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Kapitel 3 Briefe meiner Schwester

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Während der gesamten Fahrt gelang es mir nicht, mir Yvonnes Gesicht vorzustellen. Es schmerzte so sehr wie die Erkenntnis, seit über einem halben Jahr nicht mehr an sie gedacht zu haben.

Ich schrieb ihr keine Briefe, ich telefonierte nicht mit ihr ... ich dachte nicht an sie.

Nun hatte ich sogar ihr Gesicht vergessen.

Als ich mit dreizehn Jahren zum ersten Mal von Zuhause weglief, war sie bereits im Klosterinternat gewesen. Jahrelang sah ich sie nicht, weil ich, wenn man mich aufgriff, lieber in ein Waisenhaus ging, als zu meiner Mutter und ihrem neuem Mann.

Waisenhäuser waren okay. Durchschnittlich musste ich mich mit fünf älteren Weibern Prügeln, bis ich in Ruhe gelassen wurde. Für die Nuttigen reichte die Drohung, ihnen die Visage zu zerkratzen, und für die Zugeknallten,( denen konnte man mit Schmerz nicht mehr drohen ) hatte ich eine Rasierklinge im Versteck meines Ledergürtels.

In Waisenhäusern lernte man viel über das Überleben im Chaos.

Währenddessen lernte Yvonne Latein, um ihre Gebete zu verstehen.

Und .... das hatte sie mir mal erzählt, sie lernte rechts an der Wand entlang zu gehen, damit sie nicht mit einer anderen Schwester auf der Gegenfahrbahn zusammenkrachte, weil keine Nonne den Kopf heben durfte.

Ich lernte, niemals die Augen auf einer Stelle zu lassen, man musste ständig alles abchecken.

Yvonne kannte die Namen und Geschichten aller Heiligen.

Ich erkannte den Zustand von Drogensüchtigen an ihrer Kleidung, ihrer Figur und den Ausdruck ihrer Augen.

Yvonne kniete stundenlang auf einer harten Holzbank und betete, sie lernte ruhig und in sich gekehrt zu sein.

Ich lernte ständig in Bewegung zu bleiben, weil Bewegung mir das einzig sichere erschien. Wer sich bewegte, den kriegte man nicht, der war schon fort, bevor er auffiel.

Yvonne beichtete täglich. (Möchte bloß wissen, was?)

Ich versteckte mich in Beichtstühlen, um es Nachts, wenn sie die Portale schlossen, warm zu haben.

Yvonne vertraute dem Wort Gottes.

Ich vertraute keinem einzigen Scheißkerl, egal, was die quatschten. Die wollten einem nur den Schwanz reinschieben, in schlimmsten Fall mit Schlägen und Drogen kirre machen.-

Geschrieben hatten meine Schwester und ich uns nicht. Wozu auch?

Ihr Leben hatte sich von meinem seit meinem dreizehnten Lebensjahr an getrennt. Ich sah sie mal bei der Beerdigung eines Onkels, wir sprachen nicht, wir machten ein bisschen Konversation von der Art, die einen schalen Geschmack wie jahrelang abgestandenes Bier hinterließ.

Auf Nadines Hochzeit war ich betrunken und machte mich über ihre langweilige Kleidung lustig, reizte sie mit zynischen Fragen, warum sie doch noch vom sicherem Trip in die katholische Seligkeit abgesprungen sei.

Sie hatte geschwiegen und ihre Hände gefaltet. Sie stand da wie das Paradebild einer Heiligen.

Hinterher hatte ich mich für mein besoffenes Gerede geschämt.

Tatsächlich wollte ich sie WIRKLICH fragen, warum sie das Kloster verlassen hatte, wenn sie doch weiter wie eine Nonne lebte.

Das war mir nur noch undeutlich in Erinnerung.

Es war seltsam, wie sehr sich Menschen, die die gleiche Genetik hatten, voneinander unterschieden.

Wen wunderte es dann, wenn diese Menschen sich so sehr entfernten, als sei einer von ihnen in ein schwarzes Loch gestürzt?

Hinter der lauen Konversation und dem Spott steckte ebenfalls ein dunkles Loch, das sich von dem Tage meines dreizehnten Geburtstages an, zwischen uns ausgebreitet hatte.

Ein dunkles Loch, in dem die Zeit gläsern war.

Ich saß im Zug, der mich quer durch Europa dorthin bringen würde, wo Yvonne versucht hatte, zu leben.

Ich fuhr nach Narbonne, eine Stadt am Meer, in der andere Leute zu anderen Zeiten Urlaub machten.

Ich fuhr dorthin meine Schwester zu besuchen.

Kurzer Besuch.

Ein Weißkittel würde eine Schublade aufziehen. Eine Hand hob ein Laken hoch, ich würde:

”Hallo Yvonne, wie ist es dir so ergangen,” sagen und wieder heimfahren.

Ich saß alleine in dem Abteil und betrachtete die blasse Maske meines Gesichtes im Fenster.

Neben mir saß ein Gespenst mit riesigen Augen voller vertrockneter Tränen und einem verschwiegenem Mund.

Wir fuhren nach Narbonne, die Formalitäten erledigen.

Immerhin, Yvonne, ich würde kommen.

Ich würde zu dir kommen ..... du warst niemals zu mir gekommen.

Damit hattest du eine Gemeinsamkeit mit dem Rest der Familie,

Mutter und Nadine.

Es war seltsam, ich hatte Mama nicht mal gefragt, ob sie wüsste, weshalb du tot bist.

Vielleicht, weil ich keine von Mamas Antworten hören wollte.

Oder mir ihr Gesicht vorstellen wollte. Ihr Gesicht, das verlogen genug war, um nicht den leisesten Schatten von Unruhe zu zeigen, wenn sie mich erstaunt ansah.

Ich hatte nie begriffen, mit welcher Konsequenz Mutter nur ihre eigene Wahrheit zuließ. Möglich, das alle diese klaren und bernsteinfarbenen Flaschen ihr dabei halfen, aber das konnte doch nicht alles sein.

