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Obwohl ich mich nicht mehr allzu weit zurück erinnern kann, weiß ich, dass ich als Kind glücklich war. Zumindest ab dem sechsten Lebensjahr. Ich war ein Einzelkind und meine Mutter Lisbeth, von den meisten allerdings Lilli genannt, umsorgte mich wie eine Glucke ihre Eier. Sie verfolgte jeden meiner Schritte um sofort einzugreifen wenn es nach Gefahr aussah und das war nicht selten. Schließlich hatte sie meist die alleinige Aufsicht, da mein Vater Rudi bei einer damals hiesigen Öl-Raffineriegesellschaft im Schichtdienst arbeitete. Irgendwann lernte ich dann, dass ich sämtlichen Quatsch veranstalten konnte, wenn sie von irgendwelchen Arbeiten im Haushalt abgelenkt war. Es verging nicht ein Tag, an dem mir nicht etwas Neues einfiel. Ich spielte mit dem guten Besteck einen Messerwerfer im Zirkus oder ich versuchte mit ein paar Strohhalmen Untertassen zu jonglieren. Mit Creme malte ich Straßen auf dem guten Teppich und mit Mamas Nagellack malte ich meine Matchboxautos an. Natürlich auch auf dem Teppich oder auf dem Küchentisch. Wie das dann hinterher aussah kann sich ja jeder vorstellen. Als ich jedoch das eine Mal auf den Küchenschrank klettern wollte, der mir weit über dem Kopf ragte, um wie ein Trampolinspringer auf den Küchentisch zu hüpfen, kippte dieser mit mir um. Während des Falls öffnete er sich und es knallte fürchterlich. Ich weiß gar nicht wie viele Teller und Tassen dabei zerbrachen. Der Schrank schlug Gott sei Dank neben mir auf und verfehlte mich nur um Haaresbreite. Geschockt verharrte ich für ein paar Sekunden auf dem Fußboden und erschrak zugleich als ich hörte, wie meine Mutter mit riesigen stampfenden Schritten herbei eilte. Als sie dann in die Küche kam, waren ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und ihre Haare schienen sprichwörtlich zu Berge zu stehen. Langsam raffte ich mich auf und zog mich zwischen den ganzen Scherben am Küchentisch hoch. Für einen Moment war es toten-still in dem Raum und in den Sonnenstrahlen, die durch das Küchenfenster schienen, verquirlte sich aufgewühlter Staub mit kleinsten Porzellanpartikeln zu einer glitzernd funkelnden Wolke. Ich fand es faszinierend, aber was dann kam war der gestaffelte Ablauf einer bis ins kleinste Detail schnell durchdachten Moral-predigt. Es gab in solchen Momenten zwei Versionen. Die kurze dauerte ungefähr fünf Minuten und die lange konnte schon mal mit Pausen, bis in den nächsten Tag reichen. Bei dieser Geschichte bekam ich nur die kurze Version. aber dafür unmissverständlich in einem von ihr gefauchten Vorwurfspaket.

>>Bist du verletzt, ist dir was passiert? Um Himmels Willen, bist du denn verrückt geworden? Was hast du dir nur dabei gedacht? Willst du mich unglücklich machen? Du hättest tot sein können wegen deinen Dummheiten. Willst du das Junge? WILLST DU DAS!? <<

Ich schüttelte verneinend den Kopf und schaute zu ihr auf aber ihr Blick ging an mir vorbei. Fassungslos starrte sie auf das Geschehene. Hätte der mit Porzellan randvoll gestapelte Küchenschrank sich beim kippen nur ein wenig zu mir gedreht, er hätte mich erschlagen. Meine Eltern wären todunglücklich gewesen und ich hätte mir keine Standpauke mehr anhören brauchen. Ich nehme an meine Mutter wusste seit diesem Vorfall, das ich einen ganz besonderen Schutzengel haben musste und schraubte zumindest äußerlich ihre Besorgnis um mich ein wenig herunter. Wir wohnten am Stadtrand von Wilhelmshaven. Die Gegend war eher ländlich. Bis auf nur einem Haus ungefähr 30 Meter entfernt von Unserem, war alles Weide oder Ackerland. Hinter unserem Haus befand sich der Garten in dem ich bevor ich das Laufen anfing wie ein Wahnsinniger herumkrabbelte. Laut meinen Eltern war ich damals schon voller Absicht Reißaus zu nehmen und mein Vater hatte keine andere Wahl den Garten komplett einzuzäunen. An dieser Zeit erinnere ich mich allerdings kaum, erst ab dieser Sache mit dem Küchenschrank blieb es bei festen Erinnerungen. Ich schätze das Ereignis war im wahrsten Sinne einschlägig genug und fest in meinem Gehirnskasten verankert.

Ich wuchs heran und es kam die Zeit, als der Garten immer langweiliger wurde und ich orientierte mich zum Leidwesen meiner Eltern nach den Dingen die hinter dem Zaun lagen. Freunde hatte ich damals nicht viele mit denen ich hätte spielen können. Die aus meiner Klasse waren mir zu blöd und unsere einzigen unmittelbaren Nachbarn hatten nur eine vier Jahre ältere Tochter. Zu der komme ich aber später.

Ich ging also allein auf die Pirsch und hielt mich entweder auf einem alten verlassenen Lagerplatz auf der anderen Seite unseres Hauses auf oder lungerte auf einem nahe liegenden Bauernhof herum. Meistens jedoch war ich auf diesem Lagerplatz zu finden. Er war schon lange nicht mehr genutzt geschweige denn betreten worden und war so hoch mit Brettern dicht an dicht eingezäunt das nur ein Erwachsener der groß genug war so gerade drüber hinwegschauen konnte. Der Zugang, ein eben so hohes altes und eingewachsenes Doppeltor, war waagerecht mit einem schweren Balken verbarrikadiert der durch einer Vorrichtung mit einem verrosteten Schloss gesichert wurde. Ich jedoch, ich hatte meinen eigenen Eingang. Auf der hinteren Seite des Platzes zur Weide hin, waren zwei Bretter des Zauns locker und ich konnte sie so weit verschieben, dass ich hindurch kriechen konnte. Es war mein geheimer Ort. Keiner kam sonst dort hin oder wusste davon. Das meiste auf dem Grundstück war von meterhohen Gras, Sträuchern und zwei oder drei Apfelbäumen die sich nach allen Richtungen Platz verschafft hatten, verwuchert. Selbst ein alter ausgeschlachteter VW Käfer, der in einer der Ecken stand, war fast restlos vom Efeu bedeckt. Um ihn herum standen alte Ölfässer und ein Gussofen.

