ich wussten, warum.

Sie schluchzte kiekend:

”Deine Schwester ... sie .... es ist etwas Furchtbares passiert .... “

Ich seufzte.

”Nadine hat Knatsch mit ihrem Alten und hockt dir mit den beiden Bälgern am Hals. Vielleicht auch mit zweieinhalb Bälgern ... Ich wußte, das der Kerl nichts taugt.”

Welcher Kerl taugte schon was? Aber damit durfte ich weder Mutter noch Nadine kommen.

Meine Mutter weinte lauter, irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei diesmal keine von diesen üblichen: Nadine- sitzt- mit- blauem- Auge- am- Küchentisch- Gesprächen, die Mama bestimmt ein Vermögen an Telefonrechnung kosteten.

Ich wußte wirklich nicht, aus welchen mysteriösen Gründen sowohl Nadine als auch Mutter versuchten, mich immer wieder in ihre undurchschaubaren familiären Probleme zu verstricken. Worüber sie heute Sturzbäche von Tränen vergossen, das konnte morgen schon wieder vergessen und ganz anders sein.

Ich wäre eine Idiotin, wenn ich jemals einen Arzt, die Polizei, einen Rechtsanwalt, die Fürsorge oder nur die Adresse des nächsten Frauenhauses organisiert hätte. Nadine und Mama regelten dies auf ihre Art, das hieß, es gab viel heiße Luft, aber nichts dahinter. Wozu also überhaupt zuhören?

Ich pflegte bei der Schilderung der Anzeichen möglicher Untreue von Nadines Gatten Rechnungen zu addieren und wenn Mama über die männlichen Unarten des Ehelebens überhaupt jammerte, konnte ich hervorragend die Einkaufslisten kalkulieren.

”Nein, deine Schwester Yvonne .... “

”Ja, was ist denn mit meiner fast heiligen Schwester?”

Ich war wirklich sauer. Ich glaube, meine Mutter hatte in den letzten fünf Jahren nicht einen einzigen Satz vernünftig zu Ende sprechen können.

Immerhin hatte ich heraus, das es nicht um Dauerbrenner Sorgenkind Nummer 1 Nadine ging, sondern um die brave, stille Yvonne.

”Yvonne hat uns verlassen,” sagte Mama.

Sie sagte es leise und vorsichtig in den Telefonhörer.

”Ja, seit vier Jahren, Mama. Da hat sie sich entschlossen, doch nicht Nonne zu werden und ging nach Frankreich um einen Job als Hotelmädchen anzunehmen.”

Yvonne arbeitete irgendwo am Meer. Ich hoffte, sie habe sich in den vier Jahren mal ein paar anständige Kleider gekauft. Es war eine Schande, keine Nonne zu werden und trotzdem in Sack und Asche herumzulaufen. Und ausgerechnet in Frankreich graue Säcke zu tragen war geradezu eine ....

”Nein, ich meine .... wir haben sie verloren .... “

Ich bekam langsam das große Händezittern. Ich konnte nie lange mit meiner Mutter telefonieren, ohne dieses Gefühl am Hals zu kriegen, als schnüre mir jemand mit einem kratzenden Seil die Kehle zu. Dann begannen meine Hände immer zu beben.

”Verloren? Yvonne ist doch kein Regenschirm, den man stehenläßt oder ein Lippenstift, der aus der Tasche rutscht.

Was heißt verlassen und verloren, Mama? Kannst du mir das bitte sagen, bitte, Mama?”

Mir flatterten die Hände, aber sie musste erst noch weinen und schnäuzen.

Mama benutzte immer diese Zewa- Rollen, aus Vergesslichkeit oder weil sie günstiger ......

”Die Polizei rief mich heute Morgen an. Sie haben sie gefunden. Jemand von uns muss hinfahren um sie .... für die Formalitäten und ... ich bin nicht stark genug, und Nadine bekommt doch wieder ein Kind, da dachten wir .... “

Ihre Stimme bekam beinahe diesen demütigen überredenden Tonfall, den sie eigentlich nur bei Männern anschlug.

Das Flattern meiner Hände war jetzt so stark, Benny, der mit Ivoco gesprochen hatte, sah erstaunt zu mir hin.

