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Sole

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Der Altersunterschied zwischen Maria und Sole betrug 25 Jahre – er war halb so alt wie sie. Sie hatte die Weisheit in den Regalen der Bibliotheken errungen, während er diejenige der Stadtgassen und Landwege. Maria war bereits Mutter dreier junger Frauen, welterfahren durch Reisen, dank ihrer beruflichen Laufbahn mit herkömmlichen Machtgefügen vertraut, durch die Gesellschaft ihrer vormaligen Ehemänner und deren Umfeld bestens eingegliedert, dank der Erbschaft ihres Vaters selbständig - so wurde sie vor den Zwängen und Nöten eines kleinbürgerlichen Lebens in Zeiten schlimmster Wirtschaftskrisen bewahrt. Sole war jung und frech, wohlgebaut in Geist und Körper, mit fröhlich spielerischer Ausstrahlung begabt, ohne sichtbaren Narben. Er hatte sich die Weisheit der Strassenkinder angeignet. Strahlendes Licht in der feuchten Finsternis und Kälte der Nächte ohne Dach über dem Kopf. Er hatte Anfeindung und Entwürdigung durch die Sesshaften am eigenen Leib erfahren, Katz- und Mausspiel mit den Gendarmen wider Willen gespielt, immer wieder Missbräuche durch allerlei Behörden und die Verachtung der Gesellschaft für den Hungernden erduldet. Er wusste vom Überleben in Armut durch Taschendieberei und gezinktem Würfelspiel, von seiner Unkenntnis der Schrift, womit ihm das geistige Erbe der Mächtigen verwehrt blieb, von der Wortlosigkeit des Unrechts. Erst kürzlich und zum ersten Mal in seinem Leben konnte er die Erfahrung machen, sein tägliches Brot würdig gemäss Massstab der Mehrheit zu erwerben und dabei als Gehilfe des Friedhofgärtners einen Schein von Ansehen zu geniesssen. Beide, Sole und Maria, wurden sich bewusst, indem sie eins wurden, dass sie heute anders wären, wären die Umstände anders gewesen – man ist, wenn man isst....

Maria wollte mit Sole keine blosse Bettgeschichte erleben. Diese konnte sie sich ohnehin diskreter und einfacher anderswie besorgen, genügte es doch, dass sie mit dem Finger schnipste und sofort hätten sich unzählige Freiwillige innerhalb ihrer Gesellschaftsschicht eifrig um sie beworben. Sie war sich bewusst, dass sie noch nicht „ausgedient“ hatte, wobei sie stets über diesen Ausdruck schmunzelte, den einer ihrer Liebhaber zu gebrauchen pflegte, der sich als ein Nachkomme des Marquis de Sade ausgab. In Dingen der fleischlichen Liebe verfügte Maria über aussergewöhnliche Schöpfungskraft, Neugier und Offenheit. Es versteht sich von selbst, dass man den Durchschnittswert für diese drei Eigenschaften empirisch wohl kaum solide erfassen kann. Das Geschlechtsleben der Person bleibt in der Regel einer breiteren Öffentlichkeit verborgen, sofern sie nicht beruflich dazu berufen ist, in fleischlichen Dingen zu verkehren. In jeder Gesellschaft bilden Dirnen bekanntlich eine Minderheit. Noch nie gab es in der Geschichte der Menschheit eine Republik der Prostituierten. Bordelle sind die Enklaven einer fremden Nation, die es nie gab und die keiner sich je auch nur ausgedacht hatte - nicht einmal Machiavelli kam auf diese Idee, obwohl er nach eigenem Bekunden den Besuch dieser Stätten im Staat zu geniessen pflegte. Es gab immer wieder Geschwätz um eine Republik der Philosophen, der Dichter, der Sportler, der Heiligen oder der Sklaven und Leprakranken. Doch eine Republik der käuflichen Liebe blieb stets nie erdachtes Unding und hätte man sich es vorgestellt, wohl ein ewiges Tabu. Man stelle sich vor eine Oberhure als Staatsoberhaupt, ein Hurenparlament, Hurenrichter, eine Hurenverwaltung und ein Hurenvolk. Ein Hurenstaat, der Freier als Freunde liebt und Zuhälter als Feinde hasst. Eine Wirtschaft, die Hurerei als Markt und Handel vorsehen würde, eine Ideologie oder Staatsreligion, die den Geschlechtsakt für Geld als höchsten Ausdruck von Moral und Recht erklären würde, den Glauben an Scheide und Penis – Götzen, Götter, Gott, der Dreifaltige, der Einfältige oder Vielfältige. Nächstenliebe als Kerngebot für die Seele hat sich nicht umsetzen lassen, weshalb der Körper das wünschenswerte neue Gebot wäre. Wäre dies schlimmer als Waffenhandel, Wucher, Ausbeutung am Fliessband, als all diese Industrien, die Tod, Verstümmelung, Verblödung, Konsum und Wachstum bis zur Neige, Zerstörung von Tier- und Pflanzenwelt, Meer und Gestein, verursachen? Wieso diesem Drang huldigen, alles zu verzerren und zu verzehren, um Abfall und Mist zu erzeugen, den die Erde bald nicht mehr verdauen kann? - Wieso Lust und Drang zum Höhepunkt verwerfen statt zu verehren? - Wieso die Nation und nicht das Freudenhaus? - Der erste Weltkrieg hatte hinter der Front zur Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männer beigetragen. Frauen in Armeespitälern und Waffenfabriken, als Säulen der Kriegswirtschaft, als Gebärmütter für Kanonenfutter. Frauen federführend für die Moral der Truppen, der Heeresführung als Ansporn ebenbürtig, als die Feldpost die Briefe von Zuhause, die Zeilen der Verlobten, der Braut, der Geliebten, des Töchterleins, der Mutter, der Schwester, an den Soldaten im Schützengraben zustellte, um ihn vor dem Seelentod zu bewahren. Die Einführung des Frauenstimmrechts in den Nationen Europas war daher durch die lustlose weibliche Mitwirkung am unbändig triebhaften Kriegswahn einer Herrenriege teuer erkauft – einzig die Schweiz, rückständig, weil verschont von beiden Weltkriegen im Herzen des bis dahin blutrünstigsten Geschehens in der Geschichte der Menschheit, würde die Gleichberechtigung an der Urne erst in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert zähneknirschend per Mehrheitsentscheid in einer Abstimmung durch ein ausschliesslich männliches Volk in ihrer Verfassung verankern.