Neben dem Haupteingang zum Grundstück befanden sich die Überreste von einem Holzschuppen der längst über die Hälfte in sich zusammen gefallen war. Ein paar Blechdosen mit verrosteten Schrauben und Nägeln, verrottetes unbrauchbares Werkzeug, eine alte Schippe und anderer Kram zeugten dafür, dass dort mal gewerkelt wurde. Das Beste aber befand sich direkt mittig auf dem Platz. Ein alter Schießbunker aus dem zweiten Weltkrieg, der gerade mal so groß war, das zwei Mann sich darin bequem aufhalten konnten. Er war kreisförmig gebaut. Eine Stahltür auf der einen und eine Schießscharte auf der anderen Seite. Er ging kegelförmig nach oben hin zu, als wäre er in einem Stück gegossen worden. Ein geiles Ding und ein noch geilerer Ort sich vor Allem zu verstecken, wenn man seine Ruhe haben wollte. Ich hatte alles was ich brauchte und im Sommer war ich die meiste Zeit dort. Ich arbeitete und baute mir eine eigene kleine Welt auf und wenn ich gedurft hätte, wäre ich auch über Nacht geblieben. Hier holte ich auch meine ersten Blessuren, Abschürfungen, Fleischwunden die genäht werden mussten bis hin zu Verstauchungen und letztendlich Knochenbrüche. Zweimal die Woche eine Verletzung war Programm. Ohne dem, ging gar nichts.

Wenn ich mit schmerzverzerrtem Gesicht über unseren Garten gelaufen kam, brauchte ich nicht einmal mehr auf Mitleid hoffen. Meine Mutter kam zwar aus dem Haus, stand aber demonstrativ mit den Händen in die Hüfte gestützt an der Hintertür und schüttelte mit dem Kopf.

„Junge, Junge, Junge, zum 100.mal. Wenn du so weiter machst, hast du bald mehr Narben als Berlin Straßen hat.“

Die erste Zeit ist sie wegen jeder Kleinigkeit mit mir zum Arzt oder sogar ins Krankenhaus gefahren. Je öfter ich jedoch etwas hatte, umso mehr wusste sie sich selbst zu helfen und verarztete mich gleich vor Ort.

Es kam hin und wieder vor, das sie sich dann darüber beschwerte, dass sie mit mir immer wieder Scherereien hatte und unsere Nachbarn diese Probleme nicht haben würden. Die hätten schließlich eine Tochter. Ein ruhiges braves Mädchen, die nicht von irgendwelchen Bäumen fällt oder durch zu enge Zäune kriecht und sich sämtliche Gliedmaßen aufreißt.

Aber wenn sie das sagte, grinste sie mich im nächsten Augenblick an, wuschelte mir mit der Hand durch die Haare und sagte: „Du bist ja auch ein richtiger Junge und zwar meiner!“

Dann gab es einen Schmatzer auf die Stirn und ich durfte weiter spielen gehen. Also was ich unter spielen verstand.

Unsere besagten Nachbarn wohnten zu unserer Linken. Sie hießen Weyers und ihre Tochter hörte auf den schönen Namen Elena. Sie war wie gesagt vier Jahre älter als ich und bildhübsch. Lange schwarzgelockte Haare, schlank mit rehbraunen Augen. Die Gene ihrer Schönheit kamen von ihrer Mutter, die ursprünglich aus Italien stammte, allerdings vom Temperament her dem Klischee nicht annähernd entsprach. Ihr Vater, deutscher Herkunft, untersetzt mit lichtem Haar, arbeitete ebenfalls als Schichtarbeiter bei derselben Raffineriegesellschaft. Somit waren unsere Väter zwar Kollegen, hatten aber durch verschiedene Tätigkeitsbereiche direkt miteinander nie etwas zu tun.

Trotz beidseitiger Freundlichkeit kam es zwischen unseren Eltern nie zu einem innigen Kontakt. Meine Mutter sprach zwar ab und zu mit der von Elena, aber laut ihren Angaben, ging es selten über Alltägliches hinaus. Ganz ähnlich, jedoch ungewollt entstanden was mich anbetraf, war auch das Verhältnis zwischen mir und Elena. Vorm Haus war sie sehr selten und wenn, dann für sich ganz allein mit Seilspringen, Fahrrad fahren oder Sonstigem beschäftigt. Sie verhielt sich schüchtern, war wortkarg und auf eine Art unerreichbar. Gut, die geschlechtlichen Interessen sind halt unterschiedlich, auch der Altersunterschied trägt sicherlich dazu bei, aber derart frappierend? Die Tatsache dass sie anscheinend keine Freunde hatte, die sie besuchten, erklärte den aufkommenden Verdacht, es könnte womöglich an mir liegen, als haltlos. Auch unsere wortlosen nur durch Gestiken ausgeführten Begrüßungen von Fenster zu Fenster, bei denen sie wie ausgewechselt immer so niedlich lächelte und schon fast fröhlich übertrieben winkte, ließen den Gedanken einer Abneigung zu mir absurd erscheinen. Es fiel ihr offensichtlich leichter, sich aus sicherer Entfernung mit mir zu unterhalten. Was ich wiederum nicht ganz verstand und oftmals ihr Gehampel als äußerst fragwürdig was ihre Persönlichkeit entsprach deklarierte. Trotz allem empfand ich es als sehr angenehm und wir freuten uns beide jeden Tag darauf, wenn wir uns auf diese Art sahen. Es wurde schon beinah zu einem Ritual.

