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XII. Jenseits der Traurigkeit

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A

maroks Ohnmacht löste sich langsam auf und seine Gedanken wurden nach und nach klarer.

»Amarok, bist du wach?«, fragte eine Stimme.

Der Wolf blinzelte langsam und grelles Licht blendete ihn. Er öffnete vorsichtig die Augen und starrte einen Moment lang an eine schneeweiße Decke. »Wo … wo bin ich?«, fragte er.

»Du bist gestürzt. Dein Freund hat dich in deinem Badezimmer gefunden.«

Verwirrt setzte sich der Samojedaner auf, als er neben seinem Bett eine Füchsin stehen sah, die ihm fürsorglich den verbundenen Hinterkopf streichelte und lächelte.

»Was ist passiert?«, raunte er und kniff die Augen zusammen, denn sein Kopf dröhnte ganz furchtbar. Alles war verschwommen und unwirklich. Träumte er, hatte er Halluzinationen?

»Du hattest einen Magendurchbruch«, erklärte die Fähe, »und dann hast du dir noch eine böse Gehirnerschütterung zugezogen. Wir dachten schon, du schaffst es nicht. Das war Rettung in letzter Minute.«

»Wer bist du?«, wollte der Rüde wissen und blickte sie ernst an.

»Ich bin Jeremia«, antwortete die Füchsin ruhig und verbeugte sich. »Ich war damals vor dir mit Joliyad zusammen, immerhin ein paar Tage lang«, erklärte sie weiter, was Amarok fassungslos dreinschauen ließ.

»Oh, er hat mir von euch erzählt. Das ist aber schon lange her. Wie kann es sein, dass gerade wir zwei uns über den Weg laufen?«

Jeremia setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Krankenbett stand. »Nun«, begann sie, »ich wollte Ingenieurin für Raumfahrttechnik werden. Ich habe mich aber anders entschieden. Habe mich vor ein paar Monaten von meinem Freund getrennt und bin Heilerin geworden. Das ist ein Job, der hier jetzt mehr gebraucht wird. Als das Auswandern nach Samojadja für einige Fachkräfte vor ein paar Jahren erlaubt wurde, bin ich an dieses Krankenhaus gewechselt.«

Jeremia hielt dem beeindruckten Wolf ein Bild von ihrem ehemaligen Freund Joliyad hin, auf dem nur er zu sehen war, wie er lächelte.

»Dieses Bild kenne ich gar nicht«, sagte der Wolfsrüde leise und nahm es an sich. Er betrachtete es und weinte dabei still. »Er war so süß«, sagte er verbittert und Jeremia nickte nur, denn sie verstand den Schmerz sehr gut, den er jetzt empfand.

»Was habe ich getan?«, weinte Amarok weiter.

»Amarok«, unterbrach die Füchsin ihn, »lies mal, was hinten draufsteht.«

Der Rüde drehte das Bild um und konnte nicht fassen, was er da las: »Für meinen Amarok! Wann immer du einsam bist, mein Schatz, ich bin bei dir!« Darunter war ein Kuss-Smiley gezeichnet und abgeschlossen wurde die Widmung mit »Dein Füchschen Joliyad« und einem selbstgemalten Herz.

Als er das las, wurde Amarok noch trauriger und schluchzte mit zusammengekniffenen Augen. Er schlug sich selbst immer wieder mit den Fäusten auf seine Oberschenkel, worauf Jeremia ihn beruhigte.

»Amarok, beruhige dich! Lass das! Hör‘ mir zu, was ich dir zu sagen habe«, bat sie.

Der Wolf hörte mit dem Schlagen auf, drehte seinen Kopf zu seiner Besucherin und sah sie verzweifelt an.

»Dieses Foto hattest du in deiner Wohnung, Amarok«, sagte sie mit großen Augen.

»Was?«, fragte er ungläubig. »Das ist Blödsinn! Ich habe es noch nie gesehen!«

»Doch, ich belüge dich nicht. Es hing in deinem Badezimmer am Spiegel. Dein Kumpel hat es mit dir hergebracht. Woher sollte ich es sonst haben?«, entgegnete sie ihm.

Der Angeschlagene dachte nach: Sollte das also bedeuten, dass er dieses Foto schon immer besessen, es aber vergessen hatte? Wie konnte das sein? Das konnte ihm nicht passieren! So etwas Schönes vergaß man nicht einfach. Es war zudem das Letzte, was von seinem Freund übrig war. »Das kann nicht wahr sein! Ich bin solch ein Vollidiot!«, beschimpfte er sich selbst.

»Tja, hättest du öfter deinen Spiegel geputzt …«, mahnte die Füchsin ernst.

»Ich hatte einen Magendurchbruch, sagst du? Wie kam es dazu?«, wollte er nun wissen.

»Du hast offenbar sehr lange sehr viel getrunken.«

»Das ist wahr«, schämte der Wolf sich und senkte verlegen den Kopf.

»Es ist, dank modernster Technik, zwar verheilt, das nächste Saufgelage könnte aber auch dein letztes sein. Ich will nur, dass du das weißt, Amarok.«

»Verstehe.«

»Nein, du verstehst nicht!«, meckerte Jeremia ihn wütend an. »Du versinkst in Selbstmitleid und Depression, weil du Joliyad vermisst. Und so willst du ihm Ehre erweisen? Indem du dich totsäufst? Wenn er dich so sehen könnte …«

»Was dann?«, rief der Rüde zurück und zeigte der Fähe seine Reißzähne.

Sie blieb jedoch ungerührt sitzen und sprach ganz ruhig: »Es ist also doch wahr: Getroffene Hunde bellen, sagt man bei uns. Dein Freund warnte mich ja davor, dass du sicher aggressiv sein würdest.«

»Von welchem Freund redest du eigentlich die ganze Zeit? Ich habe keine Freunde«, murrte Amarok.

