Читать книгу TRAVULY - Chris DEJUSIS - Страница 5

Ludovico

Оглавление

2003

Dieses Gesicht.

Diese Augen und das lange Haar, sanft in dunklen Wasserfarben, frei wie ein wilder Bergbach. Halb im Schärfebereich meines Blickes, halb unscharf, völlig losgelöst.

Diese Lippen, bestimmt, mit Bleistift fein gezeichnet, grau glänzend. Bleiche Sonne nach dem Sturm, feucht leuchtend, zart, schrill, einsam und doch irgendwie allumfassend.

Sie lächelt mir zu, gibt mir das Flugblatt und verschwindet in der Menge in Wut.

La terre à l'envers est ma boule,

maboule,

ma boule,

maboule!

Die Anziehungskraft der Erde wurde mir entzogen, da sitze ich nun, schwerelos, gedankenfrei im Fahrzeug, lese die Zeilen, im stummen Lärm draussen. Versuche zu verstehen, Gedanken im Chaos ein wenig zu ordnen. Der Blick des Fahrers im Rückspiegel, geduldig mir zugewandt, wohlwollend:

- Wohin, Monsieur? Es brennt, die Stadt...

Ich, zurück zu einem Schimmer Wirklichkeit:

- Zur Universität, Hauptgebäude, bitte.

Der Fahrer startet den Zähler ob dem Armaturenbrett und die Uhr beginnt zu ticken, in Schweizer Franken und Rappen, präzise im Takt, hastig. Kaum langsamer als mein Herz, das klopft, viel zu schnell. Ich fühle meinen Puls, reflexartig, sinnlos, denn die lebenswichtige Pumpe kann jederzeit versagen, das weiss ich, damit lebe ich bereits seit etlichen Jahren.

Der Fahrer warnt mich:

- Nur auf Umwegen, die Hauptstrasse ist abgeriegelt, die Innenstadtvöllig verstopft...

Ich nicke ihm zu:

- Dann halt auf Umwegen.

Der Motor springt an, dumpf, im Geschrei der Menge, die unweit von uns zunehmend in Gewalt ausbricht, mal fröhlich, mal verzweifelt, mal mit einem Willen, mal mit tausend.

- Warten Sie...

Ich greife zum kleinen, alten Koffer neben mir auf der Sitzbank, suche nach Münzen, um es dem Fahrer als Trinkgeld zu geben, finde in meiner Manteltasche aber nur das alte Glöcklein, mein einziger Schatz. Ich bemerke erst jetzt, dass ich vergessen habe, nach der Landung lokale Währung zu kaufen. Der Plastik der Kreditkarte kann Kleingeld nicht ersetzen. Peinliche Lage, in der ich mich nun befinde. Blitzartig der Vorwand, der keiner ist, unwahr, mir aber einen neuen Antrieb gibt, doch an Ort und Stellen zu bleiben:

- Ich habe meine Brieftasche im Café vergessen...

Der Fahrer steigt aus dem Taxi, öffnet mir höflich die Türe und ich überlasse meinen Platz einem Liebespaar, das es eilig hat, den Herd der Wut zu entfliehen.

Die Innenstadt gleicht einem Holzbaukasten, Spielklötze überall wo der Blick reicht: Beinahe alle Schaufester und sonstwie Zerbrechliches sind mit massiven, gelblich lackierten Bretterwänden bruchsicher vernagelt. Krawall fördert die Holzindustrie auf Kosten des Glasgewerbes, wohl ein Diktat der Versicherungsbranche – alles scheint in meiner verlorenen Heimat verknüpft zu sein, nach wie vor, heute wie anno dazumal. Da wird gegen das Protzen der Mächtigen ein wenig “Faustrecht der Freiheit” ausgeübt und sogleich stossen allerlei gierig geile Profiteure aus dem Boden wie Pilze im Wald nach einem deftigen Frühlingsregen. Globalisierung ist ein rentables Geschäft, wenn man weiss, wie es zu praktizieren ist – eine andere Binsenwahrheit.