Die unerklärliche Strenge ihres Vaters trug zu ihrem Verhalten mit dazu bei. Er passte auf wie Schießhund und die übertriebene Fürsorge ließ beim ihm nur einen bestimmten Zeitraum zu, in dem sie an die frischen Luft durfte. Immer zu denselben Uhrzeiten musste sie ins Haus zurück. Hatte sie mal bei ihren Beschäftigungen die Zeit vergessen, so keifte ihr Vater schon an der Eingangstür energisch fordernd, sie sollte doch sofort herein kommen. Ich beobachtete des Öfteren, dass darauf in ihrem Zimmer das Licht anging und ihr Vater die Vorhänge zu zog. Sie musste wohl schlafen, brauchte ihre festgelegten Ruhephasen oder hatte womöglich eine Krankheit von der ich nicht wusste, die sie dazu zwang am helllichten Tag in ihr Bett zu müssen. Zumindest war das die einzige Schlussfolgerung womit ich mir dieses Vorgehen erklären konnte. Mein Vater sagte nur, als ich ihn dennoch einmal nach dem Sinn fragte und was die Elena denn wohl für ein Problem hätte, „ Weißt du mein Junge, es gibt Dinge im Leben, die muss man nicht verstehen. Glaube mir, auch ich habe mich das schon einige Male gefragt, so hat jeder seine Eigenarten. Was dem einen als völlig normal erscheint, ist für den anderen genau das Gegenteil.“

Das war zwar keine richtige Antwort auf meiner Frage, aber es reichte für mich um unbeschwert weiter meine Wege zu gehen.

Im Laufe der kommenden Jahre änderte sich nicht gerade viel an der Allgemeinsituation. Erst recht nicht bei Elena. Die Zeit machte sie zunehmend reifer und immer hübscher. Mittlerweile war sie süße siebzehn und hatte das Springseil gegen das Konsumieren von Zigaretten eingetauscht. Das war auch das einzige Gravierende was sich änderte. Sie saß dann quasi ihre Zeit vor dem Haus auf einer unter dem Dachvorsprung stehenden Gartenbank ab. Oftmals war sie sehr reizvoll gekleidet und aufgetakelt, als ob sie ausgehen wollte. Die Absicht das Haus zu verlassen hatte sie allerdings nicht. Stattdessen fand eines jeden Tages am frühen Abend das gleiche Prozedere statt. Sie ging ins Haus auf ihr Zimmer, zog schon seit langem selbst die Vorhänge zu und machte ein gedämmtes Licht an.

In dieser Zeit fing ich an, mich immer mehr von dem geheimen Platz den ich mir mühsam aufgebaut hatte zu distanzieren. Schon bald hatte ich die Lust gänzlich verloren und blieb diesem Ort fern. Ich war dreizehn geworden und passierte allmählich den Weg in den pubertären Gefilden, was meine Freizeit fast ausschließlich in Anspruch nahm. Die Momente in denen das Interesse zum weiblichen Geschlecht vorrangig wurden, kamen in immer kürzeren Abständen. Plötzlich waren meine Blicke auf jede weibliche Schönheit gerichtet, egal welchen Alters, die den in mir aufkommenden erotischen Phantasien entsprachen. Aber es gab nur Eine, die in mir die größte Neugier auf Eroberung des süßen anderen Geschlechts erweckte. Elena!

Ich versuchte den Kontakt zu ihr zu verinnigen, indem ich Briefe meiner Zuneigung schrieb und sie, bevor Elena aus dem Haus zu gehen vermochte, unter der Gartenbank legte. Meine Gefühle in Wort verfasst, schmeichelten sie und auf ihre Weise antwortete sie an so manchen Abend vor ihrem Fenster. Sie zeigte sich mir leicht bekleidet. Erotisch adäquat in ihren Bewegungen, betonte sie ihren wohlgeformten Körper in einem hingebungsvollen Takt der meine jungen Sinne in mir, in noch fremden Wallungen brachte. In diesen Momenten gab es nur sie und mich. Worte die nie zwischen uns fielen, Zuneigung die durch Abstand von ihr zwischen uns nicht entstehen konnte, das alles war nicht so bedeutend wie das, was sie mir betörend mit ihrer selbst vermittelte. Zwei Persönlichkeiten in sich, die unterschiedlicher nicht sein konnten, ließen es nicht zu, sich näher zu kommen, bis auf die Distanz zwischen zweier nebeneinander stehende Einfamilienhäuser. Ein Gefühl, wie ein immer wiederkehrender Genuss der verbotenen Frucht im Paradies Eden und doch war es nicht genug. Ich wollte mehr, ihr näher sein, sie fühlen. Diese unerreichbare Zuneigung reichte nicht aus. Ich war zwar noch jung, ziemlich jung, aber dieses Mädchen machte mich verrückt. So beschloss ich, alles zu tun um den Grund zu erfahren. Warum sie diesen Abstand zu mir und der Außenwelt hielt. Ich hatte die naive Hoffnung, wenn ich es wüsste, könnte ich sie vielleicht sogar aus dieser inneren Gefangenschaft herausholen.

Die Häuser in denen wir wohnten waren baugleich mit Hochparterre nur spiegelverkehrt. Mit einer kleinen Leiter oder einem Tritt wäre es ein Leichtes direkt in ihr Zimmer zu schauen um zu erfahren was dort all die Jahre vor sich ging oder ob sie tatsächlich nur schlief. Ich beschloss genau das zu tun und ging immer wieder Schritt für Schritt den Ablauf durch.

