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Ein zweiter Exodus aus Afrika
ОглавлениеAuch die Frage, woher Homo sapiens stammt, ist nicht definitiv beantwortet. Anhänger der sogenannten Out-of-Africa-Theorie und der multiregionalen Hypothese stehen sich hier gegenüber. Unstrittig ist, dass der moderne Mensch vor ungefähr dreißigtausend Jahren in Europa schon weit verbreitet war. Sein Erscheinen ging mit einer größeren Verfeinerung der Werkzeuge einher. Es fand eine geradezu explosive Zunahme an Kreativität statt, ein wahrhaft kultureller Urknall. Im Unterschied zu seinen Vorgängern fertigte Homo sapiens Schmuck an und Höhlenmalereien wie die von Lascaux und Chauvet in Südfrankreich und von Altamira in Nordspanien. Sie gehören der Aurignacien-Kultur an, benannt nach dem reichen Fundort Aurignac in Frankreich. Der europäische H. sapiens ist auch als Cro-Magnon-Mensch bekannt, wiederum nach einem Fundort in Frankreich. Das Gehirnvolumen dieses modernen Menschen betrug etwa 1500 Kubikzentimeter (Abb. 4.9).
Abb. 4.9: Schädel des H. sapiens. Dieses Fossil eines Cro-Magnon-Menschen wurde in Les Eyzies (Frankreich) entdeckt und ist ungefähr dreißigtausend Jahre alt. Cro Magnon bedeutet im lokalen Dialekt „großer, steiler Fels“, ein Hinweis auf das Kalksteinmassiv, das sich über dem Dorf Les Eyzies in der Dordogne erhebt.
Nach Ansicht der meisten Forscher stand die Wiege von Homo sapiens nicht in Europa, sondern in Afrika. Er entwickelte sich vor etwa zweihunderttausend Jahren aus der afrikanischen Population des H. heidelbergensis. Der wichtigste Vertreter der Out-of-Africa-Theorie ist der britische Paläanthropologe Chris Stringer vom Natural History Museum in London. Nach H. erectus war H. sapiens die zweite Menschenart – wenn man den Exodus des H. heidelbergensis nicht mitzählt –, die sich von Afrika aus über die Alte Welt verbreitete und die H. erectus-Populationen, die sie dort antraf, verdrängte (Out of Africa II). Über den Nahen Osten, Europa, Asien und Australien erreichte sie vor ungefähr zwanzigtausend Jahren über eine größtenteils ausgetrocknete Beringstraße Amerika. DNA-Analysen weisen ebenfalls in diese Richtung. Die Mitochondrien-DNA von Afrikanern ist viel variationsreicher als die der Europäer und Asiaten. Die afrikanischen Menschenpopulationen sind also die älteren: Bei ihnen fanden die meisten Mutationen statt. Die Annahme, der moderne Mensch stamme aus Afrika, wird auch gelegentlich die Schwarze-Eva-Hypothese genannt: Sie lebte vor ungefähr hundertfünfzigtausend Jahren in Afrika und war die Urmutter aller heutigen Menschen.
Es gibt jedoch auch Paläoanthropologen, die wie der schon erwähnte Wolpoff von diesem Szenario nichts wissen wollen und auf das multiregionale Modell schwören. Diese Theorie besagt, dass der moderne Mensch in verschiedenen Teilen der Erde aus örtlichen H. erectus-Populationen hervorging. H. sapiens stamme nicht aus Afrika, sondern hätte sich auf verschiedenen Kontinenten entwickelt. Wenn diese Hypothese stimmt, hat sich der Auszug aus Afrika nur ein einziges Mal ereignet, als H. erectus vor etwa einer Million Jahren seine Heimat verließ. Die Verfechter dieses Modells sind jedoch in der Minderheit. Sie müssen die Frage beantworten, warum sich alle heutigen Menschen genetisch so sehr ähneln. Der menschliche Genpool ist auffallend einheitlich, und das weist auf einen gemeinsamen, zeitlich nicht weit zurückliegenden Ursprung hin. Wenn der Mensch auf verschiedenen Kontinenten aus den dort lebenden H. erectus-Populationen hervorgegangen wäre, müssten die genetischen Unterschiede viel größer sein. Doch für diese Anomalie haben die Anhänger des multiregionalen Modells eine Erklärung: Die frühmenschlichen Bewohner Afrikas, Asiens und Europas hätten regelmäßig Kontakt miteinander gehabt und nicht nur neue Erfindungen und Ideen ausgetauscht, sondern auch ihre Gene. Dieses Szenario ist jedoch sehr zweifelhaft. Wie sollten Populationen in verschiedenen Erdteilen vor hunderttausend Jahren ihre Gene ausgetauscht haben? Das multiregionale Modell ist daher nicht sehr überzeugend.