Dahinter musste doch eine entschlossene Überlegung stehen. Eine klare Entscheidung, die einmal getroffen, nie wieder überdacht wurde.

Mal nachdenken ... Yvonne war ein Jahr älter als ich.

Wodurch starb so ein junger Mensch?

Unfall, tödliche Erkrankung, Mord, Selbstmord.

Welche von diesen Möglichkeiten traf zu?

Oder war es so, wie ich von Anfang an vermutete?

Ein bisschen was von allem und ein bisschen was von nichts?

Würde ich das je erfahren?

Und wenn, wollte ich das überhaupt wissen?

Ich traf abends in Narbonne ein.

Narbonne, eine alte Stadt mit einer bewegten Vergangenheit und der typischen leichtlebigen Französischen Art, damit umzugehen.

Es war zu spät, mich an die Polizei zu wenden, die Formalitäten mussten bis morgen warten.

Ich fand ein Hotelzimmer in einer Seitenstraße, das deutlich machte, wie sehr Menschen einen Ort verleben konnten.

Bett und Schrank stammten aus dem letzten Jahrhundert. In Deutschland hätte man viel Geld in einem Antiquitätengeschäft dafür bezahlt, hier wirkte es nur gebraucht.

Sie hatten den typischen Briefumschlag- Bezug. Leintuch unter roter Wolldecke, so fest eingeschlagen, das man darunter wie ein indianisches Wickelkind liegen würde.

Es war ein französisches Bett, mit jener breiten Liegefläche, die geschaffen war für die kurze Leidenschaft zweier fremder Körper, nicht für lange Nächte miteinander und aneinander.

Es war so kalt im Zimmer, das ich zitterte und nicht die geringste Lust hatte, mich unter diese leichenkalten Tücher zu legen.

Ich wusch mein Gesicht im Waschbecken. Klo und Bidet stanken nach diesem monströsen, uralten Abflusskanälen, die die Stadt in einem geheimnisvollem Netz unterliefen.

Ich hatte keinen Hunger. Gut für die Figur, schlecht für den Gang.

Ich hatte gelernt, fest aufzutreten. Egal, ob ich flache, schnelle Turnschuhe oder hohe, spitze Pumps trug, auf den sicheren Tritt kam es an.

Mädchen, die gingen, als hätten sie ein Ziel, fest auftraten und die Augen nicht niederschlugen, wurden von miesen Kerlen in Ruhe gelassen. Meistens.

Auf der Straße herrschte noch reger Betrieb, es würde wohl auch noch später die Möglichkeit geben ein Restaurant zu finden. In Frankreich klappten nicht pünktlich um zehn die Läden runter, nicht einmal außerhalb der Saison.

Das antike Narbonne, es nannte sich arrogant erste Tochter Roms, lag etliche Kilometer vom Meer entfernt.

Yvonne hatte nicht in dieser Stadt gelebt.

Sie hatte ein Ferienappartement in Narbonne- Plage bewohnt.

Ich wußte nicht genau, warum ich es tat, aber gegen elf Uhr abends ließ ich mich von einem Taxi die kurvige Strecke nach Narbonne- Plage fahren. Eine trostlose Kalkstein- Steppe verband die Stadt mit der modernen Feriensiedlung am Meer.

Narbonne Plage lebte im Sommer ein gestohlenes, künstliches Leben. Eine hektische, kurze Blütezeit, in der die Touristen eine hastige Ferienstimmung aufbauten, die so unecht wie die billig hochgezogenen Betonbungalows wirkte.

Die ganze Siedlung bestand aus endlos aneinandergereihten Bungalows der gleichen Bauweise, höchstens zweistöckig, die nach vorne eine Tür und ein Fenster besaßen, zum Hof eine Tür und zwei Fenster. Diese Öffnungen waren mit kitschfarbenen Holzläden verschlossen, genauso wie die Fenster der meisten Hotels am Ort.

Geschlossen waren auch fast alle Restaurant und Souvenir- Läden, die nur Kurzzeit- Zwecken dienten.

Alle Läden waren heruntergeklappt und verrammelt, die Vorgarten öde und leer, es waren keine Sonnenliegen oder Bistrostühle zu sehen, nirgendwo.

Ich konnte mir Narbonne- Plage war gut vorstellen, voller Menschen, Hitze, Geschrei und Lebendigkeit.

War die Ferienzeit vorbei, wurden die Appartement geputzt, rollten die hölzernen Läden herunter und die Stadt starb den schnellen, lautlosen Tod aller verlassenen Huren.

Nur noch der Wind heulte jaulend durch die planmäßig angelegten Straßen.

Die wenigen Monate aufgesetzten Lebens hatten nicht ausgereicht, dieser Siedlung auch nur eine Spur von Atmosphäre zu hinterlassen.

War das antike Narbonne erdrückend in seiner Lebendigkeit, hatte ich hier das Gefühl, in einer Geisterstadt zu stehen.

Es war, als ginge man durch die Kulisse eines Filmes, nachdem der Streifen abgedreht war.

Als käme man auf einen Bahnhof, kurz nachdem der Zug abgefahren war.

Die Stadt machte einen toten, leeren und sehr trostlosen Eindruck.

Yvonne war in einem der wenigen Hotels beschäftigt gewesen, die im Winter geöffnet waren.

Ich betrat dieses große, nobel aussehende Hotel, polierte mein Französisch auf, fragte am Empfangstisch aus kaltem Marmor nach.

Recht flott tauchte ein übrig gebliebenes Mädchen mit Nickelbrille auf, südländisch klein und zierlich,( Französische Kleidung passte mir erst ab Größe 42) , dass mir im heftigem Schwall sein Beileid aussprach. Als sie ihr Bedauern losgeworden war, begann die große Leere zu wachsen. Jene Leere, die hinter den Konversationen stand und darauf lauerte, das Narren sich nicht an die Regeln hielten.

Ich fragte, wo Yvonne gewohnt habe und ob ich ... ich brauchte nicht einmal auszusprechen, sie gab mir den Schlüssel und eine komplizierte Wegbeschreibung mit, kurze Zeit später stand ich wieder auf der Straße.