Jahre danach, während des Kalten Krieges, würde Maria sich eine Situation vorstellen, welche nach dem Abwurf der Atombomben über Japan die Geschichte der Menschheit hätte radikal verändern können: Gemäss dieser Phantasie hätten einzig und alleine Frauen die Befugnis, nukleare Waffen zu verwenden. Auf einen Knopf drücken, um den Weltuntergang zu bewirken, setzt keine besonderen körperlichen Eigenschaften voraus, die Frauen gegenüber Männern als schwächer erscheinen lassen – ein weiblicher Finger ist nicht minder dazu geeignet, einen Knopf zu drücken, als ein männlicher, um endgültigen Massenmord durch eine Atombombe auszulösen. Doch die vollkommene Gleichberechtigung durch die Befugnis zur vollständigen Selbstzerstörung wurde nicht zur Wirklichkeit. Die Vorzüge einer Frauenherrschaft konnten zu Marias Lebzeiten nicht erprobt werden.

Doch zurück zum Zeitraum, als Maria bestrebt war, ihre Liebe zu Sole zu weiterem Gedeihen zu führen. Wie stellt man ein Gleichgewicht zwischen Buch- und Strassenweisheit her, wie spiegelbildliche Verhältnisse zwischen Reife und Jugend, wie überwindet man Asymmetrie zwischen Mann und Frau in all den Belangen, welche zärtliche bis leidenschaftliche Gefühle einer wahren Liebe berühren? - Es sollte nicht am blossen Zufall wieder zerbrechen, der ursprünglich dazu führte, dass zwei äussert verschiedene Menschen plötzlich eins wurden.