”Verlassen, verloren, gefunden? Wovon redest du, Mutter?

Kannst du mir nicht sofort sagen, was los ist?

Kannst du nicht einmal so reden, als würdest du oder irgendein anderer Mensch begreifen, um was es geht?

Yvonne hat verlassen, wir haben verloren, die Polizei hat gefunden!

Mama, sag Tod. Komm schon, los, sag es. Sag: Tod. Es ist ganz einfach, es ist ein kurzes Wort. TOD!”

Ich schrie es, und erst als es in der Kneipe STILL war, Totenstill war, bemerkte ich es.

Am anderen Ende der Leitung war es auch still.

Ein du- hast- mir- auf- die- Brust- geschlagen- kann- nicht- mehr- atmen- Still.

Ich schüttelte den Hörer, als könnte ich so herausfinden, ob sie noch dran war, dann legte ich auf.

Ich drehte mich zu Benny und Ivoco um, band langsam meine Schürze auf und fragte:

”Benny, wäre es dir irgendwie möglich, deinen Job als Taxifahrer ... ich weiß nicht, vielleicht Urlaub zu nehmen? Ich bräuchte dich einige Tage als meine Vertretung hier, ich bezahle es dir gut.”

Benny sagte sofort Ja. Ich mochte nicht, wenn er so ohne Überlegung einfach Ja sagte, aber er versicherte gleich darauf, dass er Taxifahren WIRKLICH hasse und jederzeit dort aufhören und wieder anfangen könnte.

Ich glaube, ich sagte dann nicht mehr viel zu ihm.

Ich hatte soweit denken können, dass ich eine Vertretung brauchte, wenn ich, ja, wenn ich die Formalitäten erledigen musste.

Ich hätte meine Mutter zurückrufen sollen, aber alles in mir widerstrebte sich.

Als Informationsquelle taugte sie sowieso nichts. Die zwei, drei Tatsachen, die ich innerhalb Stunden unter dem Verbrauch einer Rolle Zewa- Wisch- und- Weg herausbekommen könnte, konnte ich mir selbst zusammenreimen.

Danach begann sich ein schwarzes Loch in meinem Kopf auszubreiten, bis es alle meine Gedanken und Gefühle schluckte.

Ich stand in der Küche herum und klatschte den Kartoffelsalat auf die Teller.

Ich hatte Ivoco und Benny gesagt, meine Schwester wäre tot, (wann, wie, warum, spielte noch keine Rolle, verschwand vorerst im schwarzem Loch).

Ivoco schlug vor, dass ich hinauf in meine Wohnung ginge, aber irgend etwas in mir sperrte sich dagegen.

Ich wollte in der Küche bleiben, bis die Kundschaft gewechselt hatte. Momentan waren da noch ein paar Gesichter, die aussahen, wie Leute aussehen, wenn sie vorhatten, auf Zehenspitzen um einen heranzuschleichen.

Dann würde ich die Gläser und Teller wegräumen und spülen.

Ich wollte genau das tun, was ich immer tat.

Vor allen Dingen, ich wollte unter den Leuten bleiben.

Solange noch jemand da war, dem ich ein Bier und einen Schnaps rüber geben konnte, blieben meine Hände ruhig.

Solange noch heiseres Gelächter von den runden Marmortischen kam, bläulich dunstige Rauchwolken schleierhaft an der Decke entlangzogen, würde ich nicht denken.

Mich nicht erinnern.

Yvonne war meine Schwester und sie war ..... tot.

Um ein Uhr schlossen wir die Kneipe, Ivoco und ich räumten und putzten.

Als meine Hände aufhörten, den sowieso bereits glänzenden Bierhahn zu wienern, begannen sie ganz leicht zu beben.

Ich mochte meinen Laden. Er war so leicht sauberzumachen.

Ich hatte diese kleinen süßen Marmortische gekauft und leichte Bistrostühle. Der Boden war glatt und milchweiß, einmal drüber wischen, schon waren diese ganzen klebrigen Lachen von Alkohol und Zigarettenasche Geschichte.