Die Polizei war bereits da gewesen, ich könne ruhig ausräumen.

Sie hatte nicht mal nach meinem Pass gefragt.

Sie betonte wie sehr alle Mitarbeiter Yvonnes Tod bedauerten, aber das niemand sie genügend gekannt habe, um sie identifizieren zu können.

Außerdem sprach sie von großem Glück, das SIE ( die tote Yvonne, nach dem Tod wurde sie namenlos ) so schnell aus dem Meer geborgen werden konnte.

Und das niemand verstehe, warum SIE Sowas ( bald würde ich alle Redewendungen drumherum kennen ) SOWAS getan habe.

Es gab zwei Themen, um die die Leute einen lächerlichen Spitzentanz aufführten. Das eine war SEX, das andere TOD.

Sprach man über eines dieser Themen, musste man schon ein gewisses Vorwissen besitzen, um zu kapieren, worum es eigentlich ging.

Ein Außerirdischer würde da vor einer Wand stehen.

Niemand sagte es einem klipp und klar.

Immer musste man es sich selber zusammenreimen.

Die Frau war eine versierte Hotelkraft, wirklich, sie konnte ausgezeichnet mit Fremden umgehen.

Ich war so fremd geblieben, ich hatte nicht mal gewagt zu fragen, ob Yvonne einen Freund, oder doch wenigstens Freunde gehabt habe.

Wahrscheinlich kannte ich die Antwort auch so.

Würde es mir anders gehen?

Hatte ich jemanden, der sich trauen würde, in mein totes Gesicht im Leichenschauhaus zu sehen und wagen würde, seinen Namen unter ein Papier zu setzen, als habe er ein Recht darauf, da zu stehen?

Yvonne war in einem der Bungalows dem Strand zu untergebracht gewesen. Die Hotelangestellte hatte mir erklärt, das sei eine der besseren Unterkünfte, weil der Chef Yvonne geschätzt hätte, sie sei ruhig und zuverlässig gewesen und ganz und gar vertrauenswürdig.

Sie hätte auch sagen könne, Yvonne sei brauchbar gewesen. Es hätte mich weniger schaudern gemacht.

Das Menschen in der Gesellschaft auf die eine oder andere Weise funktionieren müssen, war klar. Die meisten kapierten das zwar nicht, aber es klappte mit ihnen. Manche schwammen ein bisschen gegen den Strom, aber bei den wenigsten wurde es bemerkenswert.

Das Funktionieren bezog sich nicht nur auf die Arbeit, es erstreckte sich auch auf das Privatleben. Auch dort musste die eine oder andere Vereinbarung mit dem Leben gelten.

Yvonne hatte also auf der Arbeit gut funktioniert.

Man hatte ihr gesagt, was zu tun war und sie hatte es getan.

Was aber war mit ihrem Privatleben?

Hatte sie eines, das so gut verborgen war, das niemand davon wußte?

Die Hotelfrau konnte mir diese Frage nicht beantworten.

Sie hatte Yvonne nicht gut genug gekannt.

Niemand schien sie gut genug gekannt zu haben.

Wäre da irgend jemand gewesen .... was weiß ich, irgend jemand halt .... man hätte doch von ihm wissen müssen, nicht wahr?

Ich ging mit dem pfeifenden Wind, der Zeitungsschnipsel und kleine Fetzen verbrannten Papiers mutwillig durch die Straßen fegte, dem Strand zu. Der Wind wurde noch kälter und rauer, als ich den geringfügigen Schutz der niedrigen Bungalows verließ.

Die “Vorgärten” waren mit Sand bedeckt, ein paar mickrige, palmenartige Bäume ragten daraus hervor.

Ich schloss die Haustür auf, die sich nur durch die Nummer von den Türen der anderen verlassenen Wohnwürfel unterschied.

Hinter diesen Türen war NICHTS und NIEMAND.

Einen Moment dachte ich, mich getäuscht zu haben.

Das Zimmer, in dem ich stand, war genauso leer und unpersönlich wie mein eigenes Hotelzimmer.

Wenn man einen Raum betrat, spürte man doch, ob in diesem Zimmer jemand lebte, oder ob er sozusagen Frank und Frei für jeden Besucher war.

Herumliegende Kleider, persönliche Gegenstände, Blumen, irgendwas ....

Mir fiel ein, das die Hotelangestellte erwähnt hatte, Bilder aufzuhängen wäre nicht gestattet.

Schön. Was also taten andere Leute, um sich auszubreiten?

Waren auch Blumentöpfe VERBOTEN?

Yvonne schien es sogar zuviel Verantwortung gewesen zu sein, ein paar Grünpflanzen zu gießen.

Ich sah mich um.

Alles zweckmäßig, aufgeräumt, übersichtlich, sauber.

Die Schränke geschlossen, selbst Yvonnes Zahnbürste fand ich im Innern des Spiegelschränkchens.

Keine Kosmetik, nicht mal ein Lippenstift. Nur diese medizinische Hautcreme ohne Parfümzusatz. Die Hotelseife ... bekam sie die wie Bäckereiverkäuferinnen übrig gebliebene Teilchen gratis?

Mein Gott, ich hatte noch niemals zuvor ein so unpersönliches Zimmer betreten. Ich konnte kaum glauben, dass sie hier GELEBT hatte.

Ich konnte ja verstehen, nein, ich kannte Yvonne und konnte mir vorstellen, das sie alles aufräumte, bevor sie sich daran machte, sich zu ersäufen. Aber ehrlich. Diese Bude sah aus, als habe sie bereits vorher nicht mehr gelebt.

Schließlich öffnete ich die Schränke, aber es half nicht viel.

Yvonne hatte nur wenige Kleider, ein paar schwarze, lange Röcke und weiße Blusen. Die Schürzen wurden wohl vom Hotel gebügelt.

Im Nachttisch fand ich eine Bibel und ein paar historische Romane.

Nichts Anspruchvolles.

Ich begann damit, ihre Koffer aus dem Schrank zu nehmen und hinzustellen. Es waren drei billige Plastikkoffer. Vorsichtig nahm ich ein Kleid vom Haken, faltete es, legte es in den Koffer.