Der Krawall hat sich verlagert, der Platz vor dem Bahnhof ist nun beinahe stumm und leer. Ich folge dem dumpfer werdenden Lärm, kann indes kaum mehr Schritt halten mit meinen bald sechsundneunzig Jahren. Die Stadt ist an einem Hügel gebaut, sie hängt, Häuser in barockem Stil Weintrauben gleich, blasse Perlen mit purpurn Locken zur Nachmittagssonne über dem See gerichtet.

Sollte die Pumpe mich nun im Stich lassen, nach dem Nachtflug um den halben Erdball, so werde ich hier zu Staub verfallen, in meinem Heimatland, das ich über ein halbes Jahrhundert nicht mehr besucht habe. Wohl kaum, schwebe ich doch beinahe in der kühlen Frühlingsluft, ich nehme ein Bad in einem Jugendbrunnen, ich habe noch eine Ewigkeit zu leben. Jedenfalls noch genügend Zeit, um das Gesicht wieder zu finden, so mein fester, inniger Glaube jetzt und in alle Ewigkeit.

Langsam spaziere ich stadtaufwärts, vorsichtig die Pflastersteine mit meinem Stock aus Tropenholz pau-brasil abtastend. Das Viertel scheint nun völlig leer zu sein, wie eine Geisterstadt. Mein Köfferchen scheint mir allmählich an Leichtigkeit einzubüssen, obwohl ich nur ein einziges Buch darin verpackt habe, Voyage au bout de la nuit, und sonst nichts ausser einer Seife aus Olivenöl, das Rasiermesser und frische Wäsche für einen einzigen Tag und eine einzige Nacht: Eine Unterhose, ein T-Shirt, ein Paar Socken, ein Hemd, eine Hose und Hosenträger.

Ich habe vor, ein wenig Shopping zu machen - Kathy's Ausdruck, wenn sie mich für ein Wochenende aus Rio nach Sao Paulo locken wollte. "Um ein Andenken heim zu nehmen, das mir bis zum letzten Atemzug verbleiben wird". Hier und morgen meine kleine Plastikkarte leeren, um mich mit Lederschuhen, Hut und Seidenanzug einzukleiden, vielleicht in Milano, nach dem alumni Treffen.

Seitwärts befindet sich eine alte Steintreppe, die mich dazu einlädt, an ihrem Fusse hinzusetzen, damit ich mir eine wohlverdiente Pause gönnen kann, was ich nicht ausschlage.

Werde ich das Gesicht, das mich den Berg hinauf führt, mich alter Esel, werde ich es noch einmal erblicken? Vielleicht ein Enkelkind, ein Grosskind, das Kind des Kindes, vielleicht eine Wiedergeburt der Urgrossmutter, Reinkarnation? Vielleicht habe ich nur schlecht gesehen, mir kurzsichtig ohne Brille was eingebildet? Meine Wanderung in den Rachen des Vulkans inmitten der kleinen Stadt, der die vergängliche Wut der Welt in den Himmel spuckt, macht keinen Sinn. Wie soll ich das Gesicht unter tausend Gesichtern wieder finden? Nicht das erste Mal, dass ich ein Ziel verfolge, das mittels Vernunft kaum erreichbar ist.

Die Stadt hat sich verändert in all den Jahren. Neue Bauten, Strassenzüge, das öffentliche Verkehrswesen – nun gibt es sogar eine Art Untergrundbahn, die sich stolz Metro nennt und den Hügel auf und ab kriecht, automatisch, führerlos. Das Alte erscheint frisch herausgeputzt, das Neue steril, Reklame beherrscht das Feld, zügelloser Konsum lautet das Diktat der Stunde, in schrillen Schriften auf allen Mauern: “Kaufe!” Eine Mauer, ein goldener Käfig, eine Welt, die ich bald einmal verlassen werde, zweifellos aus Altersschwäche, wegen einer Lungenentzündung oder einem Beckenbruch, der nicht mehr heilen will, weil die Pumpe nicht mehr kann, nicht mehr will. Wer weiss. Ich fühle mich kerngesund, stark, lebenslustig. Ich schwebe beinahe ein Jahrhundert auf diesem Ball, meerblaue Erdkugel im Nichts des Alls, Tanzfläche für die einen, Folterkeller für die anderen, ein kurzer oder langer Aufenthalt als Lebewesen, das sich füttert, liebt und hasst, sich vermehrt immer wieder, irgendwas fühlt und irgendwie denkt. Mit einem Körper, der wächst und verfällt. Mit schönen Träumen, die beglücken, solange sie als Träume bestehen, und enttäuschen, wenn sie sich nicht mehr erfüllen lassen, wenn Wirklichkeit sie zerbricht. Mit Vernunft, die gedeiht, solange der Mensch Mensch ist, und vergeht, weil auch der Geist vergänglich ist, das Gedächtnis nicht mehr mitspielt, der Schwamm im Schädel sich in Leere auflöst, unweigerlich. Mit Lust, die einen antreibt, neues Leben einzuhauchen, steif auf feucht, oder zum Selbstzweck genossen wird, bis der Trieb einen verlässt, schlapp auf trocken. Staub zu Staub.