Sogar der erste Exodus des H. erectus aus Afrika wird von manchen infrage gestellt. So meinte der Leidener Archäologe Wil Roebroeks, H. erectus sei möglicherweise nicht in Afrika, sondern in Asien entstanden. In einem Artikel der Zeitschrift Nature legte Roebroeks zusammen mit seinem englischen Kollegen Robin
Abb. 4.10: Stammesgeschichte der menschlichen Evolution. Die Linien geben die möglichen Abstammungsbeziehungen zwischen den verschiedenen Menschenartigen wieder. Man beachte auch den Artenreichtum in der Periode vor zweieinhalb und anderthalb Milllionen Jahren. A. anamensis, der vermutliche Vorfahre des A. afarensis, ist in dieser Übersicht nicht aufgenommen.
Dennell dar, die bisherige Auffassung von der menschlichen Evolution müsse vielleicht völlig revidiert werden. In Asien werden nämlich immer ältere Fossilien von H. erectus gefunden, manche stammen aus dem gleichen Zeitraum (vor 1,7 Millionen Jahren) wie die ältesten Fossilien in Afrika. Bleibt nur abzuwarten, bis in Asien noch ältere Funde von H. erectus als die in Afrika ans Licht kommen. Dies würde darauf hindeuten, dass die Wiege dieser Spezies doch in Asien gestanden hat. Roebroeks hält es für durchaus möglich, dass Australopithecinen- oder Homo habilis-Populationen Afrika schon vor zweieinhalb Millionen Jahren verließen und nach Asien zogen. Aus solchen Populationen hätte sich dann H. erectus entwickelt.
Obwohl noch längst nicht alle Fragen der menschlichen Entwicklungsgeschichte geklärt sind, haben die vergangenen Jahrzehnte doch Licht in das Dunkel gebracht. Das Bild, das sich dabei ergibt, ist jedoch nicht das eines übersichtlichen Stammbaums, sondern eher mit einem bizarren Gestrüpp vergleichbar (Abb. 4.10).
Als wäre die Genealogie des Menschen nicht schon komplex genug – Uneinigkeit und Neid unter Paläanthropologen sind geradezu legendär. Die fossilen Überreste der Hominiden werden höchst unterschiedlich interpretiert. Da es dabei auch ums Prestige (und um Forschungsgelder) geht, geht es bei den professionellen Fossilienjägern nicht immer zimperlich zu. Abgesehen davon ist die Frage berechtigt, ob es sich bei manchen Funden tatsächlich um eigene Arten handelt. Vielleicht sind es nur Unterarten oder Rassen. Manche Skeptiker sind der Ansicht, die Auswirkungen der sexuellen Selektion könnten uns in die Irre führen. Die „verschiedenen“ Arten seien in Wirklichkeit Beispiele für sexuellen Dimorphismus. Körperbau und Schädelform seien bei Männern und Frauen dermaßen verschieden, dass wir sie irrtümlicherweise für getrennte Arten hielten. Wie andere Wissenschaften ist auch die Paläanthropologie von einem Problem betroffen, das Wissenschaftsphilosophen das Problem der „Unterbestimmtheit von Theorien durch die Daten“ nennen: Die empirischen Fakten (fossile Überreste, Datierungen, DNA-Analysen und so weiter) lassen sich mit verschiedenen, oft inkompatiblen Modellen erklären. In der Paläoanthropologie ist der Spielraum dermaßen groß, dass ihre Theorien oft auch von außerwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst werden. So kann es passieren, dass der Neandertaler im einen Jahrzehnt als grunzender Höhlenbewohner beschrieben wird, um im darauffolgenden plötzlich als edler Wilder zu gelten.