Ein braunes, langweiliges Kleid, hochgeschlossen und lang. Ich könnte wetten, sie hatte immer noch diese weiße Frotteeunterwäsche und die blickdichten Strumpfhosen. Ich zog eine Schublade auf. Gewonnen.

Und ihre Schuhe! Ausgetretene, verbrauchte Gesundheitslatschen. Schwarze, schnallenbewehrte Halbschuhe, die nicht einmal die Ahnung eines Knöchels sehen ließen.

Was sollte ich damit tun?

Ich nahm das nächste Kleid in die Hand, zögerte einen Moment, presste dann mein Gesicht hinein.

Ich erinnerte mich ....

Ich war Zwölf und fand ein Arbeitshemd von Papa. Ein rot- schwarzkariertes Holzfällerhemd mit Farbflecken darin, das er zum Anstreichen und Dreckigmachen anzog.

Ich presste die Nase hinein und konnte ihn fühlen.

Es war so, als würde er vor mir stehen, der Mann, der mich auf den Arm nahm und tröstete, auf mein angeschlagens Knie pustete.

Und Himmel, konnte dieser Mann lachen .... donnernd und schallend, sein ganzer Körper bebte dabei. Dieses Lachen war so gewaltig, dass man mitlachen musste, selbst wenn niemand wußte, weshalb.

Möglich, das ich mich nach allen diesen Jahren nur noch an wenige Dinge erinnerte, unsicher über das Grau seiner Haare war, oder die Bläue seiner Augen .... aber dieses Lachen, das würde ich in tausend Jahren nicht vergessen. Niemals.

Ich war zwölf Jahre alt und wußte, was es bedeutete, wenn jemand tot war.

Aber in diesem Moment hätte ich schwören können, dass er da war, neben mir stand, mich mit den Flügeln seiner Seele berührte, tröstete.

Er war da, weil ich ihn fühlte!

Und da konnte ich weinen, Einen Sturzbach von Tränen, mit denen sich der Schmerz löste und diese wunde, für immer leere Stelle in meinem Herzen auswusch.

Gott, hatte das gutgetan.

Für wenige Herzschläge war er da gewesen und hatte mir mitgeteilt, dass er für immer bleiben würde. Ganz winzig klein und fast unbemerkt bewohnte er einen Winkel meines Herzens, lebte in meiner Erinnerung, verblieb mir, auch wenn alles andere verging.

Aber jetzt roch ich nichts.

Nichts von Yvonne.

Der Stoff war eine Spur feucht und da war dezent ein Hauch von Mottenkugeln.

Yvonnes Seele war gefangen, sie konnte nicht kommen und mich mit ihrem Verlust und gleichzeitigem immer währenden Vorhandensein vertraut machen.

Yvonnes Seele war weit entfernt von jener Art Schmerz, den ich jetzt in meinem Herzen empfand, der mich mit einer eisigen Furcht erfüllte, die mir den Hals zuschnürte und den Magen hob.

Das Kleid glitt mir aus den Händen, ich war nicht in der Lage, es aufzuheben.

Ich konnte das nicht tun.

Sollte Mama doch aussortieren, was noch von Nadine getragen werden konnte, was zum Roten Kreuz kam. Sollte Mama sich doch um die hinterlassenen Dinge Yvonnes kümmern.

Warum ich?

Ich schauderte bei dem bloßen Gedanken daran, Yvonnes guten Mantel in meinen Schrank hängen zu sehen, jedes Mal, wenn ich die Schranktüre öffnete, zu sehen ....

Verdammt, sie hatte kein einziges Bild.

Keine Püppchen, Teddybären, Nippes oder irgendwelchen Erinnerungskitsch. Keine Tassen von Kollegen, auf denen stand: “Sprich mich nicht vor neun Uhr an.”

Keine quitschrosafarbenen Hausschuhe, die einem nur der schlechte Geschmack in Geschenknotstand geratener Bekannten bescheren konnte.

Mein Gott, sie hatte nicht mal einen billigen Werbekugelschreiber von einer Apotheke.

Ich war so voller Zorn, ich schlug mit der Faust gegen die Wand. Die dünne Lattenwand erzitterte, der Spiegel über der Kommode verrutschte .... und ein Ecken weißen Papiers ragte heraus.

Vorsichtig hob ich den Spiegel an, zog ein mit roten Satin- Band zusammengeschnürtes Bündel Papiere heraus. Die Seiten waren eng und sorgfältig mit Yvonnes klarer Kinderschrift bedeckt.

Yvonnes Liebesbriefe?

Ich sah noch mal in der Schreibtischschublade nach und fand diesen wunderbaren, teuren Mont- Blanc- Füller. Eine einzige kleine Sünde und die überzeugende Zweckmäßigkeit eines ordentlichen Füllfederhalters, der nicht schmierte oder kleckerte.

Für die wichtigen Dinge im Leben.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und sah mein blasses Gesicht im Spiegel. Sie hatte hier gesessen und diese Briefe geschrieben. Ich würde sie lesen und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.

Ich wollte wissen, wer meine Schwester gewesen war, an wen sie schrieb, was sie gedacht hatte .... warum sie sich tötete.

Ich wollte wissen, was mit ihr geschehen war.

Wenigstens das.

Schon nach den ersten Zeilen wurde mir klar, dass ich mich irrte.

DIE LEGENDENFRAU

Als der König gestorben war, der gute, gerechte, weise und mutige König, trauerte das Land ein ganzes Jahr.

Die Menschen in der Stadt legten schwarze Gewänder an, verhängten die Spiegel, zündeten Kerzen auf ihren Hausaltären an und beteten jeden Tag für seine Seele.

Sie wussten, er würde nie wieder an der Spitze seines Heeres ausziehen und die Menschen seines Landes vor dem Drachen verteidigen, der sich in eine Höhle in den Bergen zurückgezogen hatte und sich noch so sehr vor dem gewaltigen, donnerndem Lachen des Königs fürchtete, dass er noch nicht wieder hervor kam.

Noch verschonte er die Menschen.