Als Maria und Sole sich kennenlernten, war Maria in die Lektüre von Emer de Vattels Klassiker "Droit des gens" aus dem Jahre 1758 vertieft, einer wertvollen Erstausgabe, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie hatte sich somit andauernde Wissenspräsenz über Fragmente einer Theorie des Völkerrechts angeeignet, sozusagen über eine Sammlung von Regeln für das Zusammenleben von Staaten, welche grundsätzlich durch Vernunft zu erzeugen wäre - was auch immer Vernunft für Sollsätze bedeuten mag. Dieses Werk hat massgeblich die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika in den Beziehungen zwischen ihrem neuen Heimatland und dem britischen Reich beeinflusst, gemäss Marias Vater insbesondere die Seite 23: „Sich selbst zu bewahren und zu vervollkommen, ist die Summe aller Pflichten gegenüber sich selbst.“ Die darin verwendete Typographie war eine Augenweide, wobei beim Lesen "ss" und "ff" Anlass zu Verwechslungen gaben, was nach 1933 bei Maria eine ungute Gedankenassoziation mit dem Kürzel der Waffen-Schutzstaffel der Nationalsozialisten hervorrief. Marias Lektüre dieses Buchs von mehr als zweitausend Seiten erstreckte sich über ein Jahrzehnt, denn Marias besondere Eigenschaft als Leserin bestand darin, dass sie umso mehr Zeit zum Lesen brauchte, je schöner sie den Text empfand - "faire durer le plaisir" lautete ihr Motto beim Lesen schöner Zeilen und Maria verfiel ob diesem Schneckentempo dem Diogenes-Syndrom. Es häuften sich zunächst in den verschiedenen Räumlichkeiten ihres Palastes lauter aufgeschlagene Bücher, später Zeitschriften und Tageszeitungen, welche Maria weder sachgerecht archivieren, noch einfach wegwerfen wollte. Dieses Chaos der Schriften nahm bald derart viel Raum in Anspruch, dass es keinen Platz mehr gab, um Gesellschaft zu empfangen. Sole kannte die Manie von seiner Mutter her, die anstelle von Papier allerhand Gegenstände aus dem Müll ansammelte, um sie gegebenenfalls eines Tages tatsächlich zu gebrauchen, eine Erlösung von der Macht der Dinge, die jedoch nie und nimmer eintreffen sollte. Die Seelenforschung hatte wohl zu Unrecht den Altgriechen Diogenes als Namensgeber für diese Devianz erkoren, begnügte sich dieser Denker doch einzig und allein eines leeren Weinfasses als Behausung und der Sonne als Lichtquelle - ein Dasein leer von jeglichem Hab und Gut, was bekanntlich selbst Alexander der Grosse am eigenen Leib erfuhr, wurde er doch vom Philosophen angewiesen, in seiner Eigenschaft als Schatten werfender Gegenstand den Platz zu räumen. Sole schuf Ordnung in Marias Haus und erlernte damit, sich allmählich im Labyrinth der geschriebenen Worte zurecht zu finden. Maria ihrerseits war sich bewusst, dass nicht nur Essen und Schlafen, sondern vor allem auch Würde zum springenden Punkt ihrer Beziehung zu Sole werden sollte.

Für den Einzelmenschen wie für jegliche Menschengruppe von der Familie bis zur Nation und darüberhinaus Religionen und Zivilisationen, gelten als oberste Ziele, sich zu erhalten und zu verbessern, frei nach Vattel. Während Nahrung und Unterkunft Menschen und Tieren als notwendige Grundlagen für das Dasein gemein sind, bilden Ehre und Stolz den Ausfluss des Strebens nach Perfektion, was die Menschen von den Tieren unterscheidet: das Vogelnest vom Königspalast, die Pfote vom Rad - die Katze, welche ihre Wunde leckt, vom Menschen, dessen Verletzung kunstgerecht gereinigt und geheilt werden kann.

Für Sole und seine Angehörigen lautete das Gebot der Stunde inmitten der Wirtschaftskrise von 1929, welche das Volk der Armen in kürzester Zeit um etliche Millionen vermehrt hatte, schlicht und einfach den kommenden Winter zu überleben. Den nun nicht mehr auszuschliessenden Hungertod zu vermeiden, war nun von höchster Dringlichkeit, was die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität vorläufig aufs Eis legen liess – im eigenen und im übertragenen Sinn.