Wir hatten Herbst und die Tage wurden zunehmend kürzer. Es dauerte mehr als eine Woche als es dann endlich soweit war und ich am frühen Abend an jenen Tag die Aktion startete. Aus unseren Hauswirtschaftsraum nahm ich den zweistufigen Tritt meiner Mutter und schlich mich vom Hintereingang hinüber bis unter dem Fenster von Elena. Tags zuvor hatte es wie aus Eimern geschüttet und der Rasen der an der Hausmauer grenzte glich einer pampigen Moorlandschaft. Bei jedem Schritt, den ich so leise wie möglich vollbringen wollte, schmatze der Boden nervend wie beim Weintreten. Nichts mit schleichen! Immer wieder schaute ich mich um. Hatte mich womöglich allein dieses blöde Geräusch schon verraten? Nein, alles war ruhig, nur rutschig war es. Der Schlick unter meinen Schuhen backte im Profil meiner Schuhsohle und mit jedem Schritt kam nicht nur immer mehr dazu, sondern ich wurde auch noch zunehmend millimeterweise größer. Unter dem Fenster endlich angekommen, hatte ich Schuhe so groß und schwer wie Astronautenstiefel. Nervös wie ich war, vom Schlick die Schnauze und vor Angst die Hose voll, klappte ich den hochbeinigen Tritt aus und stellte ihn unter Elenas Fenster in den weichen Morast. Ich wollte mich beeilen, wenn ich dabei gesehen werde, wie sollte ich aus dieser Nummer wieder heraus kommen? Hastig unüberlegt stieg ich mit einem Satz auf die zweite Stufe, wodurch sich der Tritt durch mein Gewicht nach rechts bis zur Unterseite der ersten Stufe in den Boden verabschiedete. Reflexartig griff ich nach dem Blitzableiter der sich zur linken neben dem Fenster befand. Um mein Gleichgewicht wieder herzustellen, versuchte ich mich mit der rechten Hand von der Mauer abzustützen, rutschte jedoch in diesem Augenblick mit meinem rechten Fuß, der ja immer noch komplett mit Schlick überzogen war, seitlich von der Stufe, wobei ich unwillkürlich nach vorn schnellte und mir den Kopf an der Außenfensterbank einschlug. Vor Schreck und schmerzerfüllt, sprang ich von dem Tritt in den schmatzenden Rasen und verharrte in gehockter Haltung eine Weile um den Schmerz in meinem Kopf zu überstehen. Der Einschlag war gewaltig, mein Schädel brummte wie verrückt und ich wunderte mich warum Elena oder sonst wer im Haus nichts bemerkt hatten. Ich war mir sicher, dass sich das ganze Haus bewegt hatte. Ich bekam für einen Moment durch dieses unangebrachte Missgeschick eine enorme Wut im Bauch. Musste das unbedingt passieren? Am liebsten hätte ich den Blitzableiter von der Wand ge-rissen, ihn um den Tritt gewickelt und mit aller Wucht durch die Fensterscheibe geworfen. Aber ich zwang mich zur Beruhigung und der zweite Versuch war dann weitaus erfolgreicher. So erfolgreich, dass ich mir noch lange danach wünschte, ich hätte nach dem ersten Versuch einen Rückzieher gemacht. Mit zitternden Knien vor Aufregung aber dieses Mal sicher, stand ich nun auf den Tritt. Die Außenfensterbank war auf Brusthöhe und ich beugte mich mit dem Gesicht so nah es ging an die Scheibe heran. Ich sah aber nichts. Eine Laterne die nicht unweit vorm Haus auf dem Grundstück stand, spiegelte sich im Fensterglas und ich formte zur Sichthilfe mit den Händen einen Trichter um meine Augen. Nun konnte ich etwas erkennen. Schemenhaft durch den vom Licht transparent wirkenden Vorhang sah ich Elena. Ich hatte alles erwartet, dass sie in ihrem Zimmer zu sehen sei, wäre keine Überraschung gewesen, aber es stockte mir der Atem. Sie lag unbekleidet auf ihrem Bett und streichelte sich am ganzen Körper. An ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen. Ihre Kleidung lag verstreut um das Bett herum und auf ihrem Nachtschrank befanden sich Utensilien zur Hilfe der Selbstbefriedigung, die mir damals mehr als unbe-kannt waren, aber ein gewisses Fremdschämen in mir verursachten. Was machte sie da nur? Es kam mir vor, als würde ich von meiner heilen Welt durch dieses Fenster in eine andere, schlimme Welt blicken. Das unscheinbare und schüchternde Mädchen mit dem süßen Lächeln von Nebenan, lag wie die Natur sie schuf nicht unweit vor mir und praktizierte Dinge mit sich, die ich nicht wechseln konnte. Die Aufregung in mir ließ den Puls bis in meinen Kehlkopf hämmern und in meinem Magen bäumte sich ein Gefühl wie kurz vor dem Erbrechen auf. Ich musste so schnell und heftig atmen, dass die Fensterscheibe ständig beschlug und ich sie nach jedem dritten Atemzug mit dem Ärmel abwischen musste. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass mich das mit Elena nicht irgendwie angemacht hätte, obwohl es auf eine Art befremdend war. Ich empfand es als unwahrscheinlich dass es genau das war, was sie all die Jahre fast jeden Tag in ihrem Zimmer anstellte. Warum sollte sie das tun? Wer würde das über-haupt so oft mit sich machen wollen? War Elena womöglich besessen von sich selbst?

Ich versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Wenn es eine Antwort auf meine Fragen gab, dann war sie vielleicht genau hier zu finden.

Ganz rechts, so weit es möglich war, fing ich an ihr Zimmer in meinem Fokus zu inspizieren. Schritt für Schritt, langsam, tastete ich Sämtliches mit meinen Augen ab um eventuell Klarheit zu erlangen.