»Na von diesem komischen Alsatiaten, der so seltsam still rüberkommt.«

Nun, da die Alsatiaten schon eine Weile in Arameria waren, hätte Jeremia jeden meinen können und Amarok hatte einige von ihnen gesehen, in Samojadja ohnehin, denn schließlich war Alsatiania das Nachbarland im Süden.

»Hat er dir seinen Namen verraten?«, wollte der Rüde wissen, worauf Jeremia nur den Kopf schüttelte.

»Wieso, wer ist er?«, fragte sie und entfernte sachte den Kopfverband des Rüden.

»Ach, schon gut. Ist er noch hier?«, fragte der Wolf hektisch und die Füchsin sah ihm an, dass es irgendetwas Bedeutsames mit diesem mysteriösen Fremden auf sich haben musste. Amarok hielt ihren Arm krampfhaft fest und hatte die Augen weit aufgerissen, so neugierig und erwartungsvoll war er. Er schien darum zu betteln, alles über den Schäferhund zu erfahren.

»Nein, er wollte zu dir nach Hause gehen und da … na ja, aufräumen«, erklärte Jeremia. »Er sagte, er käme schon ins Haus und du bräuchtest dir keine Sorgen zu machen.«

Der Samojedaner konnte es nicht fassen: Chenerah war hier – hier in seiner Nähe, nach all der Zeit! Das war unfassbar, vor allem in Hinblick auf ihre Verabschiedung damals:

Aus seinem Wohnzimmer im Erdgeschoss konnte der Wolf Stimmen hören. Sicher hatte er nur den Rundfunküberträger (eine Art Radio) nicht ausgeschaltet und versuchte sich zu erinnern, was am Abend zuvor alles passiert war.

»Oh Mann, ist mir schlecht …«, raunte er und ging ins Bad. Er ließ sich Wasser in die Wanne und setzte sich hinein, um ein wenig auszuspannen, weshalb er dabei auch seine Augen schloss und laut seufzte.

Plötzlich hörte er eine Stimme, die sprach: »Guten Morgen, Amarok! Na, gut geschlafen?«

Sofort erschrak er, zuckte zusammen und planschte wild im Badewasser herum. »Was ist … Oh, Chenerah, du bist es. Jage mir nie wieder einen solchen Schrecken ein, verstanden?«, muffelte er, worauf der Schäferhund lächelnd versprach, dass es nicht wieder vorkommen würde.

Er reichte ihm das Blatt einer gelben Blume und meinte, der Wolf solle essen, um die Kopfschmerzen wieder loszuwerden.

»Was machst du eigentlich noch hier? Bist du gestern Abend nicht gegangen? Habe ich da irgendwas verpasst?«, wunderte der sich nur.

»Nun«, erläuterte Chenerah, »wir haben gestern doch noch zusammen getrunken.«

»Ja, und?«

»Ziemlich viel, wenn du verstehst.«

»Ich weiß nur noch, dass du mich irgendwie die Treppe hochgetragen hast. Danach ist alles schwarz«, erläuterte der junge Rüde und lachte verschmitzt.

»Weißt du wirklich nichts mehr?«, hakte Gajaze nach und schaute ungläubig.

Der Badende wiederholte nur: »Nein, wirklich nicht. Ich hoffe nur, ich habe mich benommen.«

Das brachte den Hund zum Nachdenken: Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte, dass er somit schweren Problemen entkommen war, oder ob er traurig sein müsste, da die letzte Nacht wohl die einzige ihrer Art zwischen ihm und dem Wolf bleiben würde. Wäre er doch nur gegangen, so wie geplant. Eigentlich hätte er es ja wissen müssen: Amarok hatte alles vergessen und würde bald nichts mehr von ihm wissen wollen. Das alles war ein großer Fehler und der Alsatiat hatte das Gefühl, dass er die Trauer und den Alkohol nur ausgenutzt hatte. So schien es nur recht, dass er eine solche Abfuhr erhielt.

»So, aber nun geh ins Wohnzimmer. Ich muss mich anziehen. Das, was ich da unten habe, willst du sicher nicht sehen«, befahl Amarok und machte eine winkende Handbewegung.

»Warum so schüchtern?«, fragte sein Zuschauer und fügte an: »Wenn du wüsstest …«

Er grinste, doch der Wolf sperrte Augen und Schnauze auf. »Du willst doch nicht sagen, dass du heimlich bei mir geschlafen und mich unbekleidet gesehen hast?«, fragte er.

Der Hund lächelte noch immer wortlos und blickte Amarok süffisant an. Das sollte seinem Gedächtnis wohl auf die Sprünge helfen.

»Oh nein!«, rief der plötzlich schockiert, »Jetzt weiß ich … Das kann nicht wahr sein! Hatten wir …«

»Ja, wir hatten.«

Überfordert senkte der Wolfsrüde den Kopf und schien peinlich berührt. Er weinte leise und undeutliche Worte waren zu hören.

»Amarok«, unterbrach Gajaze ihn, »wir waren beide betrunken. Es ist nicht schlimm, was da passiert ist.«

Der Wolf erhob den Kopf und blickte dem Hund lange in die Augen. Als er diese Bernsteine sah, erinnerte er sich wieder an alles, was sie so gemacht hatten – und auch, wer mit wem was angestellt hatte. »Wir haben Sex miteinander gemacht, obwohl mein Freund erst gestern gestorben ist? Oh, was bin ich für ein Schwein!«, machte er sich Vorwürfe.

Chenerah ging auf ihn zu und hockte sich neben die Badewanne. Er seufzte leise, während Amarok ihm immer noch verständnislos in die Augen sah. »Bitte mach dir keine Gedanken«, versuchte der Alsatiat seinen Freund zu beruhigen.