Aufgrund dieser zwingenden Umstände, die keinen Ausweg mehr boten, konnte Maria jetzt endlich ihre List umsetzen, Sole, seine Mutter und Geschwister in eine Familie von Diplomaten aus dem fernen Osten zu verwandeln. Kleider machen bekanntlich Leute in deutschsprachigen Landen – in Frankreich gilt hingegen das Gegenteil, nämlich dass das Kleid den Mönch nicht ausmacht: „L‘habit ne fait pas le moine“. Maria konnte Sole und seine Angehörigen dazu überreden, sich einer Vortäuschung durch ein vestimentäres „trompe-l‘oeil“, dem Trugbild der Verkleidung, zu bedienen, indem sie beide Bedeutungen dieser Sprichwörter geschickt als Argument verwendete: Die Verkleidung soll die Zugehörigkeit zur herrschenden Menschengruppe vortäuschen, ohne zugleich über die Zugehörigkeit zum eigenen unterdrückten Volk hinweg zu täuschen. Es ging schlussendlich darum, nicht nur zu überleben, sondern bei diesem Streben sich selbst zu bleiben. Sole konnte sich keine bessere Lösung ausdenken, weshalb er schliesslich ohne weiteres Zögern einwilligte. Maria wusste diese Einstellung gebührend zu schätzen. Dank diesem freien Ausstausch von Gedanken über sich selbst und die Welt, Leben und Tod, Liebe und Hass wurde beiden bewusst, dass es kein Gefälle der Wertvorstellungen aufgrund der unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeit zwischen ihnen geben dürfe, sollte ihre Liebe über eine blosse Liebschaft hinweg Bestand gedeihen. Der Weg war nun geistig aufgezeigt, das Ziel gefühlsbedingt gesetzt.

So ganz nebenbei kam Maria auch zu der Erkenntnis, dass Geist und Gefühl in der Art Beziehung zu Sole, die ihr vorschwebte, untrennbar miteinander verwoben waren. Was ursprünglich einer rein körperlichen Anziehungskraft zu verdanken war, verwandelte sich nun in ein höchst komplexes Geflecht, in eine Lebenserfahrung mit vielverzweigten Auswirkungen auf ihr Dasein als Frau. Sie hatte derlei zuvor noch nie erlebt, waren doch ihre Männer stets gesellschaftlich potent sowie sexuell schlapp. Sie kam zum Schluss, nach dem Motto "mehr ist mehr", dass Sole diese gesellschaftliche Steifheit erlangen müsse, um im Geschlechtsverkehr Überpotenz zu erlangen, wobei Gefühl und Geist dazu Mittel und zugleich Zweck sein würden. Das Geschlechtsleben bestimmt das Leben in der Gesellschaft, eine Weisheit, die Maria nun mit Sole in eine Wirklichkeit umsetzte, die in späteren Jahren ihre vita contemplativa bis zur Todesstunde bereichern würde – das aktive Leben gestaltet das zu betrachtende, denn die Betrachtung benötigt offensichtlich einen zu betrachtenden Gegenstand. Wenn dieser Gegenstand das eigene Leben ist, wird Ding und Mensch zu einer Ganzheit, wobei die Betrachtung den Genuss vermittelt, die unendliche Vielfalt dieser Ganzheit vermeintlich ans Licht zu führen. Goethes letztes Wort auf dem Sterbebett, „mehr Licht“, beweist die Richtigkeit dieser Annahme, so Marias Glaube fortan. Der Liebesakt als Gegenstand der Betrachtung kann die unmittelbare Einheit des Empfindens in tausend nachträgliche Wahrnehmungen zerstückeln und aufgliedern – Gedanken und Gefühle sind unendlich, jedoch sterblich. Marias Wille und Wahn als Frau bestand darin, Soles volle Geisteskraft als Mann zu gebären. Dieses Vorhaben bedingte, dass Maria und Sole losgelöst von jeglicher Gruppenzugehörigkeit, von jeglicher Fessel an irgend eine menschliche Gemeinschaft, uneingeschränkt als Individuen ihre Paarung vollziehen konnten, so wie Romeo und Julia alle Familienbande sprengten, um zurück ins Reich der Tiere und Pflanzen zu gelangen, wo es keine Kriege gibt, weil sich keine Gruppen bilden, die als solche zu eigenständigen Wesen werden und als solche sich bekämpfen, weil ihre Führungsschichten – stets aus Eigennutz – zwischen Freund und Feind unterscheiden. Der Mensch ist ein geselliges Tier, so sinngemäss ein denkender Altgrieche und das macht sowohl den Reichtum der Menschheit als auch deren Selbstzerstörung aus. Kein Tier und keine Pflanze und erst recht kein Wasser und kein Stein führen Kriege, weil sie sich nicht zusammentun wollen, um ein neues Lebewesen zu erschaffen - die Gemeinschaft, die Ähnliches verehrt und vermehrt und Unähnliches als fremd verpönt und vermindert und somit Ungleichheit durch Gleichheit schöpft.