Gleich neben dem Fenster erkannte ich das Seitenteil einer Schrankwand, wie sie für Jugendzimmer üblich war. Sie reichte über Eck bis zur nächsten Wand und in ihr flimmerte ein mittelgroßer Fernseher, dem ich zunächst vom Sichtwinkel zum Bildschirm her wenig Beachtung schenken konnte. Am Ende zur dritten Wand, stand der Nachtschrank, auf dem sich zusammen mit den schon erwähnten Utensilien, auch ein kleiner runder Frisierspiegel stand dessen Spiegel sich vertikal drehen ließ. Gleich daneben, ihr Bett, das ebenso wie der Schrank und eigentlich wie alles andere in diesem Zimmer überwiegend in einem Rot gehalten war. Ein großes kitschiges Bild hatte sie darüber gehängt, mit einem goldenen verzierten Holzrahmen. Darauf zu sehen, fünf vergnügte fliegende Engel, von denen der eine auf einer Harfe spielte. Heile Welt, dachte ich, beim betrachten dieser Darstellung und bemerkte am Rande meines Blickfeldes noch einmal den Frisierspiegel. Er spiegelte das Fernsehbild, das ich zuvor nicht einsehen konnte wieder. Ich nahm an, einen Erotikfilm zu sehen, mit dem sich Elena offensichtlich in Stimmung brachte, musste dann jedoch schockierend erkennen, dass die Bewegungen auf dem Bildschirm mit den ihren übereinstimmten. Nun sah ich auch ein Stativ das unmittelbar neben dem Fernseher mit einer Kamera bestückt aufgestellt war, mit der ihre intimsten Darstellungen ohne jeden Zweifel aufgezeichnet wurden. Ich war nicht gerade dumm für mein Alter. Oft kam es vor das durchaus auch Erwachsene in einigen Dingen was meine Intelligenz anbetraf, Mühe hatten mir das Wasser zu reichen. Womit ich lediglich behaupten möchte, dass ich sehr wohl eins und eins zusammen zählen konnte. Aber diese Flut an neuen und kuriosen Eindrücken, erst recht ihren Sinn verstehen, brachte mich dann doch an meine Grenzen. Warum um alles in der Welt nahm sie mit einer Kamera auf wenn sie sich selbst befriedigte? Machte sie das immer oder wollte es der Zufall, das sie es gerade an dem Tag machte an dem ich durch das Fenster spionierte? Tat sie es für die Nachwelt, für ihre Kinder, um denen zu zeigen wie es richtig gemacht wird? Wie krank war das denn? Wieder musste ich zu dem von mir vermuteten Entschluss gelangen, Elena sei von sich sexuell besessen.

Ich überlegte abzubrechen. Was konnte Schlimmeres noch kommen als das was ich schon gesehen hatte? Ein hin und ein her in meinem Kopf und schließlich, machte ich weiter.

Neben Elenas Bett, auf dem sie noch immer unaufhörlich an sich herum rieb, befand sich die Zimmertür. Wüst bepackt an den darauf befindlichen Haken mit Jacken, Blusen und Hosen, so das ein komplettes aufsperren sich als Schwierig herausstellen musste, weil der Türrahmen dort schon an der vierten und demnach letzten Wand grenzte. Sie war übersät mit hunderten Fotos von Elena. Eine riesige Collage mit Bildern in allen Formen und Größen, mit und ohne Rahmen, hingen sie kreuz und quer übereinander lappend. Auf den meisten Fotos, die ich mit Mühe erkennen konnte, wirkte sie seltsam emotionslos. Sie hatte sich scheinbar selbst fotografiert, ohne eine Miene zu verziehen, ohne einen Ausdruck, wie auf einem Passfoto. Als wollte sie sich dokumentieren und ihren Wandel über die Jahre festhalten.

Bedenklich dieser Bilder und doch unbedacht ging mein Blick langsam weiter zur linken Ecke des Zimmers. Die Erwartung auf einen harmlosen Gegenstand oder auf etwas Ähnlichen zum Abschluss zu stoßen, machten mich unbekümmert. Bis ich ein Bein sah. Ein nacktes Bein, viel mehr ein nacktes Knie und dann zwei davon. Nackte Beine in einer Sitzposition auf einem Sessel der weit in dieser Ecke stand. Meine Augen kamen vor Schreck mehrere Zentimeter aus ihrer Höhle und ich drohte fast an meiner Spucke zu ersticken. Schemenhaft zu erkennen saß dort Jemand der erkennbar nackt zu sein schien und durch eine vertraute Handbewegung ohne Zweifel vermittelte zu onanieren. Mit Ekel und Angst im Blick verkrampft, waren mir diese Bewegungen, da ich selbst zum männlichen Geschlecht gehöre, sehr wohl bekannt und obwohl ich es erahnen konnte, um wen es sich auf dem Sessel handeln musste, wollte ich es nicht glauben. Das Aufglimmen einer Zigarette im Gesicht dieser Person, als sie daran zog, verschaffte in diesem Augenblick genug Licht um zu erkennen.

Ich verlor den Halt meiner vor Aufregung zittrigen Beine und rutschte wieder mit den Füßen vom Tritt auf dem ich stand. Meine Hände die noch immer an der Fensterscheibe klebten, verursachten durch das Abrutschen ein hörbares quietschendes Geräusch auf dem Glas und ich schlug diesmal mit dem Kinn auf die Außenfensterbank. Ohne Halt flog ich rücklings blutend auf den nassen matschigen Rasen, von dem ich mich ohne ein zögern aufraffte und so schnell ich konnte zu unserem Hintereingang rannte.

Ich hatte ihren eigenen Vater gesehen. Wie sollte ich das verstehen, wer kann das verstehen? Das Dreckschwein saß da, völlig nackt und holte sich sexuell ergötzend durch den Anblick seiner masturbierenden Tochter Einen runter.

Sie mussten mich gehört haben, zu laut war mein Abgang aber das interessierte jetzt nicht mehr. Wie ein Irrer stieß ich die Hintertür zu unserem Haus auf und schrie immer wieder völlig aufgelöst nach meinem Vater. Das Blut, das aus dem Cut an meinem Kinn herunter lief, durchtränkte den Kragen meines Sweatshirts und ließ mich schlimmer aussehen als es eigentlich war. Jedoch kann sich jeder vorstellen, wie der erste Eindruck sein musste, wenn der Sohn in diesem Zustand hysterisch schreiend ins Haus gerannt kommt. Als mein Vater mir entgegen kam, beinah so aufgeregt wie ich, sah ich in sein Gesicht den Ausdruck den ich vermutlich an Elenas Fenster gehabt hatte.