Die Fenster waren gross und zweigeteilt. Im Winter konnte man sie kippen, ohne das es zuviel zog, im Sommer öffnete ich sie weit. In den Ecken standen große, dankbare Grünpflanzen. Sie brauchten wenig Pflege, sie hatten sich Bier und Wein gewöhnt. Viele Frauen kippen ihr Zeug hinein, die Männer drückten ihre Kippen in die Erde.

Der Tresen war ein schwerer, ordentlicher Brocken aus Holz, Marmor und Metall, an dem man sich unbesorgt selbst nach zehn Bier festhalten konnte.

Die Oberfläche war sorgfältig versiegelt und poliert, ein feuchter Lappen genügte, schon sah er makellos sauber aus.

Ich drehte mich um meine eigene Achse.

Das Lokal sah so glänzend aus, als wären nie Menschen hier gewesen, als wären die Gläser, die Tische, die Stühle nie benützt worden.

Es war sauber, gemütlich und warm.

In diesem Lokal konnte man sich einfach hinsetzen und warten.

Ich war hier Zuhause.

Ich war hier sicher.

Ivoco trat neben mich. Sie war wie ein formloser, dunkler Schatten im verzerrendem Glanz des Thekenmetalls.

”Jetzt Ruhe hier,” sagte sie in ihrem kehligem Englisch.

”Du wollen deine Mama noch anrufen für Fragen? Sie nicht schlafen.”

Ich verzog den Mund. Ivoco wußte nicht, dass meine Mutter ihre eigene Methode entwickelt hatte, mit Kummer und Schmerz fertig zu werden. Ivoco meinte es gut mit mir, aber sie hatte keine Ahnung, nicht die geringste Ahnung ....

”Es ist Feierabend. Gehen wir nach oben. Ich muss morgen früh auf. Störe dich nicht daran, wenn ich den Fernseher in meinem Zimmer laufen lasse. Im Bad liegen bestimmt Ohrenstöpsel.”

In diesem Moment berührte mich Ivoco sanft an der Schulter.

Sie war größer als ich, sie konnte das leicht.

Sie war groß und wohlgeformt. Ihre Figur hatte nichts von diesen dünnen Idealformat an sich, von dem man wußte, das kam nur zustande, indem man beherzt alles Nahrhafte beizeiten wieder auskotzte. Ivoco war richtig griffig. Vor allen Dingen hatte sie eine einladende weiche Brust. Man musste nicht lesbisch sein, um sich vorstellen zu können, sich einfach dagegen fallen lassen zu können.

Aber es war gefährlich, sich als Frau an die Brust einer anderen Frau zu werfen. Davor hatte mich schon Maithé ( die Ersatzmutter, deren Lebenserfahrung ich die Vermeidung der gröbsten Fehler verdankte) gewarnt. Natürlich hatte ich es doch mal versucht. Blöd. Nur blöd!- Der Sex war großartig gewesen, aber die ganze Gefühlsduselei eine einzige Katastrophe. Lesben klammerten noch viel mehr, als irgendein Mann das könnte. Schließlich war ich entnervt aus dem Französisch- deutschem Grenzgebiet, aus dem ich stammte, nach Frankfurt geflohen, ohne auch nur eine Adresse, ein Wort, eine Erklärung, zu hinterlassen.

Inzwischen war mir bewusst geworden, das hinter dieser ganzen verunglückten Sache nur wenig latente Homosexualität steckte, sondern viel mehr der Wunsch nach .... etwas ..... Wahrheiten schmerzen, und Erwachsenwerden brachte eine Menge Wahrheit zutage.

Wenn meine Mutter mich beizeiten in den Arm genommen hätte, in den gläsernen Tagen, an die ich mich nicht mehr erinnern wollte, hätte ich mir viele Wahrheiten ersparen können.

Mama hatte mich nie, verdammt noch mal, nie ....

”Wenn du nicht wollen allein sein, dann Fernseher nichts nützen. Ich das wissen. Ich auch wissen, du nicht wollen zulassen Schmerz.

Aber er sein da und sehr groß. Ich ihn kann sehen in deine Augen.”

Ich drehte mich herum und sah Ivoco an.