Wie es dem Wanderer Jean-Jacques Rousseau in seinen Träumereien offenbart wurde, sind Individuen sterblich, nicht aber kollektive Körper: „Die gleichen Leidenschaften werden dort verewigt, und ihr brennender Hass, unsterblich wie der Dämon, der ihn inspiriert, hat immer das gleiche Getue.“ Die Menschengruppe lebt, gedeiht und verdirbt über Generationen hinweg, während dem Einzelmenschen nur ein einziges, kurzes und vergängliches Leben gegönnt ist.

Doktor Viktor Frankenstein hat die Menschheit gerettet, indem er seiner eigenen Kreatur die Gründung einer Familie verweigerte, die als Zelle einer neuen künstlichen Menschengruppe den Ursprung des Verderbens für alle mit Vernunft begabten Lebewesen bedeutet hätte. Mit dem Bombenfall über Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945 würde das Endspiel für die Menschheit eingeläutet werden. Je grösser die Treue der Mutter, des Vaters und des Kindes zu den Familien der Grosseltern, die sich zur eigenen Familie zusammengeschmolzen haben, desto stärker und eigenständiger der Stamm und desto wuchtiger die Auseinandersetzung mit anderen Stämmen, ob friedlich oder feindlich, bis dass der Tod sie zusammenbringt. Die Loyalität des Individuums zur Gruppe zersetzt die Masse und führt schlussendlich zum Selbstmord mittels Mord am Ebenbürtigen – die Götter grölen sich den Buckel rauf und runter ob der Götzenverehrung durch Sippe, Stamm, Dorf, Stadt, Region, Nation und Imperium. Rousseau hat den „contrat social“ als Willensband zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft erträumt, als er in seinen Wanderungen entdeckte, dass Körperschaften unsterbliche Dämonen sind, die das kurzlebige Individuum verzerren. „La guerre fait l‘Homme et l‘Homme fait la paix“ - Krieg macht Menschen und Menschen machen Frieden, aus dem wiederum ein neuer Krieg keimen wird. Die Familie als Urgruppe besteht sowohl beim Menschen als auch beim Tier. Letzeres bleibt indes der Familie verhaftet, denn es wird sich nicht zu grösseren Verbänden zusammentun. Der Mensch hingegen vermag das Familienband zu überwinden und sich stets grössere Verbänden einzugliedern, ein kleiner Sprung von der Familie über die Sippe und dem Stamm zum Bund mit anderen Banden und schliesslich der grosse Sprung zum Bund der Bünde, der Nation, die sodann gleichartige Sprünge vollzieht von der Religion über das Imperium zur Zivilisation. Von der Allianz zwischen Nachbarn „einer für alle, alle für jeden“ zur weltumspannenden Cosmopolis – nicht nur die Bergleute von Uri, Schwyz und Unterwalden dank ihrem Pakt von 1291 mythischer Bedeutung, sondern für alle Völker auf Erden. Durch Blut, Boden und Glauben vereint in der Überzeugung ihrer jeweiligen Überlegenheit und durch diese Überzeugung zu Feinden untereinander gezeichnet und verdammt. Tiere können keine Kriege führen, denn sie verfügen über keine Körperschaft über den blossen Familienverbund hinweg, der nach der Geburt kaum Bestand hat. Kriege machen Menschen, sobald sich Familien zusammentun, die keine Verwandschaft mehr verbindet.