>>Lilliiiie………Lilliiie, SCHNELL!!<<

Ich hatte nicht oft die Gelegenheit mit meinen Vater zu sprechen oder Sonstiges zu unternehmen. Schuld daran waren seine Wechselschichten, was aber dem guten Verhältnis zwischen uns, so wie es bei mir und meiner Mutter war, in nichts nachstand. Er war nicht der Vater der stets darauf bedacht war weit über dem Durchschnitt zu liegen um alles perfekt zu machen. Er war kein Drachenbauer sondern einfach nur mein Vater, der durch seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn den Menschen erst unvoreingenommen sein Ohr gönnte, bevor er sich für jemanden einsetzte oder im schlimmsten Fall verurteilte. Er war da, wenn ich ihn brauchte.

>> Oh Gott, Himmel, du bist ja blutüberströmt! Was ist denn passiert? <<

Ich atmete schnell und mir kamen die tränen. Meine Kehle schnürte sich zusammen, so dass ich außer einem wirren Gestammel kaum ein Wort heraus brachte.

>>Komm setz dich Tony, hol erst einmal tief Luft und versuch dich zu beruhigen, Mensch. Was in Dreigottesnamen bringt dich denn derart durcheinander? <<

Mit einer Schale warmen Wasser, einem Tuch und Pflaster, eilte meine Mutter herbei. Sie ahnte schon von der Stimmlage meines Vaters her, was sie wieder einmal erwartete. Ihr Tony musste sich verletzt haben.

>>So, bin schon da Schätzchen! Ach herrje, wie hast du denn das wieder hinbekommen? Halb so wild, das haben wir gleich. <<

Sie setzte mich auf die Waschmaschine und verarztete mich während mein Vater, die Arme verschränkt, daneben stand und mitleidend aber auch argwöhnisch zu mir schaute.

>> Und, kannst du mir jetzt sagen was da draußen genau passiert ist? <<

>> Du weißt doch die Elena…! <<

Ich erzählte ihm wie alles anfing. Welchen Verdacht ich hatte und was ich am Schluss bei meiner waghalsigen Aktion beobachten konnte, sehen musste. Er hörte sich alles sehr aufmerksam an, stellte die eine oder andere Frage um sicher zu gehen, mich richtig verstanden zu haben. Geneigt setzte er sich dabei auf die zweistufige Treppe die sich vom Hauswirtschaftsraum zur Küche befand und vergrub sein Gesicht kopfschüttelnd in den Händen. Er machte, zu meinem Erstaunen, nicht gerade den Eindruck etwas Neues zu hören. Nicht dass er Ähnliches erlebt hätte, nein, aber seine Reaktion war, als wüsste er sich bestätigt.

>>Und das ist jetzt gerade passiert, Tony? << fragte er mich zutiefst betroffen.

>>Ja! <<

>>Verdammt, ich hätte es wissen müssen! Das arme Mädchen! <<

Er stand auf und schlug mit der geballten Faust gegen den Rahmen der Küchentür. Seine Betroffenheit wechselte zur wutentbrannten Entschlossenheit.

>>Soll das heißen…? <<

>> Ja Lillie, genau das heißt es. <<

Ich schaute die beiden abwechselnd an. Wussten sie über die Zustände, die bei den Weyers herrschten Bescheid?

>>Was meint ihr damit, Mama? <<

>>Ach, der Papa und ich haben schon länger bemerkt, das dort etwas nicht stimmt. Papa war auch schon bei der Polizei gewesen, aber die haben ihn wieder weggeschickt. Weißt du, mein Junge, man kann alles behaupten aber wenn du dafür keine Beweise hast, dann muss dir keiner glauben. Und die Polizei, die unternimmt so schnell nichts. Da könnte ja jeder kommen. <<

Meine Eltern hatten also jahrelang diesen Verdacht das seltsame Dinge bei den Weyers vor sich gingen. Vielleicht war auch das der Grund, dass sie keinen innigen Kontakt pflegten.

>>Verflucht noch mal, Scheiße! Hätte ich doch schon längst selbst mal durch dieses Fenster geschaut. Aber nein, ich musste so lange damit warten bis mein Sohn das sieht. Ich geh da jetzt rüber und ihr wartet hier! <<

Seine Entschlossenheit sich von der Wahrheit meiner Darstellung zu überzeugen, war eher von der Bestätigung seines eigenen Verdachts geprägt als von der Sicherstellung meiner Glaubwürdigkeit.

Fragend schaute ich meine Mutter an, die einen tiefen Seufzer von sich gab und wir konnten nur noch hören, wie mein Vater die Hintertür zu knallte.

Was wird er unternehmen, wenn er die gleiche Beobachtung macht? Würde er auf sich aufmerksam machen? Diesem Schwein zu verstehen geben, dass er nun erwischt wurde und zur Rechenschaft gezogen wird? Ich traute es meinen Vater sogar zu, dass er sich gar nicht erst die Zeit nehmen würde, ein Gespräch zu führen. Diesen Wert hatte der Weyers für ihn sicherlich verloren. Denkbar, dass er wutentbrannt in das Haus rennt, wortlos stur an dessen Frau vorbei ins Zimmer von Elena läuft und ihn verprügelt, richtig verprügelt.

Oder hatte der Weyers mich möglicherweise gehört und sein perverses Treiben für Heute beendet? In dem Fall, stünde meine Erzählung der Geschehnisse auf wackeligen Beinen. Nicht mein Vater wäre in diesem Fall das Problem, er würde mir weiterhin Glauben schenken, aber die Aussage eines Kindes bei der Polizei hätte in einer solch prekären Sachlage weniger gewichtigen Charakter als die eines Erwachsenen.

Es vergingen keine fünf Minuten als mein Vater mit Hast und geschockt zurückkam. Aufgeregt schaute er zu uns aber nicht wirklich an. Da wusste ich, er hatte es gesehen.