Ihr Gesicht war dunkel und sanft. Es sah eine Spur rätselhaft aus, aber das lag wohl an diesem langen Lidstrich, den sie mir zuliebe auflegte. Ich sah sie an und wunderte mich, das ich mich nicht gezwungen fühlte, irgend etwas zu sagen. Ich konnte einfach so stehenbleiben und musste nichts sagen.

Ivoco wußte mehr über das Leben und Sterben, als sie je gesagt hatte. Das hatte ich vom ersten Moment an gewusst.

Wozu also sprechen?

Einen Lidschlag später war diese seltsame Ruhe in mir vorbei.

Ich seufzte und dachte darüber nach, wie affig es aussehen würde, wenn ich mitten im Winter mit einer Sonnenbrille verreisen würde.

Aber glücklicherweise gab es nicht allzu viele Menschen, die in Augen lesen konnten, also war meine Sicherheit weitgehend ungefährdet.

”Es gibt nichts, das man nicht mit ein bisschen Willenskraft unter Kontrolle kriegen kann,” sagte ich ruhig.

Ivoco schwieg und sah mich an.

Ich schüttelte den Kopf und ging nach oben in mein Zimmer.

Ivoco schlief im anderen Zimmer, das hatte ich angeboten,. Sie war so hilflos in praktischen Dingen und sie sollte wenigstens in diesen drei Monaten ihre Ruhe haben.- Sie war eine angenehme Mitbewohnerin.

Man hörte und sah sie kaum, sie war pedantisch sauber und selbst wenn sie ihre seltsamen Gerichte kochte, räumte sie hinterher alles weg und lüftete.

Der Fernseher überspülte mich mit Bildern und Stimmen, die durch meinen Kopf jagten, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Wenn man lange genug übte, konnte man diese unbeteiligte Haltung den ganzen Tag durchziehen.

Ich hatte auch meine eigene Methode, mit Kummer und Scherz fertig zu werden.

Aber diese Methode klappte nicht.

Nicht in dieser Nacht.

”Ich will nicht hier bleiben und warten .... ich will mit, Isa .. .... ich will mit!”

Ich fuhr in meinem Bett hoch, im Fernsehen flimmerte ein monotones, graues Rauschen, durch die Fenster fiel fahles Licht. Es war ungefähr vier Uhr, draußen war noch die Stille vor dem Tag.

Die Stimme war so grell, so voller Entsetzen gewesen, sie hatte mich geweckt.

Sie kam aber nicht von draußen. Sie kam aus meinem Inneren.

Als ich elf Jahre alt war, spielten meine Schwestern und ich am liebsten Seilspringen. Wir dachten uns Verse dazu aus, in diesem Rhythmus sprangen wir.

Wir sangen den Drachenvers, als der Nachbarjunge Peterchen zu uns geradelt kam und uns ausrichtete, dass wir sofort nach Hause kommen sollten.

Wir lebten in einem kleinen Dorf, dort kannte jeder jeden und alles sprach sich sofort herum.

Vor unserem Haus lag Mutters Fahrrad, unordentlich hingeworfen.

Yvonne hob es auf und lehnte es gegen die Wand.

Mutter war darauf in den Weinberg geradelt, um ihre Nachbarin und Freundin Trinchen zu verständigen.

Trinchen besaß einen Führerschein und ein Auto.

Trinchen kam aus dem Nachbarhaus, hatte ihre Gummistiefel gegen Schuhe gewechselt und trug den guten Mantel für die Kirche.

Meine Mutter lief die Treppe herunter und fasste Yvonne an den Schultern.

”Ich muss ins Brüder- Krankenhaus ... Papa ... hat einen Unfall gehabt.”

UNFALL! UNFALL! UNFALL!

”Ihr bleibt hier und wartet. Geli wird kommen und sich um euch kümmern. Bis dahin passt du auf die anderen auf. Geht fernsehen gucken.”

Dann stieg sie zu Trinchen ins Auto. Die Frauen sprachen nicht, sie hatten merkwürdig starre, leere Gesichter. Trinchen gab Mama eine Haarbürste in die Hand und fuhr los.

Sie schwiegen und Mutter hielt die Haarbürste starr in der Hand, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte.

Sowas hatte ich noch nie gesehen. Das gab es in keinem Film.