Es gibt in Europa ein einziges Volk, das mit keinem anderen Volk je einen Pakt geschlossen hat, nie dem Spiel der Allianzen verfallen ist, keinen Teil seiner Eigenständigkeit für gegenseitige Unterstützung aufgegeben hat. Ein einziges Volk, das von allen anderen Völkern auf dem seit Jahrtausenden blutrünstigsten Kontinent der Erde bis heute als aussätzig gebrandmarkt wird. Ein Volk ohne Land, oftmals ohne Eigentum, ständig ohne Führung, ohne Schutz, ohne Macht, ohne Reichtum, ohne Beliebtheit. Ein Volk ohne Buch. Ein freies Volk, vogelfrei, dem andere Völker keine Zugeständnisse machen, das gegenüber anderen Völkern kompromisslos sich selbst ist. Maria wurde von Soles Volk buchstäblich vereinnahmt – und dies in Zeiten des völkischen Aberglaubens, als Braun das deutsche Volk zur Farblosigkeit bekehrte, zu Mitläufern oder Totgeschwiegenen. Etliche Lesben und Schwule im Freundeskreis von Maria waren bereits lautlos verschwunden, entweder im Exil oder von einer Brücke gesprungen. Schwachsinnige und Linke wurden mehr oder minder diskret ermordet und die Geschichte der Juden Europas ist ja wohlbekannt. „La guerre fait l’homme et l’homme fait la paix.“ - Zigeuner haben keinen einzigen Krieg in ihrer gesamten Geschichte geführt. Sind sie deswegen keine Menschen? - Wer keinen Krieg führt, kann keinen Frieden schliessen. Zigeuner haben niemals Frieden in ihrer gesamten Geschichte geschlossen, keinen kriegslosen Zustand herbeigeführt, der Grund für einen neuen Krieg hätte werden können. Tiere führen keine Kriege, eine Tatsache, die sie von Menschen unterscheidet. Tiere handeln als Einzelwesen genauso wie Pflanzen. Es gibt bei ihnen keine gestaltete Masse, keine Gruppe mit Arbeitsteilung, Hierarchie und Führung, kein Kollektiv, das gemeinsam grössten Schaden anrichten kann, höchstens da und dort ein Rudel, wobei dessen Organisation auf ein Minimum beschränkt und kurzer Dauer ist. Tiere haben keine Feinde. Sie verteidigen sich, kämpfen oder fliehen stets im Duell wie Ehrenleute. Sie verbergen sich nicht wie Feldherren feige hinter einer Armee, hinter Waffen, hinter Befehlen, hinter dem Blut der anderen. Tiere setzen im Spiel um Leben und Verderben ihr eigenes Blut ein, genauso wie der Soldat an der vordersten Front, jedoch auf ureigenes Geheiss, ohne Abstimmung, ohne Vervielfältigung und Ausgliederung, ohne die Hebelwirkung der Vernichtungskraft durch die Gemeinschaft und die von ihr erzeugten Werkzeuge. Tiere kennen keinen Führer, sie leben ohne gemeinsames Haupt, ohne Befehlskette, jedes Lebewesen sein eigener Herr und Diener. Keine Vermehrung von Körper und Geist. Keine Übertragung der eigenen Seele auf eine künstlich beseelte Körperschaft ausserhalb des eigenen Körpers, nichts Gutes, nichts Schlechtes, das der eigenen und ausschliesslichen Beurteilung und Verfügung entgeht. Tiere übertragen keiner fremden Körperschaft ihre Persönlichkeit, keiner Familie, keinem Stamm, keinem Dorf, keiner Stadt, keinem Land, keiner Nation, keinem Volk, keinem Reich, keiner Glaubensgemeinschaft, keiner Zivilisation, keinem Diktator, keinem Oligarchen, keiner demokratischen Mehrheit, keinem gemeinsamen Vertreter die ureigene Befugnis, über Gut und Schlecht zu urteilen und zu verfügen. Tiere verweigern ihre Mitgliedschaft jeglicher Schicksals- und Willensgemeinschaft, sie verweigern sich der Unsterblichkeit der Dämonen, die den Mensch kollektiv bestimmen und ihn seit dem allerersten Wort in Knechtschaft halten. Maria kam zu dem Schluss, frei nach Vattel, dass Zigeuner beinahe Vollkommenheit erreicht haben, indem sie weder Krieg führen noch Frieden schliessen. Das Wort macht den Menschen zum Übermenschen, das Individuum zur Gruppe – ohne Wort kein Gruppenspiel. Maria kam zur Erkenntnis, dass Zigeuner das Wort im Buch verweigerten, um keine Kreatur zu erschaffen, die zum Monster werden könnte. Zigeuner haben sich über die Grossfamilie hinweg jeglicher Gruppenbildung entzogen, sie leben in einem Mikrokosmos und verweigern Gleichschaltung, weil sie Menschen bleiben wollen.