»Ach, wer hat denn gestern wen dazu überredet?«, fragte dieser wütend. »Das werde jawohl nicht ich gewesen sein.«

Kurz dachte Chenerah nach und beschloss, ihm die Wahrheit zu erzählen: »Du hast mir vorgeworfen, ich hätte dein und Joliyads Geschichte nur erfunden, um mit euch einen Dreier zu machen. Dann hast du mich wild geküsst. Na ja, so habe ich angefangen, deine Zuneigung zu erwidern. Auch ich war recht betrunken und wurde letztlich auch übermannt. Ich bin eben auch nur ein Rüde, weißt du?«

»Oh, okay. Ich verstehe. Ja, jetzt leuchtet es mir. Oh Mann, ich hätte doch nie im Leben gedacht, dass das darin gipfeln würde.«

»Wie stehen wir nun zueinander?«, wollte der Schäferhund wissen und stand wieder auf.

Gespannt blickte er den jungen Rüden an, der sich jetzt, nass und voll Schaum, aufrichtete und in der Badewanne stand. Einen Moment lang klopfte Amarok das Herz bis zum Hals, als er das Gefühl hatte, einen kalten Luftzug wahrzunehmen.

»Ich … kann nicht. Ich … Joliyad. Es tut mir leid, Chenerah«, stotterte er und senkte den Kopf.

Der ältere Rüde verstand, dass der Wolf stark an Kakodaze hing und ihn vermisste. Er wurde traurig, senkte seinen Kopf ebenfalls, sodass ihre Stirnen sich sanft berührten und die Rüden aneinander lehnten. »Ich verstehe das, Amarok. Ich dachte, vielleicht könnte ich deinen Schmerz lindern. Wenigstens für eine Weile. Also, ich fand es gestern sehr schön. Und da ich dich gut kenne, wie du dir denken kannst, glaubte ich, ich könnte dir näher sein. Schade.«

Amarok weinte und schniefte leise mit zugekniffenen Augen. Der Schäferhund beobachtete, immer noch Stirn an Stirn mit ihm, wie das Wasser am Wolfsfell herunterlief und abtropfte. »Ich will dich nicht so am Boden sehen, Amarok«, sprach er leise. »Es ist nicht schlimm, wenn du mich nicht mehr sehen willst, nach allem, was passiert ist. Gerne würde ich aber ein Stück weit, eine Zeit lang mit dir gehen.«

Der junge Wolf schluchzte leise weiter und reagierte sonst nicht. Alles war für ihn so verwirrend und es fühlte sich an, als läge eine schwere Last auf ihm. Wie sollte er dieses Gewicht je tragen können, allein und schwach?

Er hatte versagt.

Er war abartig.

Pervers.

Beschämend.

»Ich habe euch gemacht. Daher weiß ich genau, wer du bist und wie du fühlst. Ich weiß, dass du nicht alleine sein kannst, ohne Familie, ohne Rudel. Ich habe mich gestern dann in dich verliebt, obwohl ich dich ursprünglich nur schützen wollte. Und ich fühle, dass ich will, dass das nie wieder endet«, eröffnete Gajaze seine Gefühle für Amarok und streichelte ihm über den nassen Hinterkopf. Er spürte eine tiefe innere Verbundenheit zu ihm, denn es stimmte ja, dass er, Gajaze, ihn nun mal erfunden und so zu einem Protagonisten einer Geschichte gemacht hatte.

Sein wölfischer Freund hörte auf zu weinen und blieb regungslos stehen. Er ließ die Augen geschlossen und wartete auf den nächsten Satz, den der Hund sagen würde. Dieser fasste ihm sanft unters Kinn und hob leicht seinen Kopf an, worauf die Wolfsaugen sich wieder öffneten und erwartungsvoll zurückblickten. Was auch immer es war, woher auch immer es kam: Amarok erinnerte sich auch daran wieder, dass er sich am Abend zuvor in diesen wunderschönen, hündischen Augen verloren hatte. Sie leuchteten unschuldig und gutmütig.

»Und du siehst noch viel umwerfender aus, wenn du nass bist, Wolf«, lobte Chenerah leise und gab ihm einen sanften Kuss auf die Lefzen.

Amarok musste lachen, obwohl er noch Tränen in den Augen hatte. Er umarmte den Alsatiaten, dankbar für seine lieben Worte, und kuschelte sich an dessen starke Brust.

Gajazes Herz schlug sehr kräftig, aber auch schnell, denn er empfand viel mehr, als nur Freundschaft für den Wolfsrüden.

»Nun bade mal zu Ende, Amarok. Ich werde im Wohnzimmer auf dich warten. Wir reden nachher über alles«, schlug der Hund vor und sein Gegenüber nickte lächelnd.

»Ich danke dir, Chenerah«, meinte der Wolfsrüde.

»Alles, was ich sage, ist wahr. Du musst nicht sofort entscheiden. Du musst auch nicht Ja sagen, aber wenn du gleich ins Wohnzimmer kommst, mach wieder ein fröhlicheres Gesicht. Das ist mir lieber und sieht süßer aus, weißt du?«

»Ja, das werde ich«, bestätigte der Jungwolf stolz und froh.

»Gut«, lobte der Schäferhund, »also bis gleich.«

Er ging hinunter ins Wohnzimmer, während sein Freund weiter badete und dabei nachdachte.