Meine schöne Mutter, die die elegantesten Kleider im Dorf trug, (sie nähte sie damals selbst) hielt, solange ich sie sehen konnte, die Haarbürste hoch in der Hand.

Nadine begann zu weinen und Yvonne nahm sie in den Arm.

Peter saß auf seinem Rad und sah auf den Boden.

Es hatte uns niemand etwas gesagt, aber wir wussten alle, dass etwas Furchtbares passiert war.

Wir würden Tage, Wochen, Monate, Jahre brauchen, um es zu begreifen.

Dann nahm ich das Fahrrad unserer Mutter und fuhr los.

Ich war elf Jahre alt und Mädchen dieses Alters durften sich in unserem Dorf nicht weiter bewegen, als sie spucken konnten.

Die Stadt und das Krankenhaus waren zweiundzwanzig Kilometer entfernt und ich wußte nicht einmal genau, wo es sich befand. Aber darüber dachte ich nicht nach.

Yvonne lief mir nach. Sie rief und schrie, sie wollte mitkommen. Oder das ich mit ihr da bliebe, wie Mama es wollte.

Ich trat heftiger in die Pedale und dachte, sie könne mir nicht ewig nachlaufen. Aber sie lief und schrie, bis sie keine Luft mehr bekam, sie lief fast so schnell, wie ich fuhr .... es war schrecklich. Schließlich blieb sie stehen, ausgepumpt und leer.

Ich drehte mich nicht um, aber ich wußte, dass sie weinte .... alleine .... auch Nadine hatten wir alleine gelassen.

Ich hoffte damals, das sie es nicht begriffen hatte, nicht so, wie ich es verstanden hatte, oder Yvonne .... aber so klein war sie nun auch nicht mehr.

Die Straße führte geradewegs in die Stadt, es gab Schilder und ich konnte fremde Leute nach dem Weg fragen. Das alles machte mir keine Probleme, darüber dachte ich gar nicht nach in der Zeit, die ich brauchte. Ich trat heftig und schnell in die Pedale, weil ich Papa noch einmal sehen wollte.

Die Tränen liefen mir übers Gesicht, aber ich drehte mich nicht um nach meinen Schwestern, die ich zurück gelassen hatte.

Benny war schon da, bevor ich im Bad fertig war.

Ivovo, praktisch unverwüstlich, war schon auf, machte uns Kaffee und freute sich wie ein Kind über die Brötchen, die Benny mitgebracht hatte.

Das war das Besondere an ihr. Ivoco freute sich so sehr über eine simple, nette Geste. Wann war mir diese Freude eigentlich verloren gegangen?

Benny sagte, er habe gekündigt und stehe mir völlig zur Verfügung.

Sein kokettes Lächeln gefiel mir solange, bis er es in peinlich- entschuldige- bitte verzerrte.

Warum dachten die Leute alle, man müsste Angehörige von Toten behandeln, als wären sie selbst nicht mehr ganz auf der Erde?

Im übrigen bestand er darauf, mich in seinem altersschwachen Opel Kadett, dessen Auspuff rührte wie ein angeschossener Hirsch, zum Bahnhof zu fahren. Ich wäre schneller mit der U- Bahn vorangekommen, aber er bestand darauf, warf seine Kiste vor einer Garageneinfahrt ab und trug meinen kleinen Koffer bis zu den Gleisen.

Ich gab ihm die lange Liste mit Besonderheiten, z.b. wo der zweite Kassenschlüssel war, welches Präsidium er anrufen musste, wenn die von gegenüber wieder mal die Sperrstunde überzogen und so, (tatsächlich kannte Benny den Laden eben so gut wie ich, sie war ziemlich unnötig) und sagte:

”Benny, wenn du nicht da wärest, wüsste ich nicht, was ich gemacht hätte. Die Kneipe schließen kann ich nicht.”

Das stimmte. Ich lebte von der Kneipe. Meine Sorte Kundschaft verzieh geschlossene Türen nicht.

Benny warf mir seine Zigaretten auf den Schoß, ich fummelte ein bisschen daran herum, eigentlich hatte ich es mir abgewöhnt, weil meine Kehle sowieso immer so leicht eng wurde.

Es war nicht, weil ich meine Lebenserwartung erhöhen wollte, (wozu?) es lag einfach an der verdammten Luft, die mir ausging.