Wie lebt man sauber auf der Strasse, wenn man unter einer Brücke übernachtet und nur das übelriechende Wasser des Flusses benutzen darf, um Körper und Kleider zu reinigen, weil der Zugang zum Brunnen einem verwehrt bleibt? - Man lernt schnell, im Dreck zu leben. Im Mittelalter konnten sich nur die wenigsten täglich waschen. Heute gehören die Dreckigen in reichen Ländern zur Minderheit. Dreck bedeutet Immunität wie die Krone Souveränität. Dreck gewährt Sonderrecht. Wer sauber ist, verfügt über Ordnung, die Grundlage eines Gebildes, das die Menschen in Bezug auf eine gemeinsame Sache hörig macht. Ohne Ordnung kann keine gemeinsame Sache gedeihen. Maria wurde bewusst, dass Sauberkeit den ersten Schritt in Richtung Weltuntergang darstellt. Was mit dem Drang nach Sauberkeit beginnt, endet im Reinheitswahn, was die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert bis zur Vollkommenheit belegen würde. Damit Sauberkeit verwirklicht wird, braucht es Ordnung. Ordnung verlangt Arbeitsteilung. Arbeitsteilung führt zu einem Haupt und zu seinen Untertanen. Ersteres führt Letztere in den Krieg gegen den Nachbarn, der sich ebenfalls in Haupt und Untertanen geordnet hat. Je mehr Untertanen einem Haupt folgen, desto grösser die Zerstörungsgewalt des Hauptes. In der Tier- und Pflanzenwelt gibt es weder Häupter noch Untertanen. Unter Tieren und Pflanzen gibt es keinen Stalin, keinen Hitler, keinen Mussolini, keinen Mao, keinen Papst, keinen Cäsar, kein Volk und keinen Völkermord. Am Anfang sei das Wort gewesen, so eine heilige Schrift. Am Anfang war Sauberkeit, so die Wahrheit über die Menschwerdung und deren Untergang. Ordnung benötigt das Wort und die Sauberkeit, um aus dem Chaos ursprünglich zu entstehen, über Chaos hinweg zu gedeihen und in Chaos schliesslich wiederzu versinken. Maria wurde den Anfang, das Dasein und das Ende der Menschheit durch ihre Begegnung mit Sole offenbart – eine höchst seltene Einsicht für ein mit Vernunft beseeltes Lebewesen auf unserem Erdball.

Alle Mitglieder einer Gruppe unterstehen den gleichen Rechten und Pflichten. Rechte und Pflichten sind menschliche Ausdrucksformen, welche die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmen und zugleich durch diese bestimmt werden. Anarchie kennt weder Pflichten noch Rechte und zersetzt daher jede Körperschaft.

Am Anfang war das Recht und die Pflicht, was Vertrauen schuf zwischen Eva in der Höhle und Adam auf der Jagd: Du bringst die Nahrung und ich sorge für das Feuer, so werden wir und unsere Kinder leben und gedeihen, sagte Eva und Adam stimmte zu. Die Mutterschaft ist immer sicher, die Vaterschaft bis anhin nie, während Jahrtausenden ein Gegensatz, den Recht und Pflicht zu überbrücken hatten und der erst ganz kürzlich in der Geschichte der Menschheit dank angewandter Wissenschaft überwunden wurde. Mit dem Kind entsteht aus zwei Einzelmenschen eine Gruppe, und ein Dialog wird zu einem Gespräch zwischen drei, vier, fünf usw. Einzelmenschen. Die einen vereinen sich gegen die anderen, was voraussetzt, dass Adam und Eva nicht mehr allein vor dem Apfelbaum stehen. Es ist nicht die verbotene Frucht, welche die Menschheit von der Tier- und Pflanzenwelt abhob, nicht der Apfel, sondern die Freiheit, für den einen oder anderen Menschen Partei zu ergreifen, zwei-gegen-einen zu spielen, eine Gruppe zu bilden, zusammen gegen andere - einer gegen alle, alle gegen einen - zugleich Verachtung und Verehrung des Bündnisses im Naturzustand.