»Joliyad, ich hoffe, es geht dir gut, wo auch immer du bist. Und ich hoffe, du stimmst mir zu, wenn ich sage, dass Chenerah sehr nett ist … Ich möchte dich nicht vergessen. Das ist nicht mein Ziel. Aber wenn ich alleine weiterleben muss, werde ich sicher zugrunde gehen. Ich will nicht, dass du mir böse bist. Aber es ist vielleicht was dran, wenn Chenerah sagt, dass er mir über die kommende schwere Zeit hinweghelfen kann. Bitte, Schatz, sei nicht böse. Ich werde dich immer an erster Stelle lieben. Das weißt du. Gib meiner Freundschaft zu ihm deinen Segen.«

Einen kurzen Moment später spürte Amarok wieder einen kalten Schauer in seinem Nacken. Er erschrak zuerst, beruhigte sich aber schnell wieder. »Joliyad? Bist du das?«, fragte er ängstlich.

Es ertönte ein leises, undeutliches Flüstern und der Anthro schluckte. Langsam ließ er sich tiefer in die Wanne sinken und verkrampfte seinen Körper. Er war sich nicht sicher, ob der dieses Geräusch tatsächlich gehört oder es sich nur eingebildet hatte. War dies ein Zauber? Wollte Chenerah ihm einen Streich spielen?

Das Flüstern wurde deutlicher und furchterfüllt kniff der Badende die Augen zu. Als er sie zitternd wieder öffnete, saß plötzlich eine Gestalt ihm gegenüber in der Badewanne und blickte ihn an. Da erschrak der Wolf und schlug mit Händen und Pfoten um sich.

»Verdammt! Joliyad!«, rief er und spürte, wie sein Herz zu bersten drohte.

Sehr oft versank Amarok völlig in Gedanken an die Zeit kurz nach Joliyads Tod. Das passierte ihm auch jetzt wieder. Jeremia bemerkte dies, worauf sie ihn an seine Schulter griff, sanft rüttelte und fragte: »Alles in Ordnung, Amarok?«

»Hä? Ja … ich bin nur … mir geht es gut«, stotterte er.

»Hast du gerade an Joliyad oder an den Fremden gedacht?«

»Ich weiß nicht, eher an sie beide«, grübelte der Wolf. Er drehte seinen Kopf zu ihr und fragte, wie lange dieser mysteriöse Hund denn schon wieder fort sei.

»Ich glaube, vorgestern war er hier. Warum? Wer ist er denn und was will er von dir?«, fragte die Füchsin.

Amarok aber wollte ihr dazu lieber keine Erklärung abgeben, sondern eher so schnell wie möglich aus diesem Krankenhaus entlassen werden, um Chenerah zu treffen.

»Amarok«, erklärte Jeremia, »du kannst noch nicht weg. Zuerst musst du wieder auf die Beine kommen. Ich kann mit dem Arzt sprechen, aber ich denke, du solltest noch ein paar Tage hierbleiben. Zumindest, bis dein Kreislauf stabil ist. Die Kopfwunde behandeln wir morgen mit einem Regenerator.«

»Wenn es sein muss«, stöhnte der Wolf und die Fähe meinte, sie würde später noch einmal nach ihm sehen. Sie verließ das Zimmer, sodass der Wolf wieder mit sich allein sein konnte.

Er stand aus dem Bett auf und lief zum Fenster. Die Sonne sollte bald untergehen und tauchte den Himmel in ein leuchtendes Rot. Es war sehr mild draußen, was zum Weggehen einlud, doch musste er leider noch eine Weile hierbleiben.

Traurig sah er in die Ferne und erblickte auf einem der vielen Äcker ein paar Baumaschinen. Wieder würden die Menschen etwas wegreißen und einen Palast aus Stahl und Glas aufbauen. Die Fläche Aramerias reichte ihnen nicht mehr. Jetzt musste es also auch noch Samojadja sein.

Wann würden sie genug haben? Wenn alles Grün verschwunden wäre? Wenn alle Ressourcen verbraucht sein würden? Oder niemals?

Der Wolf drehte sich vom Fenster weg und verließ den Raum. Er betrat den langen, weißen, sterilen Krankenhausflur, auf dem ein paar Aramerianer, Samojedaner und andere Anthros umherliefen. Einige von ihnen hatten Heiler-Kittel an, andere waren Patienten. Sie waren leicht zu unterscheiden, denn in diesem Hospital wurden nur Schwerverletzte behandelt und kuriert.

Ein älterer Fuchs kam auf Amarok zu und stellte sich ihm vor: »Hallo, ich bin Dragan. Du bist gerade aus Zimmer sieben gekommen, nicht?«

Zuerst erschrak Amarok und betrachtete den Fuchs aufmerksam: Er war wenigstens Anfang 70 und hielt sich an einem Rollator fest. Er ging etwas gebeugt und hatte ansonsten ein freundliches Auftreten.

»Ja, ich liege im Zimmer sieben. Warum fragst du?«, wollte der Wolf wissen.

»Das ist toll! Dann liegen wir ab sofort zusammen dort«, freute sich sein Gegenüber.

»Juhu, ich kann es kaum erwarten«, merkte Amarok ironisch und gelangweilt an. Jedoch beschloss er, sich Mühe zu geben und freundlich zu sein. Er wollte zwar lieber allein in seinem Zimmer bleiben, aber etwas Gesellschaft konnte bestimmt nicht schaden. »Ich bin Amarok.«

»Du meinst … der Amarok? Der, der den Führer damals umgebracht hat?«, staunte Dragan und sperrte die Augen auf.

Der Wolfsrüde wusste nicht, wie der Fuchs reagieren würde, aber was machte es schon aus, wenn er die Wahrheit erfuhr?