>>Lillie…mein Gott Lillie! <<

>>Rudi, ruf die Polizei, jetzt! <<

>>Und wenn die wieder nicht kommen. Die halten mich doch schon längst für einen verbitterten Denunzianten. Du kennst doch diese Sesselfurzer. Beim letzten Mal haben die mit mir geredet, als wäre ich der Perverse und würde mich durch meine gesponnene Phantasie was das Schwein nebenan treiben könnte, wohlgemerkt könnte, innerlich aufgeilen. <<

So hatte ich meinen Vater noch nie gesehen. Das Gesicht war schal und es bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Er regte sich maßlos auf, war erbost darüber was noch alles passieren musste um ein Handeln der Polizei zu erlangen.

>>Verstehst du Lillie, als ob es nicht schon reicht, diesen Verdacht in aller Deutlichkeit zu äußern, was allein schon schlimm genug ist. <<

>>Ich verstehe dich ja Rudi, aber jetzt ist es anders. Du musst die Polizei anrufen solange Weyers, wie krank es auch klingen mag, sich noch mit Elena vergnügt. Die Polizei ist verpflichtet jeder Sache nachzugehen und dieses Mal werden sie ihn während seiner schlimmen Tat dingfest machen können. Ruf an Rudi, ruf an! <<

Bedenklich blickte er auf den Betonboden, er wusste dass meine Mutter Recht hatte.

>>Ja, das mach ich jetzt auch. Sollten die mich wieder abwimmeln, geh ich persönlich nach nebenan und stell das Schwein zu Rede. <<

Er ging zum telefonieren in den Flur. Das Gespräch dauerte nicht lange, jedoch länger, als dass er nur wenige Worte gesagt haben konnte. Dann kam er andächtig zu uns zurück.

>>Sie schicken sofort einen Streifenwagen. Wir sollen nichts unternehmen und im Haus bleiben, seltsam. Einfach seltsam. <<

>>Warum seltsam, Rudi? Du hast der Polizei die Dringlichkeit deines Anliegens erklärt und sie kommen. Das hast du doch, oder? <<

>>Ich wollte Lillie, ich wollte. Bevor ich ins Detail gehen konnte, griff der Beamte mir im Vorfeld ab, was ich berichten wollte. Als hätte er gewusst was ich sagen will. Es kommt mir vor, als ob ich durch meine Bestätigung dessen, was die Polizei vermutete, nun der erwartete Startschuss bin. <<

Meine Mutter stand auf und nahm seine Hände.

>>Dann haben sie dich die ganzen Jahre ernst genommen und geglaubt Rudi. Das ist doch gut so. Vielleicht hat das nur nie gereicht um etwas zu unternehmen. Die haben selbst noch gegen Weyers ermittelt und jetzt reicht es für eine Festnahme. Rudi, Schatz, es ist vorbei. <<

Plötzlich hörten wir Motorengeräusche und zuschlagende Autotüren, mehrmals. Es war nicht nur ein Streifenwagen der bei den Weyers vorfuhr. Mindestens fünf, ohne Blaulicht und ohne Sirene. Beamte stürmten in Razziamanier zur Eingangstür des Hauses und verhielten sich ruhig, einer von ihnen klingelte höflich.

Unbedacht und ahnungslos öffnete Frau Weyers die Tür. Sichtlich überrumpelt drängten sie die Einsatzkräfte zur Seite, mit der unmissverständlichen Gestik keinen Ton von sich zu geben und während einer bei ihr blieb, begab sich der Rest auf den Weg nach Elenas Zimmer. Weyers kniete gerade unbekleidet mit der Kamera neben dem Bett seiner Tochter, um abartige Nahaufnahmen von ihr zu machen, als die Beamten gewaltsam die Tür aufstießen. Er befand sich unmittelbar dahinter und wurde durch die Wucht mit der sie ihm ins Kreuz fiel, zu Boden geworfen. Bäuchlings, perplex der Lage, im schnellen Haltegriff fixiert, stöhnte die Drecksau vor Schmerz in seiner Gegenwehr, als ihm die Handschellen angebracht wurden. Erst dann teilte man ihm die Gründe, die für ihn selbst nichts Neues gewesen sein durften, mit. Der Satz seiner Verteidigung >>Ich habe nichts Schlimmes getan, wir spielen nur ein Spiel! << klang nicht nur krankhaft absurd und ließ in den Gesichtern der Polizisten die Abscheu gegen ihn widerspiegeln, sondern war auch der Beweis dafür, wie selbstsüchtig er in Kauf nahm die Persönlichkeit seines eigen Fleisch und Blutes zu zerstören.

Elena griff voller Scham nach ihre Decke und rutschte verängstigt erschrocken von ihrem Bett. Sie kroch in die andere Ecke des Zim-mers neben den Nachtschrank, wo sie sich zitternd zusammengekauert hinhockte. Nur ihre Augen linsten nervösen Blickes auf das Geschehen über den Rand ihrer Decke, die sie bis über die Nase gezogen hatte. Sie weinte und atmete hastig. Der anwesende Notarzt und eine Polizistin näherten sich ihr vorsichtig, versuchten sie zu beruhigen, doch sie reagierte nicht. Zu tief lag der Schock und die Verankerung der Barere des Mistrauens anderen Menschen gegenüber, die sie all die Jahre in sich aufgebaut hatte. Nach einer Weile des Zuredens und in einem apathischen Zustand gefallen, ließ sie dann doch eine ärztliche Versorgung zu.

Kurze Zeit später wurde Elena von Sanitätern auf einer Barre in den Krankenwagen gebracht, vorbei an dem Streifenwagen, in dem, mit gesenktem Kopf, ihr Peiniger saß. Ein Handtuch hatte man ihm nach seinem Erbeten aus Feigheit, nicht zu seiner Tat stehend, auf den Kopf gelegt. Angewidert gezwungen dem Recht auch solcher Unmenschen achtend und weil das abgelegte Gelöbnis es verlangte, hatten ihn die Polizisten rücksichtslos in den Streifenwagen gezerrt. Auch als er sich am oberen Holm des Einstiegs den Kopf stieß, nahmen sie es nur unberührt zu Kenntnis. Es war sehend nicht einfach für die Beamten vor Verachtung die Contenance zu bewahren.