Es ist die Gewissheit der Mutter und die Ungewissheit des Jägers, die den ersten Vertrag begründet haben, die Urrechte und -pflichten. Mit der Menschengruppe durch das Kind und das Kindeskind wird das zweiseitige Verhältnis zu einem fest verwobenen Geflecht. Rechte und Pflichten sowie Vertrauen werden zu Gebot und Glauben, zum Gesetz und zu deren blinder Huldigung. Doch dies genügte der Menschheit nicht, weshalb sie Unwissen über das Ungewisse mit Wissensaneignung zu überbrücken suchte. So entstand das Streben nach Wissen und damit verbunden die nicht mehr zu stillende Geilheit nach Macht und Reichtum und Beliebtheit. Um Zeit und Raum zu überbrücken entstand das geschriebene Wort, die Festsetzung der Beziehung zwischen dem Ding und dem Sinn, die Offenbarung des Gedächtnisses, die Grundlage für weitere Grundlagen, das Bett zur unendlichen Vermehrung des Wissens und der Gefühle, das Band, das alle Menschen miteinander verknüpft. Gibt es eine Sprache, die weniger schön, weniger nüztlich, weniger edel ist als eine andere? Gibt es eine Hierarchie zwischen den Sprachen? Oder bloss einen Glauben, die erlesene Sprache zu beherrschen? Die Überwindung der Verzettelung der Sprachen mittels Krieg und Handel, die Beliebtheit einer Sprache herbeiführen durch Siegeszüge des Geistes und der Seele, durch das Schwert, durch Liebeslieder, Gottesbücher, Unterhaltung und Wissenschaft, durch Theorie und Praxis, losgelöst oder bodenständig, verschlüsselt oder offensichtlich, wahr oder verlogen, eindeutig, mehrdeutig oder vieldeutig, gleichgültig, schön oder verstümmelt, Mittel und Ziel, Gabe und Aneignung, sie zur gemeinsamen Sprache erküren, vom Dialekt über die Landessprache zum Wort eines Reiches, einer Religion, einer Kultur, vom ersten Schrei eines Neugeborenen zum allerletzten Seufzer, der Menschheits Wertschöpfung über stummen Lärm und laute Sinnlosigkeit, von der Körpersprache über die Zeichensprache zum Alphabet und die Zahlenwelt. Stummer Lärm und laute Sinnlosigkeit, Einzelmensch und Menschengruppe. Das Wort schöpft und zerstört Macht und Reichtum und Beliebtheit und umgekehrt – ein Teufelskreis oder Menschlichkeit im Kreis der Menschheit über alle Generationen hinweg vom ersten bis zum allerletzten Menschen? Dreht sich die Sonne um die Erde oder umgekehrt? - Glaube oder Wissen, nach wie vor ungewiss, jetzt wie in der Steinzeit. Ich weiss es nicht, ich kann nur glauben und glauben genügt mir nicht, weshalb ich meinem Verstand, meinem Gefühl, meinen Sinnen Glauben schenke - Vernunft des Glaubens: la foi fait loi. Die Mutter und der Jäger suchen und finden Worte, um das Ungewisse zu bezwingen, indem sie gegenseitig Rechte und Pflichten festsetzen, deren Bruch noch keine Strafe bewirkt. Noch nicht. Das Kind erzeugt die Dreifaltigkeit und somit die erste Menschengruppe im Ansatz, somit Sinn für Dinge der Natur, deren Nachahmung und Verwandlung sowie deren Einvernahme durch das Gesetz. Es folgt der Zwang der Gruppe gegenüber dem Einzelnen, der ein Recht oder eine Pflicht verletzt. Der Vollzug der Strafe als allererster Akt der Kunst. Die Mutter und der Jäger geraten somit in den Schutz der Gemeinschaft aller Jäger und Mütter, ein Tanz eines jeden Einzelnen auf einem Seil über der Masse in der Schwebe, solange er im Gleichgewicht bleibt. Durch die Taufe verliert der Einzelmensch seine Einzelmenschlichkeit und wird eins mit der Menschengruppe, womit er seine Vielfalt preisgibt. Die grössere Menschengruppe erzeugt kleinere Menschengruppen in sich, die den Krieg erfinden. Damit werden kleinere Menschengruppen zu grossen und dadurch siegt Einfalt über Vielfalt. Die Gruppe der Jäger obsiegt über die Mütter und erhebt sich zu Soldaten, Händlern und Priestern, manchmal zu Denkern oder Künstlern. Die Mutter bleibt am Feuer in der Höhle oder wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wenn sie den Herd verlässt, gebrandmarkt als Hexe.

TRAVULY

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