»Ja, genau der bin ich«, bestätigte er, »aber heute kümmert es mich nicht mehr. Das ist schon lange her. Ich will nur noch meine Ruhe haben.«

Es schien, als würde der Aramerianer ihn loben wollen, als er sagte: »Dann bist du ja so was wie ein Nationalheld. Den Göttern sei Dank, dass du ihn damals erledigt hast, Amarok!«

Doch dieser winkte nur ab: »Es ist mir egal, warum du dich darüber freust. Ich bereue nichts. Er verdiente es. Und nun lass mich damit in Ruhe, ich will in den Hof.«

Immer noch freundlich und fröhlich nickte Dragan und schob weiter sein rollendes Gefährt durch den Flur. Er lachte und rief etwas davon, einen Helden getroffen zu haben. Auf Amarok machte er jedenfalls den Eindruck, nicht ganz klar im Kopf zu sein.

Im Hof angekommen spürte der Wolfsrüde die Wärme auf seinem Pelz. Er stellte fest, dass ebendieser Pelz während seiner Ohnmacht gewaschen und gekämmt worden sein musste. Er war wieder sauber und roch auch angenehmer. Alles fühlte sich jetzt wieder besser an, fast so wie früher. Die Sonne war zu dieser Tageszeit noch immer sehr kräftig und die Luft war von Blumenduft erfüllt. Welch ein schöner Sommer es doch war. Und fast schon hätte der Wolf ihn verstreichen lassen – oder noch schlimmer: gar nicht überlebt!

Was war nur aus ihm geworden? Jeremia hatte ganz recht: Er war vernachlässigt, in Selbstmitleid gefangen. Beinahe hätte ihn das sein Leben gekostet, doch das durfte sich nicht wiederholen. Es stimmte, dass er Joliyad ehren wollte; und offenbar hätte er dieses noble Ziel um Haaresbreite verfehlt.

»Mein Schatz, ich verspreche, das wird nie wieder vorkommen. Du hast mein Wort, Joliyad«, schwor der Samojedaner und blickte zum Sonnenuntergang. Er seufzte und schloss entspannt die Augen, wobei er einen großen Atemzug tat und die warme Luft seine Lungen füllte.

»Ich dachte, du seist tot?!«, rief Amarok, doch Joliyad lächelte ihn unentwegt an.

»Ja, das bin ich wohl«, meinte dieser dann, »doch das bedeutet ja nicht, dass ich dich nicht beobachten kann.«

»Wie ist das möglich?«, fragte Amarok erstaunt.

»Sagen wir mal, viele Dinge ergeben dort, wo ich jetzt bin, endlich einen Sinn. Es ist alles so einfach und großartig! Zugleich ist es aber auch sehr schwer zu erklären. Ich bin hier, um dir zu zeigen, dass es mir hier sehr gut geht … dort, wo ich jetzt bin.«

»Mein Joliyad …«, sprach sein Geliebter flehend, »komm doch zurück, bitte!«

Doch der Fuchs schüttelte nur traurig den Kopf und bewegte seine Hände im Badewasser. »Ich kann nicht«, sagte er.

»Aber warum nicht?«

»Weil es nicht geht. Ich habe nur diesen einen Moment, in dem ich mich für immer von dir verabschieden muss. Ich kann froh sein, dass ich dich noch ein letztes Mal sehen darf«, erklärte Kako traurig und blickte wieder in Amaroks Augen. »Ich vermisse dich, mein süßer Wolf. Wir sind erst wenige Stunden getrennt, aber schon jetzt fehlst du mir. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Beziehung ein solches Ende nehmen würde.«

Wölfische Tränen tropften ins Wasser und der Samojedaner nahm den Kopf seines Gefährten in seine Hände. Dieser schaute traurig zurück und seine Lefzen bibberten.

»Ich kann nicht ohne dich sein, Joliyad«, flüsterte der Wolf und sie gaben sich einen langen Kuss.

Der Fuchs räusperte sich, um nicht auch mit dem Weinen anzufangen, und erklärte Amarok, er solle keine Angst haben, denn alles würde gut werden. Sie würden einander irgendwann wiedersehen – dann, wenn die Zeit gekommen sei.

»Ich will nicht so lange warten. Lieber bringe ich mich selbst um, als noch einen Tag länger ohne dich zu sein«, versprach der Wolf, doch sein Freund bremste ihn: »Tu das nicht!«

»Warum nicht?«

»Wenn du Selbstmord begehst, werden wir uns niemals wiedersehen. Dann kommst du niemals hierher zu mir.«

»Und wieso nicht?«

»Mörder werden nicht belohnt. Und ein Selbstmord ist ebenfalls ein Mord. Die Götter verhandeln nicht mit Mördern über ihr Schicksal. Das zu erklären kostet Zeit, die ich nicht habe«, meinte Joliyad. »Bitte versprich mir einfach, dass du keinen Suizid begehst.«

Schließlich schwor Amarok hoch und heilig, dass er seinem Leben nicht selbst ein Ende setzen würde, worauf sein Fuchs weitersprach: »Außerdem hast du einen neuen Freund gefunden.«

»Joliyad, es ist nicht …«, brachte der Wolf nun heraus und kam in Erklärungsnot.

»Es ist in Ordnung«, unterbrach sein Gefährte ihn, »solange du dich dabei gut fühlst. Ich weiß, wer Chenerah Gajaze ist. Seit ich hier bin, ist mir vieles klar geworden. Ich verstehe es. Alles. Ich weiß, was die Vulpes Lupus Canis, das Buch, von dem Chenerah immer redet, ist. Es ist alles so simpel.«

Amarok verstand nicht und fragte: »Was ist simpel? Wer ist er? Was redet er dauernd vom Erschaffen und dem Zeug? Das ist sehr schwer nachzuvollziehen.«

»Das ist noch nicht so wichtig, mein Schatz«, sprach der Fuchs-Geist. »Gajaze ist ein sehr netter, liebevoller Rüde. Er hat Angst, sich in seinen Gedanken, seinem Buch, zu verirren. Du musst ihm helfen, damit seine Persönlichkeit keinen Schaden nimmt. Ich weiß, dass du nicht die Absicht hast, mich zu betrügen oder zu verletzen, Amarok.«

Peinlich berührt war Amarok sich sicher, dass Joliyad von seinem Ausrutscher der letzten Nacht wusste, weshalb er den Kopf senkte und sich Vorwürfe machte: Warum hatte er seinen Schatz betrogen? Wie konnte er so etwas nur machen?