1930

Einfach kurz in die Augen gucken, leicht lächeln und die gedruckten Schlagwörter rasch und diskret aushändigen. Das Volk soll es Lesen, unser Flugblatt. Ich trage erst zum zweiten Mal den eleganten, lässigen Anzug samt Seidenhemd und Krawatte. Den hatte ich mir für die Hochzeit meiner Tante Maria geleistet, teilweise aus älteren Ersparnissen, teilweise aus dem Lohn, den ich beim Gericht als stenographische Aushilfekraft im letzten Jahr abverdient habe. Stenographie, heute ein Ding aus der Steinzeit, damals ein guter Broterwerb für hungrige Studenten. Ein Nebenverdienst, mit dem ich mir, nebst der massgeschneiderten Kleidung, während meinem Medizinstudium hin und wieder auch ein Biergelage mit Freunden am Wochenende gegönnt hatte, nach dem Badeplausch im See. Das Übel der Welt in Schnellschrift zusammenfassen ist bei hitzigen Verhandlungen ein Hochleistungssport. Alles muss rasch auf Papier, die kleine Maschine klickt unter meinen Fingern, im schnellen Takt tippe ich leicht und zielgenau auf die schlanke Tastatur, fast wie ein Morsegerät, eine weitere Antiquität, die man heute nur noch in Museen findet. All das vergängliche Gezänke mittels drei Tasten verewigt, all die Geschichten, die ich in all den Gerichtsverhandlungen hörte, ohne sie geistig oder auch nur seelisch im Moment der Niederschrift erfassen zu können. In Wirklichkeit erlebte Komödien, Tragödien, Dramen, die Dichtung zu sein scheinen: Mord, Ehebruch, Diebstahl, Vergewaltigung, Entmündigung, Erbschaftstreitigkeiten, Vertragsverletzungen, Verleumdung, Haftung wegen Verkehrsunfall, verursacht im angetrunkenen Zustand usw. Es gab keine Zeit nachzudenken oder mitzufühlen, das Protokoll musste wortgetreu sein, behauptete Tatsachen in ihrer reinen Tatsächlichkeit wiedergeben, was immer das bedeuten mochte, sonst nichts, Rohstoff für Rechtsfindung festhalten: Ich nehme wahr und der Richter bewertet, ein Teilchen in der Mechanik zur staatsgenehmen Ordnung, ein Bruchstück im Streben nach menschlicher Gerechtigkeit, sonst nichts.