Noch verpestete der Gifthauch seines feurigen Atems nicht die Luft über der Stadt, verbrannte nicht die Frucht auf den Feldern, briet nicht die Fische im Fluss, versengte nicht die vielen kleinen Feldaltäre, die die Menschen im Glauben an das Gute und aus Liebe zu Gott aufgestellt hatten.

Der König hatte drei Töchter, die noch zu jung waren, um mit einem tapferem Krieger vermählt zu werden, doch keinen Sohn.

Die Königin aber war eine wunderschöne Frau und bald fanden sich Bewerber um ihre Gunst ein.

Vielleicht hätte sie länger getrauert, aber die Stadt war arm, die Menschen fürchteten sich vor dem Drachen und so heiratete die Königin bald, denn sie war schwach in ihrem Herzen.

Der neue König aber war ein böser Mann.

Er war habgierig, er war ungerecht.

Er feierte Feste und kämpfte nicht gegen den Drachen. Vielmehr ließ er sich mit ihm ein, erhandelte einen Waffenstillstand mit ihm, der einen grausigen Preis erforderte.

Der Drache versprach, die Menschen der Stadt in Ruhe lassen, wenn sie ihm Jahr für Jahr eine Jungfrau opferten.

Der neue König zählte auf, wie viele tapfere Krieger jedes Jahr im Kampf gegen das feuerspeiende Monster gefallen waren. So viele Tote, soviel Schmerz, soviel Leid.

Was war dagegen das Opfer eines einzigen Mädchens?

Der neue König redete und rechnete, ließ die gefallenen Helden wie Narren erscheinen, erschuf das Ideal einer opferbereiten Märtyrerin, die frohen Herzens den Tribut für ihr Volk zahlte, das sie gewählt hatte.

Er verwirrte den Menschen so sehr den Kopf, dass sie nicht mehr kämpfen wollten.

Nicht das Elend eines Menschenopfers sahen. Ein Opfer, das nicht einmal Gott verlangte.

Die Menschen wandten sich von den Gesetzen des guten Königs ab und von Gottes Willen, sie ließen sich auf einen Bund mit dem Bösen ein, und er, der neue König, hatte sie soweit gebracht.

Es war die zweite Tochter des alten Königs, die sich widersetzte.

Sie, die weder die Gesetze vergessen hatte, noch die Feigheit besaß zu schweigen, redete wider den neuen König.

Sie hatte erkannt, dass es keinen Bund mit dem Bösen, keinen Waffenstillstand und keinen Frieden mit dem Drachen geben konnte.

Gegen den Drachen musste man kämpfen, jeder Mann und alle Zeit.

Sowenig wie es einen Frieden gab, konnte man ihn besiegen.

Ihm nachzugeben, hieß schuldig zu werden, sich ihm auszuliefern.

Das Böse war allgegenwärtig und am gewaltigsten wurde es in den Herzen der Menschen, die aufgaben zu kämpfen und sich auf blutige Händeleien einließen, die das letzte Gute in ihnen auffraßen.

Solange die Menschen gekämpft hatten, waren ihre Herzen frei und ehrlich gewesen, ohne dieses Gefühl aber würde alles elend und schlecht werden.

Ihr Name war Isara und sie stand alleine gegen den König.

Ihre Mutter und ihre beiden Schwestern Yvara und Navara waren zu sehr in ihrer Trauer gefangen und sie hatten nie gelernt, sich zu wehren.

Isara kämpfte alleine gegen den König und das duldete er nicht.

Als die Zeit für das Menschenopfer gekommen war, schrieb ein Mönch den Namen einer jeden Jungfrau der Stadt auf Papier, und alle Lose wurden in eine gläserne Vase gesammelt.

Die gläserne Vase stand auf den Richterplatz auf dem Markt und die versammelten Menschen sahen zu, wie der König daraus ein Los zog, es entfaltete und den Namen laut vorlas.

ISARA

Das Los war auf die zweite Königstochter gefallen.

Ihre Mutter und beiden Schwestern begannen zu weinen, als man ihr die Hände band und nach vorne auf den Richterplatz führte.

Sie war sehr schön mit ihren goldenen Haaren, den Sommersprossen und ihrem empfindsamen Mund, der mehr von ihren Gefühlen verriet, als sie jemals sagen würde.

Isara spuckte dem neuen König ins Gesicht, hob stolz ihren Kopf und ging den Wachen voran in die Stadt hinaus, dem Drachen und ihrem Tod entgegen.

Und als alle Menschen dem traurigen und schweigendem Zug zur Stadt hinaus folgten, blieb Yvara hinter einer Säule am Richtplatz versteckt zurück.

Als sie niemanden mehr sah, trat sie vor und griff in die gläserne Vase, nahm einen Zettel nach dem anderem heraus, faltete sie auf und sah auf jedem den gleichen Namen.

ISARA

ISARA

ISARA

Der neue König hatte die Zettel ausgetauscht, so dass es nur ein Opfer geben konnte.

Yvara nahm die Vase mit den falschen Losen, wollte vor die Tore laufen und den Betrug öffentlich machen.

Sie wollte ihre Schwester retten, sie wollte es ja .... aber da stellte sich ihr der neue König in den Weg.

Er sah die Vase mit den Beweisen und lachte sie aus.

”Wer würde DIR glauben, wenn sie nicht einmal Isara, der starken und mutigen Isara glauben? Sie ist die Tochter eures Vaters und sie wird sterben wie euer Vater. Aber du bist wie eure Mutter, du bist schwach in deinem Herzen. An mir kommst du nicht vorbei und das weißt du genau .... wenn du nicht schweigst und gehorsam bist, wird dir das selbe Schicksal widerfahren wie deiner Schwester. Wenn du nicht schweigst, werde ich deine Mutter töten, dann deine Schwester und am Ende dich.”

Yvara fiel die Vase aus den Händen, sie zerbrach auf dem Pflaster des Marktplatzes in tausend Stücke.

Die Zettel erfasste ein mutwilliger Wind und jagte sie husch, husch über die Stadtmauer hinaus in den gierigen Atem des Drachens hinein, sie wurden zu Ascheflöckchen, die mit dem nächsten Regen die fruchtbaren Äcker dunkel und bitter machten.