Doch der Fuchsrüde streichelte seinen Freund nur und lächelte: »Ich weiß, was passiert ist. Es ist in Ordnung.«

»Wirklich? Ich wollte das nicht … glaub mir bitte, Füchschen. Es war einfach zu viel: der Tag, der Alkohol.«

»Alles ist gut, mein Schatz, wirklich. Chenerah wird dir über diese schwere Zeit hinweghelfen. Per aspera ad astra – durch das Raue zu den Sternen. Du brauchst ihn. Und glaub mir, er braucht auch dich. Er ist allein hier: ein Mensch in Hundegestalt, umgeben vom Krieg zwischen dem Volk der Sonne und dem Volk des Mondes. Er kann seine Geschichte, seinen eigenen Geist und dessen Ideen, nur schwer begreifen. Er hat sich viel zu viel zugemutet. Hilf ihm bitte.«

»Und wie soll ich das anstellen? Ich habe alles verloren. Ich habe dich verloren«, sagte der Samo leise.

Doch sein Freund lächelte nur und meinte: Ich habe in seine Augen geschaut, als er dich ansah. Er liebt dich, so wie ich.«

»Meinst du?«, fragte Amarok ungläubig.

»Ganz sicher. Wenn du jetzt hier wärst, würdest du viele Dinge besser verstehen. Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass alles seine Richtigkeit hat.«

»Das sagst du doch nur …«, wollte der Wolf beginnen, doch Kako kam ihm zuvor.

»Nein, es ist so. Wenn du mich fragst, bin ich sehr einverstanden mit dem Wissen, dass du und er … du weißt schon … zusammen seid. Ihr braucht einander. Ich weiß, ihr werdet zusammen Großes vollbringen. Und eines musst du zugeben: Er ist gut aussehend und hat wunderschöne Augen.«

Jetzt umarmten die Rüden sich und Amarok grinste mit einem »Oh ja, das stimmt« auf den Lefzen. Er spürte den Körper seines Geliebten. Obwohl der Aramerianer ein Geist sein musste, fühlte er dessen Fell, roch ihn. Doch es war kein Herz zu hören, welches da schlug.

Kein Pumpen.

Keine Kraft.

Nur Stille.

Schweigen.

»Ich liebe dich, Joliyad, und ich werde dich immer lieben. Vielleicht hast du recht und Chenerah und ich werden ein Stück des Weges zusammen bewältigen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich niemals vergessen werde«, schwor Amarok, als sein Fuchs die Umarmung lächelnd wieder löste und ihm durch sein Kopffell strich.

»Das weiß ich doch, Süßer. Ehe du zugrunde gehst, finde mit ihm dein Glück. Vertraue darauf, dass es das ist, was ich will. Ich will, dass du glücklich bist. Alleine sein, ohne Familie, das kannst du nicht. Wenn auch du dir mit ihm sicher bist, so lebe ein Leben mit Chenerah. Er ist ein sehr lieber, intelligenter Rüde. Ich mag ihn. Und sexy ist er auch – gemessen an dem, was ich gestern so alles gesehen habe.«

Der Fuchs zwinkerte freundlich und Amarok fühlte, dass er das, was er da sagte, tatsächlich ernst meinte. Er sagte es mit einer liebevollen Ehrlichkeit und Bestimmtheit, die alle Zweifel des Wolfes nach und nach zerstreuten.

Der Aramerianer betrachtete den nassen Wolfskörper und streichelte über seine Brust, als er sagte: »Wenn ich doch nur … ein letztes Mal mit dir …«

Traurig blickten Amarok zwei wundervolle, tiefblaue Augen an, als er zugeben musste: »Leider geht das nicht, Süßer.«

»Ich weiß«, stimmte sein Fuchs zu und sie küssten sich erneut.

Es war ein Kuss, der sich nicht anfühlte wie früher: Amarok spürte auf seinen Lefzen zwar die Berührung ihrer beiden Schnauzen, aber es schmeckte nach nichts, war kalt und gehaltlos. Lediglich die innige Liebe zwischen ihnen beiden konnte er fühlen.

Als der Kuss endete, saß Amarok plötzlich allein in der Badewanne. Sein Freund war verschwunden, was ihn sehr traurig machte. Wo war er hin? War er im Himmel und schaute auf die Welt herab?

»Per aspera ad astra. Du schaffst das, Amarok!«, flüsterte die Stimme des Fuchses noch in seinen Gedanken.

Amarok öffnete wieder seine Augen und beschloss, zurück auf sein Zimmer zu gehen, denn es würde bald dunkel werden. Schließlich hatte er zudem einen neuen Zimmergenossen und wollte ihn kennenlernen. Es war eine gute Gelegenheit, endlich dieser depressiven Phase zu entkommen und neue Freunde zu finden.

Als er sein Zimmer betrat, lag Dragan auf seinem Bett und blickte freudig in Richtung des Wolfs, der nicht anders konnte, als auch zu lächeln. »Hallo, Amarok«, sprach er. »Es ist großartiges Wetter da draußen, nicht wahr?«

Amarok nickte und setzte sich auf seine Schlafstätte.

»Warum so schüchtern? Du darfst dich ruhig zu mir setzen, Wolf«, bot Dragan an und machte eine auffordernde Handbewegung.