Derweilen stellte die ebenfalls angerückte Kripo das Haus systematisch auf den Kopf. Durchsuchte akribisch jeden Raum, jeden Winkel und jedes mögliche Versteck nach Beweisen. Weyers musste schon lange im Visier der Kripo gestanden haben, nur so war das anfangs gebrachte Aufgebot an Polizisten, die Genauigkeit und der Aufwand ihrer Vorgehensweise zu erklären. Die Ernsthaftigkeit des Verdachts war durch langjährige Fahndungen allgegenwärtig und wurde letztendlich bestätigt. Plump versteckt, hinter einer laienhaft gezogenen Wand auf dem Dachboden, fand man einen frei zugänglichen Abstellraum. In ihm Kartons gestapelt, Türme dicht an dicht. Bezeichnet mit Jahreszahlen und Inhaltsverzeichnis, zurück reichend bis ins kleinste Kindsalter von Elena. In ihnen sortiert und archiviert unzähliges Foto und Filmmaterial von Elena, in jedem Alter, in jeder Stellung, mit ihrem Vater, mit anderen Erwachsenen oder allein bei unvorstellbaren, unwürdigen und kranken Aktivitäten. An Abart nicht zu überbieten, die sichergestellten Adressbücher. Namen alphabetisch in Tabellen aufgelistet mit deren Vorlieben, Bestelldatum und Preise. Viele von Ihnen waren Stammkunden, bekamen krankes Material zum Vorzugspreis.

Ein Volltreffer für die Kripo, der das Leiden Elenas aber auch vieler anderer Kinder bedeutete.

Die Staatsanwaltschaft und der Richter sahen die massive Schuld Weyers ohne jeden Zweifel als hinreichend erwiesen. Aufgrund der Härte des pädophilen Vergehens in seiner schlimmsten Form an Schutzbefohlenen, seiner bestialischen Vorgehensweise des sexuellen Missbauchs an seiner Tochter und den Aufbau eines unterhaltenden Kinderpornorings, verurteilte das Gericht ihn später zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Das Urteil wurde von seiner Verteidigung nicht einmal angefochten sondern stillschweigend hingenom-men.

Tage nach diesem Ereignis, kehrte Elena noch einmal an dem Ort der Schande, die sie so lange ertragen musste, zurück. In Begleitung einer Betreuerin, die man ihr vom Amt zugeteilt hatte, ging sie schweren Schrittes zur Haus-tür und wartete wie eine Fremde bis ihre Mutter ihr auf machte. Die Fronten waren verhärtet. So wenig es zu verstehen war, das Elenas Mutter sie stumm für den Zusammenbruch der Familie verantwortlich machte, war es ebenfalls kaum zu verstehen, das Elena deswegen tatsächlich das schlechte Gewissen plagte. Elena sollte nach all dem Leid die Schuldige sein. Sie erfuhr weder Reue noch Einsicht.

Nur wenige Habseligkeiten packte sie, Dinge, die sie nicht allzu sehr erinnerten. Sie schaute, als sie das Haus ohne Abschied, ohne würdigen Blickes ihrer Mutter verließen, auf dem Weg zum Auto noch einmal in Richtung meines Fensters. Schämend unsicher versuchte sie zu grinsen, zu lächeln. Ihre sonst so strahlenden Augen hatten jeglichen Glanz verloren, ihr Körper wirkte erschöpft zusammengefallen.

Als sie los fuhren, schaute ich ihnen so lange ich konnte hinterher. Es war das letzte Mal, das ich Elena sah.

Elena hielt ihr ganzes Leben dieses Martyrium aus, in der Hoffnung irgendwann befreit zu werden. Das war das, was sie bestärkte nicht aufzugeben, durchzuhalten. Als es am Ende soweit war und sie erlöst wurde, brach die Scheinwelt in ihr zusammen. Die Kraft die sie am Leben hielt, verschwand und die psychischen Wunden fraßen sich wie Säure unaufhaltsam in ihre Seele ein. Einen Monat nachdem sie nach der Festnahme ihres Vaters bei einer Pflegefamilie neuen Halt und liebevolle Fürsorge erfahren sollte, wusste sie diesen inneren Druck nicht mehr Stand zu halten. Sie entschied sich für den einzigen letzten Ausweg den sie sah und beendete ihr junges Leben. Man fand sie am frühen Morgen in ihrem Zimmer, erhängt an einem Heizkörper mit dem Gürtel ihres Morgenmantels, den sie allzu oft für ihren Vater ausziehen musste.

Elenas Mutter war auf der Beerdigung nicht zu sehen. Sie trauerte auf ihre Weise und es kam vor, dass sie ganz in schwarz gekleidet in sich gekehrt um das Haus lief. Manchmal saß sie auch stundenlang auf der kleinen Sitzbank vor dem Haus, die Bank auf der Elena all die Jahre wartete bis ihr Vater sie zu sich rief. Im Laufe der Zeit sah man sie jedoch immer seltener. Ihr Ruf und die Blicke der Menschen waren unerträglich geworden. Sie verbarrikadierte sich zunehmend, verließ kaum das Haus. Das Grundstück verwilderte und Kurierdienste erledigten den Einkauf von Lebensmitteln. In der Nachbarschaft hieß sie nur „die Frau des Kinderfickers“ und eines Tages, war auch sie über Nacht verschwunden.

Wohin, weiß keiner.

Seitdem stand das Haus leer. Es sollte verkauft werden aber die darin stattgefundenen Ereignisse sprachen sich soweit herum, dass niemand bereit war dort einzuziehen. Ein Verwalter kümmerte sich um das Nötigste, ließ es ansehnlich für eventuelle Käufer erscheinen. Bis Heute ohne Erfolg.

GAUCHO

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