”He, das ist doch mal klar. Du kannst dich voll auf Ivoco und mich verlassen. Wir schmeißen den Laden schon. Ich hab diese Liste, du kannst mir vertrauen.”

Ja, das war das Wort.

Vertrauen.

Tatsächlich traf es den Kern der Sache.

Ich vertraute Benny. Ich vertraute ihm alles an, was ich mir aufgebaut hatte.

Ich vertraute ihm die Kneipe an und meine Wohnung darüber.

Es ging hier nicht um die billigen Möbel, die ich besaß. Nicht darum, ob er das richtige Bier bestellte und ob er abends ungefähr die gleichen Einnahme, die ich gezählt hätte, in den Nachttresor werfen würde.

Ich vertraute Benny, weil er mich nicht ruinieren würde.

Ich meine, wirklich ruinieren, nicht nur ein bisschen belügen und betrügen und beklauen.

Letzteres machte mir wenig aus.

Ruinieren war eine ganz andere Sache.

Aber ich vertraute Benny, der mir einen ganzen Sommer lang seine Geschichten erzählt hatte, die bei mir zu einem Ohr rein, zum anderen raus gingen.

Mich hatte nie interessiert, dass sein Vater ihn rauswarf und nicht mehr mit ihm sprach, seit er wußte, das sein Sohn schwul war. Was ging mich seine dicke, freundliche Mutter an, die ihm heimlich Geld zusteckte und im Sommer zu uns ein Eis essen kam, damit sie ihn sehen konnte?

Ich hatte sogar weggehört, wenn er mir seinen Kummer über seine Geschwister ausbreitete, denen er Blumen und Geschenke zum Geburtstag brachte, die ihn aber nicht mal mehr anriefen, schon gar nicht zu seinem eigenem Geburtstag, der ihnen leid zu tun schien.

Ich hatte alle technischen Daten vergessen, die Benny mir über seinen Opel Kadett aufzählte, den er von dem Geld, das er bei mir verdiente, kaufte.

Aber trotzdem war mir Benny und sein ganzes Wesen vertrauter als meine eigene Familie, an die ich nicht denken konnte, ohne das mir eine rote Feuerlohe gellenden Zorns durch den Kopf schoss.

Ich kannte Benny. Das war es.

Ich kannte Benny besser als meine eigenen Schwestern.

Nein, Benny war bestimmt nicht mein rettender Engel. Er würde meinen besten Wein trinken, sich zehn Prozent der Einnahmen abzweigen und seinen Freund in meinem Bett poppen.

Aber Benny würde mich nicht ruinieren, dazu war er nicht der Typ.

Er gehörte nicht mal zu denen, die todsicher im falschen Moment den Mund aufmachten.

Ich meine, was könnte man jemals mehr von einem Freund verlangen?

Ich sagte: “Ich muss das machen. Weiß du, meine Mutter und meine jüngere Schwester, die kriegen das nicht auf die Reihe. Die können nur stundenlang am Telefon heulen und Sowas wie Wie- kann- sie- uns- das- antun und Womit- haben- wir- das- verdient sagen. Dann kommt noch das furchtbare Ich- verstehe- es- nicht und Ich- werde- damit- nicht- fertig. Sie haben es wieder geschafft. Sie schaffen das immer.

Sie unterstützten sich beide in ihrer Rolle und lassen mich das tun, wozu sie nicht stark genug sind. Die Formalitäten, verstehst du?”

Benny verstand, denn er nickte und sagte nichts.

”Das schlimmste an allem ist ... ich soll Yvonne identifizieren und ... verrückt, was? -Ich kann mich kaum noch an das Gesicht meiner Schwester erinnern.”

Das verstand Benny mit Sicherheit nicht, aber er hielt die Klappe. Klug von ihm.

Und als ich um Zug saß und in die Tüte sah, die Benny mir noch am Kiosk gekauft hatte ( kein Mann würde sowas tun, nur so ein süßer Junge wie er) fand ich darin irgendeines dieser paar- Euro- Taschenbücher und einen kleinen Flachmann.

Benny gehörte halt zu denen, die einen nicht ruinierten.

Liebe und Tod am Meer

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