So stand der Samojedaner auf und setzte sich neben den Fuchs, welcher sich darüber sichtlich freute. »Nun gut, Amarok«, begann er, »du bist also der, der den großen Kardoran besiegt hat. Stimmt es, dass er deinen Freund getötet hat?«

Nachdenklich nickte sein Gegenüber: »Allerdings. Und deswegen hatte er auch den Tod verdient. Er hat meine ganze Familie umgebracht und viele Wölfe mehr.«

Amarok spürte noch immer eine innere Wut und Unruhe, als er diese Worte sagte. Eine lange Zeit mochte vergangen sein, doch vergessen wollte er nicht, was damals alles passiert war. Er konnte es auch nicht, selbst wenn er es versuchte.

»Dein Freund, wer war er? War er auch ein Wolf?«, fragte der Fuchs interessiert.

»Nein, er war ein Aramerianer. Schade, dass zwar jeder zu wissen scheint, wer ich bin, aber niemand etwas über meinen Freund weiß. Offenbar war er zu unbedeutend für euch. Dabei war er ein viel Größerer als ich«, grummelte Amarok.

Dragan entschuldigte sich für seine Ahnungslosigkeit und senkte den Kopf, als der Wolf seufzte und erklärte: »Joliyad Kakodaze, das war sein Name, und er war der liebste, süßeste Aramerianer, den es geben kann. Er war sehr mutig und glaubte an das Gute, das Gute in allem, selbst in Kardoran – diesem Schwein.«

»Ich verstehe. Das muss alles sehr hart für dich gewesen sein. Immerhin hast du alles verloren. Heute dankt es dir wohl niemand, dass du diesen Kampf auf dich genommen hast.«

Eine Pause entstand, in der der Wolfsrüde Dragan aus dem Augenwinkel betrachtete: Er war von sportlicher Erscheinung und hatte sehr sauberes, gepflegtes Fell. Seine rechte Hinterpfote war verbunden, denn offenbar war sie gebrochen. Eine lange, buschige Rute ragte über den Rand der Matratze und lag still und unbewegt dort. Seine grünen Augen schauten sehr nachdenklich, traurig und irgendetwas sagte Amarok, dass sie schon viele Dinge gesehen haben mussten, von denen er keine Ahnung hatte.

»Ich bin dir sehr dankbar, dass du ihn vernichtet hast«, eröffnete Dragan und durchbrach die Stille.

»Was?«, fragte Amarok und blickte ihn mit aufgerissenen Augen und aufgesperrter Schnauze an.

»Er hatte es verdient. Da hast du ganz recht.«

»Aber … er war doch dein Führer!«

»Das war er nicht mehr, als er meinen Enkel Alijano umgebracht hat. Deshalb bin ich auch nach Samojadja gekommen. Ich wollte nicht mehr in diesem Scheißland leben.«

Diese Aussage schockierte Amarok zutiefst und nun wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Der Zufall wollte es, dass er nach etlichen Jahren neben einem Fuchs saß, der ebenfalls einen guten Grund für den Hass auf Kardoran hatte. »Bei den Göttern … I-Ich wusste nicht …«, stammelte er.

»Es ist gut, Amarok. Alijano wuchs ohne seine Eltern auf und ich behandelte ihn als meinen Sohn. Er war mir sehr wichtig, weißt du? Du hast ihn gerächt und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Hätte ich gewusst, wo du lebst, hätte ich dich mal besucht. Der Krieg kennt immer neue Helden, große, kleine. Die, die Geschichte schreiben werden und die, die für immer in Vergessenheit geraten. Für mich warst du der stille, mir unbekannte Held. Nun bin ich froh, dich mal kennenzulernen.«

»Habt ihr Alijano damals gefunden?«, fragte Amarok neugierig, worauf sein Gesprächspartner laut seufzte.

»Nein, denn das Hauptquartier war schon fast dem Erdboden gleich, als deine Leute wieder herauskamen. Mein Sohn ist getötet worden, von wem auch immer. Es spielt keine Rolle mehr, wer es war. Wolf oder Fuchs. Ich weiß, dass Kardoran ihn mir mit seinen Wahnideen genommen hat. Das ist entscheidend«, sagte Dragan leise und hatte Tränen in den Augen.

»Es tut mir sehr leid, dass du ihn verloren hast«, sprach Amarok traurig und war von diesem Schicksal sehr gerührt.

Der Ältere räusperte sich und meinte dann, dass es keinen Grund für eine Entschuldigung gäbe. »Der Krieg hat auch dich deine Familie gekostet, Amarok. Sicher erging es dir nicht besser. Er ist noch nicht vorbei. Wer weiß, wie vielen Füchsen und Wölfen er noch alles nehmen wird, bis Atemach Kardoran endlich aufgibt.«

»Atemach Kardoran? Das ist der Sohn des Führers, richtig? Ist er sein Nachfolger?«

»Ja, so ist es«, bestätigte Dragan, »und so geht es halt weiter. Sein Spross als sein einziger Namensträger hatte umgehend nach seinem Tod die Führung des Reiches übernommen. In die Hauptstadt konnte er nicht mehr zurück und soll jetzt irgendwo im Westen ein neues Quartier aufgebaut haben.«

Amarok dachte nach: Wenn Atemach der einzige Nachfolger Kardorans war, müsste auch er verschwinden, damit die Aramerianische Diktatur enden würde.

»Was ist mit Jeremia, seiner Tochter? Wusstest du, dass sie hier arbeitet?«, wollte er wissen.

»Ja, das weiß ich. Wir Füchse können froh sein, dass die Samos uns Asyl gewähren, nachdem wir sie so behandelt haben. Jeremia wurde vom Samojedanischen Königshaus begnadigt und macht sich seitdem nützlich. Auch sie wollte diesen Krieg nicht. Sie ist vermutlich eher ungefährlich«, erklärte der Ältere.