Draußen vor der Stadt erhob sich ein wildes Geschrei.

Der König achtete nicht mehr auf Yvara und lief zum Stadttor.

Dort erfuhr er, das Straßenjungen Isara den Dolch ihres Vaters zugesteckt hatten und es war ein Zauber in diesem Dolch.

Es hieß nämlich, das er seinen Träger, sofern dieser unschuldig und rein war, unbesiegbar machen würde.

Mit diesem Dolch zerschnitt Isara ihre Fesseln und als sie vor dem Drachen stand, dem gewaltigen, gepanzerten, feuerspeienden Drachen, warf sie den Dolch in sein Auge ..... und traf.

Der Drache heulte, kreischte, er bäumte sich auf, schlug mit seinen Schwingen, so dass sich ein gewaltiger Sturm erhob, der die Menschen durcheinander wirbelte. Er trat um sich und tötete, wer sich in Reichweite seiner Krallen befand. Er geiferte und kreischte, er hatte das Auge verloren, der Dolch hatte es herausgetrennt, es rollte die Straßen entlang, kullerte den Rinnstein entlang bis vor die Füße Yvaras, die ihren Mantel darum wickelte und es wegtrug.

Yvara kannte nämlich die Legende, die sich um das Auge des Drachens rankte und sie wollte es besitzen.

Isara aber lief davon, oder sie wurde davon gejagt, so genau wußte das hinterher niemand mehr.

Mochte sein, das die Menschen sich schämten, nachdem der Schrecken des Drachenangriffes verflogen war.

Es gab aber auch viele, die Isara verfluchten. Jene, die glaubten, sie hätten ein Recht gehabt, ein Menschenopfer aus ihrer Mitte zu losen, denen es wohl auch gleichgültig gewesen wäre, wenn sie gewusst hätten, das die Lose gefälscht waren, wenn sie sich nur ein ruhiges Leben damit erkaufen konnten.

Die junge Prinzessin musste fliehen und viele Menschen verfluchten ihren Namen und spuckten aus vor dem Platz, an dem sie sterben sollte und gekämpft hatte.

Ivara hatte zuviel Angst vor diesen Menschen und vor dem König, sie wagte nicht, den Betrug aufzudecken, auch wenn es die Freiheit und die Ehre ihrer Schwester kostete.

So war Isara ausgestoßen aus ihrer Stadt, sie konnte nicht mehr zurück zu ihrer Mutter, die als Königin hinter der Entscheidung ihres Mannes stehen musste.

Isara konnte nicht mehr zurück, sie floh in der Nacht, barfuß und nur mit dem Dolch ihres Vaters bewaffnet.

Flüchtete in die Fremde.

Lange Zeit hörte niemand mehr etwas von ihr.

Später gab es Gerüchte, eine gute und weise Frau, eine Heilerin, die von Ort zu Ort zog um die Wunden der Menschen zu behandeln, habe sie bei sich aufgenommen.

Yvara aber blieb in der Stadt zurück.

Längst hatte sie bereut, ihren Mantel auf das glitzernde Auge des Drachens geworfen zu haben.

Das Auge hatte sie noch lebend angesehen und die ganze Wut, der Schmerz und die Boshaftigkeit des Blickes hatten ihr die Lippen auf immer versiegelt.

Yvara konnte nicht mehr sprechen, weder Worte des Guten, noch des Bösen. Kein einziger Laut drang mehr aus ihrem Mund.

Der König konnte ganz ruhig sein, der Drache hatte dafür gesorgt, das Yvara über seinen Betrug mit den Losen schwieg. Sie konnte es nicht einmal ihrer Mutter sagen, ihr am allerwenigsten. Was hätte sie auch tun sollen, die arme Frau, die ganz und gar durch ihre Heirat dem neuen König ausgeliefert war?

Die Königin spürte aber, das ihre Familie zerbrochen war und das machte sie unglücklich und immer schwächer.

Yvara besaß nun das Auge des Drachens und sein Geheimnis.

Wenn sie im geheimen Dunkel ihres Zimmers den Mantel vom Auge wegzog, war es, als höbe sich ein Lid.

Nur, das es nicht heraussah, sondern hinein.

Yvara konnte alles auf der Welt sehen, was immer sie sehen wollte.

Jeden Ort auf der Erde, wie weit er auch entfernt war, die Sonnenauf- und Untergänge über Steppen und fruchtbaren Tälern, den Sand der Wüste, die Wellen des Meeres, die Bäume des Dschungels. Sie sah die Leben der Menschen, sah, wie sie liebten und hassten, geboren wurden, älter und erwachsen wurden, heiraten und Kinder bekamen, alt und schwach wurden, schließlich starben.

Sie sah viele Leben der Menschen, sie konnte nicht aufhören damit, fremden Menschen beim Leben zuzusehen, darüber vergaß sie ihr eigenes.

Der Blick in die Leben anderer Menschen war der Zauber, doch die Schwäche, es nicht genug sein zu lassen, war Ivaras Fehler, es raubte ihr die Kraft, ein eigenes Leben zu haben.

Und immer, wenn sie sah, wie sich Menschen in Schuld und Ängsten verstrickten, erinnerte sie sich an sich selbst .... und an Isara.

In diesen Momenten wußte sie, das sie sich in die Klauen des Drachens begeben hatte, einen eigenen, verderblichen Handel mit ihm geschlossen hatte. Dann wußte sie, das es nichts fruchtete, sich weit, weit weg in die Träume und Leben anderer Menschen zu wünschen und dafür ein eigenes Geschick aufzugeben.

Dann wünschte sie sich, Isara zu sehen, mit ihr zu sprechen, sie um Verzeihung und um Hilfe zu bitten.

Doch, wenn sie überall auf der Welt alles und jeden sehen konnte .... suchte sie nach ihrer Schwester, dann fand sie sie nicht.

Isara konnte sie nicht sehen, im Auge des Drachens, im Spiegel des Bösen.