»Es mag sein«, grübelte sein Gegenüber dann, »dass sie ungefährlich ist. Atemach ist es allerdings nicht. Joliyad hat mir von ihm erzählt und meinte, er muss ein ziemlicher Arsch sein.«

Jetzt lachte Dragan: »Ja, so ist es. Eben ganz der Vater. Sehr gerne würde ich ihm eine reinhauen, damit er versteht, dass er aufgeben muss, um sein Volk endlich wieder in Frieden leben zu lassen.«

»Ich habe den Krieg nur verschlimmert. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun kann, um es wiedergutzumachen. Es tut mir alles so leid, Dragan«, entschuldigte sich Amarok.

»Es muss dir nicht leidtun, Wolf. Der Kampf hätte irgendwann ohnehin begonnen. Ich verstehe, dass ihr Wölfe euch wehren musstet. Ich bin ein sehr stolzer Opa, denn schließlich war mein Enkel ein guter Fuchs. Lass uns jetzt erst mal schlafen. Morgen sprechen wir weiter. Das heißt, wenn du das möchtest.«

Der Fuchs lächelte erneut und Amarok spürte, dass es ihm gutzutun schien, über all das zu sprechen. So stimmte er zu und war jetzt ebenfalls froh, einen netten Mitbewohner auf dem Zimmer zu haben. Er legte sich ins Bett und auch Dragan drehte sich auf die Seite. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis der Wolfsrüde einschlief und träumte:

Traurig darüber, dass sein Geliebter verschwunden war, badete der Rüde zu Ende und stieg niedergeschlagen die Treppe zum Wohnzimmer hinab. Immer wieder fragte er sich, was all das sollte. Was war nur los in letzter Zeit? Alles war so merkwürdig und viele mysteriöse Dinge passierten, die er sich nicht erklären konnte. War alles nur ein endloser Traum?

Zwar rechnete Amarok damit, im Wohnzimmer Chenerah anzutreffen, doch der war verschwunden. Eben hatte er noch gesagt, er würde auf den Wolf warten, um mit ihm über seine Gefühle zu sprechen und jetzt war er weg. Er musste es sich wohl doch anders überlegt haben, was den Wolf zuerst fassungslos machte.

Das Zimmer war leer.

Quälende Stille.

Einsames Alleinsein.

Überwältigende Trauer.

Wo war er hingegangen? Amarok lief durch die Wohnung, um Gajaze zu suchen. Aber er wusste insgeheim, dass er ihn nicht finden würde. Sicher hatte er Gewissensbisse bekommen, bereute die letzte Nacht.

»Ihr Götter! Warum tut ihr mir das an? Warum nehmt ihr mir alle weg, die mir nahestehen?«, fragte der Wolf, ließ sich in seinen Sessel sinken und begann zu weinen.

Alles hatten sie ihm genommen: seine Familie, Joliyad und jetzt auch noch Chenerah. Dieser Alsatiat sollte sein letzter Versuch sein, in dieser Welt zu bestehen. Jetzt war er fort, ohne Erklärung oder Abschied. Es gab keinen Grund. Alles war doch gut. Sie wollten es zusammen versuchen. Und jetzt? Jetzt war alles zunichte. Wie konnte Amarok sich einbilden, alles würde wieder besser werden, wenn er mit diesem blöden Hund schlief?

»Ich hasse dich, Chenerah!«, rief er und schlug mit der Hand zwei Gläser vom Tisch.

Er war verzweifelt und traurig. Diese Trauer verwandelte sich schnell in unbändige Wut und er stand auf, hob den Tisch an und warf ihn an den Rundfunküberträger, der daraufhin in viele Teile zerbrach. Der Wolf lief in der Wohnung herum, völlig außer sich und schlug alles, was seinen Weg kreuzte, kurz und klein. Er machte vor nichts Halt, bis seine Wohnung wie ein einziger Trümmerhaufen nach einem Erdbeben aussah.

Als er vor Erschöpfung nicht mehr konnte, ließ er sich auf den Boden fallen und saß sehr lange still und regungslos da.

›Sie alle haben mich verlassen …‹, dachte er und weinte erneut leise. Alle waren sie verschwunden und er hatte niemanden mehr. Er war es, der seinen Landsleuten die Freiheit bringen wollte, doch nun sollte er selbst der Gefangene sein, gefangen in endloser Trauer und Depression.

»Ach scheiße«, sagte er laut, »es ist sowieso alles egal.«

Der Wolf stand auf und nahm eine volle Flasche Kopa’che aus dem Regal. Er setzte sich auf den Boden und lehnte mit dem Rücken am Kühlschrank. Die Flasche betrachtend, sprach er: »Ich trinke auf dich, Joliyad. Ich liebe dich. Und ich trinke auf euch, meine Eltern und Enna. Ihr seid meine Familie – und ihr werdet es immer sein.«

Ein kurzes Nachdenken folgte.

»Und ich trinke auf den Sieg über dich, Kardoran! Mögest du im ewigen Feuer der Sonne verbrennen, du widerlicher Schlächter!«

Dieser erste Griff nach dem Alkohol sollte die nächste Zeit seines Lebens für immer verändern. Schnell trank der Samojedaner die Flasche halb aus. Er spürte zwar das Brennen, doch machte er sich nichts daraus.

Erneut trauerte er dann und rief: »Und ich trinke auf dich, Chenerah Gajaze, du dreckiger Köter! Sollten wir uns je wiedersehen, werde ich dich töten, das verspreche ich!« Er nahm wieder einen Schluck und malte dich aus, was er mit diesem Hund tun würde, würde er ihn treffen. Er würde ihn finden, wäre es auch das Letzte, was er je täte.

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