Yvara hatte ihre Sprache verloren und ihr Interesse am eigenem Leben. Sie spürte, dass sie sich durch den Handel mit dem Drachen verloren hatte. Durch ihr Schweigen und die Sucht, durch sein Auge die Welt zu sehen.

Yvara wollte damit aufhören, doch sie konnte nicht.

Schließlich ging sie in ein großes Haus, in der gütige Frauen lebten, die ihr Gelübte wie Gehorsam, Schweigen und Bewahrung ihrer Tugend abnahmen, Gelübte, die sie, wie sie dachte, leicht einhalten konnte, wenn sie dafür nur Ruhe vor der Welt da draußen hatte.

Aber auch darin hatte sie sich getäuscht.

Die Jahre vergingen.

Yvara wurde erwachsen, sie verstand immer mehr, was sie getan hatte, was ihre Schuld war und ihre Schwäche.

Sie hörte nichts von ihrer Schwester und doch wußte sie seit längerer Zeit, das sie nicht für ewig in dem stillen Haus bleiben konnte.

Und eines Tages sah sie IHN.

Er trug das Gewand des stillen Hauses, sprach die Gebete und redete sanfte Dinge.

Doch als Yvara in seine Augen sah, erkannte sie etwas, das immer da gewesen war und sie verspottete und bedrohte.

Der Drache war so stark geworden, das er sich in harmlose Gesichter verwandelte und in die Häuser der Menschen kam, um sie zu verderben.

Als Yvara an diesem Tag den Mantel vom Auge des Drachens hob, sah sie das Gesicht jenen Mannes vor sich und er lächelte spöttisch und sieghaft.

”Von nun an wirst du nur noch mich sehen, weil du mich sehen WILLST. Du siehst mich solange an, bis dir deine Gelübte gleichgültig werden, bis dir alles andere auf der Welt nichts mehr bedeutet, nur noch ich.”

Yvara ließ entsetzt den Mantel fallen und zitterte vor Angst und Entsetzen.

Sie wußte, sie musste von diesem Ort fliehen und von dem, was sie getan hatte, was sie fühlte und was sie tun wollte.

Aber sie wußte nicht, wo der Ort war, in dem sie Ruhe und ihren Seelenfrieden finden konnte, wohin sie vor sich selbst fliehen konnte.

Tel:

795378

Die Geschichte endete an der Stelle, an der sich meine Schwester offenbar in ein Pfäfflein verguckt hatte.

Darunter stand nur noch diese Nummer.

Ich brauchte einen Moment, um zu mir selbst zu finden.

Ich hätte die Blätter liebend gerne zusammengeknüllt und mit einer Zigarette angezündet.

Was für ein billiger Scheiß.

Was für ein naives Kindergestammel.

Ein Märchen ... irgendwann, irgendwo. Na, toll. Yvonne .... Yvara.

Eine schöne Aneinanderreihung verlogener Worte, jedes mieser als das vorherige, alle triefend vor Abschwächung, Verharmlosung, Verniedlichung. Eine Märchengeschichte, eine lächerliche, blöde Kinderfabel.

Sie hatte nie die Dinge beim Namen nennen können, damals nicht, heute nicht.

Nie. Das hasste ich am meisten.

Log sich in die Tasche, machte sich was vor, sich selbst und anderen.

Ich war wütend. Ich war so unbeschreiblich wütend.

In mir tobte und raste es. Ich riss die Schublade auf und warf ihre Bleistifte, die Radierer, den teuren Füller auf den Boden.

War alles, was von meiner Schwester geblieben war eine Handvoll verlogener Seiten?

Yvonne und wie sie die Welt sah!!!!!

Bei Gott, ich würde gerne eines Tages aufstehen und erfahren, dass irgendeiner in meiner Familie in dieser Nacht das Maul aufgemacht und die Wahrheit gesagt hatte und sei es nur im Traum.

Mann, ich würde tot umfallen. Kotzt euch aus, Leute, wenigstens auf dem Papier ... aber hört auf, mir niedliche, kleine Märchen zu hinterlassen, die beschönigen und verharmlosen, die versuchen nette Worte aus Scheiße zu formen. Scheiße stank trotzdem, das konnte ich jedenfalls ungeniert sagen.

Ich konnte das nicht mehr sehen, ich konnte nicht mehr.

Ich warf die Blätter in den Papierkorb, wo sie hingehörten, und stand auf.

Was tat ich hier, außer meine Zeit zu verschwenden?

Ich hatte genug von Yvonne, von unserer verlogener Vergangenheit und der vergeblichen Frage nach dem Warum.

Wußte ich nun, warum sie sich ersäuft hatte?

Jedenfalls nicht durch verschlüsselte Briefchen, die deutlich zeigten, wie wenig sie davon gehalten hatte, sich der Wahrheit, der Vergangenheit und den Anforderungen des Lebens zu stellen.

Die Müdigkeit ergriff mich wie eine körperliche Berührung.

Was sollte dies alles?

Gab mir diese Telefonnummer Auskunft?

Plötzlich spürte ich, wie mich eine grenzenlose Verlassenheit überfiel.

Die STILLE breitete sich aus.

In einem Impuls hob ich den Telefonhörer ab, aber da war nichts außer dem Rauschen einer toten Leitung.

Natürlich, auch die Telefonverbindung ging über die Hotelzentrale und man hatte einfach abgeschaltet.

Über dieses schnelle Handeln verspürte ich weniger Enttäuschung

als schlichte Angst vor der unheimlichen Stille in dieser seelenlosen Wohnung, in der nur mein eigener Herzschlag zu hören war. Es war so eine gespannte Atmosphäre, als könne jeden Moment etwas passieren, als wartete ich nur darauf, eine Türe ginge auf und ....

Ich presste die Hand auf den Mund und versuchte mich zu beruhigen.

Ich hatte jetzt einen Überblick über Yvonnes ganze Sachen und nichts von IHR gefunden.

Ich stand vor diesem Bett, in dem Yvonne geschlafen hatte, aber nichts von SICH zurückgelassen hatte.

Eine Menge Menschen hatten schon in dieser Stadt gelebt, in diesem Zimmer gewohnt, in diesem Bett geschlafen, aber sie waren gegangen und hatten einfach NICHTS von sich zurückgelassen.

Da hätte doch irgend etwas sein müssen, eine verlorene Haarnadel, ein schwacher Duft nach Parfüm.

Plötzlich war mir alles so klar, es stand mir deutlich vor Augen.

Yvonne hatte keinen Freund und keine Freunde.

Sie war alleine gewesen, so wie diese Stadt leer war.

Sie war verlassen gewesen, so wie diese Stadt gespenstisch leblos war.

Yvonne hatte nicht zur Nonne getaugt. Gott wusste warum.

Yvonne taugte auch nicht zum Leben.

Sie hatte zu nichts anderem mehr getaugt, als dazu, in Hotels die Betten zu richten, wenn diejenigen, die darin gelegen hatten, die Türe hinter sich schlossen.

Sie hatte dazu getaugt, die Teller und Gläser abzuwaschen, nachdem jene, die daraus gegessen und getrunken hatten, sie stehen ließen.

Vielleicht hatte sie auch dazu getaugt, ihren Körper dem erstbesten Kerl hinzuhalten, der ihr Lügen sagte, die sie glauben wollte und der dann keine Minute langer in ihrem zweckmäßigem Hotelappartement geblieben war, als er gebraucht hatte, um das zu bekommen, was er wollte.

Mit glasklarer Sicherheit wußte ich, was Yvonne passiert war.

Sie war weit gelaufen, aber hier hatte sie der DRACHE eingeholt.

Ja, Yvonne, ich erinnerte mich.

Ich kannte ihn noch, den alten Kindervers, mit dem sie mir immer Angst eingejagt hatte.

Eins, zwei,

der Drache ist erwacht.

Drei, vier,

er ist auf Jagd nach dir.

Fünf, sechs,

du musst schneller sein als er.

Sieben, acht,

hat er dich, Wehr dich.

Neun, zehn,

sieh hin .... und zerspring.

Yvonne hatte in die Augen des Drachens geschaut und war verloren gewesen.

Ihre Seele hatte nicht genügend Liebe besessen, um sich an sich selbst zu halten.

In dieser von Gott und den Menschen verlassenen Stadt gab es nicht die geringste Spur von menschlicher Wärme, die Yvonne hätte retten können.

So hatte Yvonne in die Augen des Drachen gesehen ..... und war zersprungen.

Ich begann dies alles zu begreifen, als ich beinahe fluchtartig dieses leere Zimmer verließ.

Bevor ich begriffen hatte, war der Schmerz in mir entstanden.

Ein viel größerer und ungeheurer Schmerz, als jene kleinen Nadelstiche unter meinen kindlichen Fingernägeln, die bei jeder Bewegung der Erinnerung piksten und stachen.

Yvonne war tot.

TOT.

Dieses endgültige Wort, dieser Schluss.

Sie war TOT, TOT, TOT und ich konnte mir nicht einmal vormachen, dass ihr TOD so unerwartet und völlig unbegründet für mich war, wie es Mutter gerne sehen würde.

Das machte diesen Schmerz. Er kam nach dem Zorn und er war gewaltig.

Es war nicht nur die Empfindung des Verlustes, es war mehr ... viel mehr.

In der Ferne bellte der verlassene Hund.

Es hatte zu regnen begonnen, die quellenden Wolken ließen eine feine Nieselflut ab, die mich im Nu bis auf die Haut durchnässe.

Ich versuchte mit klammen Händen meinen Mantel zuzuknöpfen, lief ziel- und planlos den breiten, feinkörnigen Sandstrand entlang, der sich kilometerlang in die undurchdringliche Nacht erstreckte.

Meine Halbschuhe versanken geräuschlos in diesem nachgiebigen, weichem Sand, der einen zu halten, zu umklammern schien. Das Meer brauste in hohen, tosenden Wellen heran, ein zorniges, wildes Wasser, das nie aufgab, das Land zu attackieren.

Der letzte Rest Helligkeit wurde irgendwo draußen hinter den eisigen Schaumkronen verschluckt.

Ich begann alles zu begreifen, als ich die Wellen sah, die brausend und gichtig fauchend heran wogten.

Wenn man ein taumelndes Häufchen Unglück auf einer ebenen Fläche war, die nach beiden Seiten verrutschen konnte, stellte sich kaum noch die Frage nach dem WARUM.

Was war schrecklicher?

Schritt für Schritt weiterzugehen, bis man den schlammigen Boden unter den Füßen verlor, oder zurückzukehren in die schweigende Aussichtslosigkeit eines Fremdenzimmers, in ein leeres Leben, umgeben von Menschen, die sagten, sie haben sie nicht gekannt?

Yvonne war dem unbekannten Etwas begegnet. Es hatte sie bei ihrem Namen gerufen, dem Namen ihrer Seele und sie war gekommen.

Schritt für Schritt. Die Kälte hatte sie zittern lassen, aber nicht aufgehalten, bis sie plump und matt zu schwimmen begann. Ihr Körper wurde steif vor Kälte, vielleicht auch vor Angst und Schwäche, schließlich hatte sie sich kaum noch gegen die eisige Umklammerung des Todes wehren können.

DER DRACHE UND DER TOD.

Der Drache rief die verlorenen Seelen zu sich.

Diejenigen, denen der Tag so gleich wie die Nacht war.

Jene, die aufgegeben hatten, die nur noch die Gewohnheit aufrechterhielt.

Die, die sich ankleideten, weil man es so tat, ihr Gesicht schminkten, damit es noch für einmal hielt.

Der Drache kannte die Wahrheit.

Der Drache wußte von meinen wundgelaufenen Füßen, er lachte über meine ausgeweinten Augen und erriet die bitteren Worte meines verstummten Mundes.

Der Drache leckte die ungeweinten Tränen ab, hörte die verschwiegene Worte ..... der Drache sah hinter die letzte Lüge.

Der Drache öffnete seine Arme weit, um alle die verlorenen Seelen aufzunehmen .... und welche Seele konnte verlorener sein als meine?

Liebe und Tod am Meer

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