Mein Kopf war vollgestopft mit Anatomiebegriffen, die ich jeweils mindestens bis und mit Prüfungstag im Gedächtnis zu bewahren versuchte. Memorisieren erfordert Disziplin, eine Kastration des Gehirns, zugleich aber auch dessen Befruchtung, so der geläufige Glaube. Rechtliche Erörterungen hatten daher wenig Zugang zum Denkorgan, wohl aus Platzmangel in meinem Schädel. Es erschien mir somit stets wie eine unverständliche Predigt, wenn der Richter sein Urteil verkündete, schlichtweg ein Rätsel ohne Lösung, ein Orakel in fremder Sprache, ein Regentanz. Die Begründung des Urteils folgte sodann jeweils wenige Tage oder Wochen später schriftlich, aus der Feder eines Juristen, und wurde den Parteien jeweils per Post zugestellt. Mir aber nicht. Manchmal gab es eine Berichterstattung in der lokalen Zeitung, meist beschränkt auf publikumswirksame Sentenzen über Verbrechen, wobei auch hier das Augenmerk auf dem Sachverhalt und dem Strafmass haften blieb und diese keine Aufklärung boten, was beispielsweise Zurechnungsfähigkeit, mildernde Umstände und dolus eventualis bei Raubmord oder Betrug und ähnliches Juristenlatein bedeuteten. Während ich mich im Studium zunehmend mit den Einzelheiten über Wirkungsweisen und Krankheiten des Brustkorbes, Oberschenkelknochens sowie allerlei anderer Körperteile vertraut machte, entglitt mir mehr und mehr jegliches Gerechtigkeitsverständnis im Gerichtsaal. Rechtspflege war nicht mein Ding, jedenfalls nicht als Ritual, mir ging es um die Heilkunst als edles Handwerk. Jenes würde ich mein Leben lang leidenschaftlich hegen. Eine Welt ohne Anwälte, Richter, Gefängniswächter und Henker konnte ich mir sehr wohl vorstellen, jedoch keine Welt ohne Lebensretter.

Anarchie war für mich damals eine mögliche Utopie, vor allem dann, wenn die Mehrheit der Minderheit krasses Unrecht als schillerndes Recht aufzwang, was immer diese Begriffe in Tat und Wahrheit beinhalten mögen, ob Siegerjustiz oder sonstige Gerechtigkeit des Stärkeren. In jener Epoche tauchten in gesellschaftskritischen Studentenkreisen hier und dort erste Gerüchte auf, wonach die neuen Machthaber in Deutschland geistig behinderte und seelisch verletzte Menschen systematisch vernichteten. Es klang schön wissenschaftlich, „eugenische Euthanasie“, altgriechische Fremdwörter für das geheim gehaltene Programm und, auf gut Deutsch, moralisch im Einklang mit einem zunehmend mehrheitsfähigen Ideal der Zeit: Sterbehilfe zwecks Rassenreinheit. Mit Gas sei getestet worden, saubere Sache, gründlich und effizient, sogar geradezu menschlich, Volkshygiene fürs Volkswohl. Wer als Melancholiker oder Idiot auf die Welt kam, sollte zukünftig diese unverzüglich wieder verlassen, ohne den Gesunden zur Bürde zu werden. Es gäbe keinen Platz für intellektuell oder psychisch Mangelhaftes. Dies stünde der so genannten „natürlichen Zuchtwahl“ entgegen und würde verhindern, dass sich der Arier als Verkörperung des Stärkeren gegen das Schwächere und als solches unwerte Leben naturgemäss durchsetze, so die Begründung der regimetreuen Wissenschaftler. Heute lässt sich dieses Recht des Mächtigen gegenüber dem Machtlosen ohne allmächtigen Staatszwang, privat und diskret bereits im Mutterleibe, also bereits vor Geburt ausüben, angeblich im allgemeinen Interesse sowohl der normalen als auch der anormalen Lebewesen auf Erden – Normalität bleibt die Norm normaler Menschen.

1967

Wie viele Schwangerschaftsabbrüche habe ich als Arzt in Brasilien vollstreckt? Stets illegal, ob unter Diktatur oder unter Demokratie. Es war eine nicht geringe Geldquelle für manche Kollegen. Ich bin stolz, dass ich nie einen Centavos dafür verlangt habe, lediglich absolutes Stillschweigen über die Tat im Tausch für mein Handeln. Nicht so sehr aus Furcht vor der Staatsgewalt, die konnte man leicht mittels propina, Schmiergeld, in Schranken halten, sondern um keinen Andrang neuer Anwärterinnen zu bewirken: Ich war Kinderarzt, nicht Frauenarzt und hatte nicht die geringste Lust, meine Spezialität aufgrund der Nachfrage auf diesem Schwarzmarkt zu ändern. Es ging mir lediglich darum, Elend und nicht selten Tod durch Pfuscherei entgegenzuwirken, ohne dabei auf irgendwelche Normalität zu achten, weder auf diejenige des Fötus noch dessen Erzeuger. Die kleine Schwester einer Freundin von Kathy, kaum 16 Jahre alt, hatte sich der Nadel einer Engelsmacherin hergegeben. Einsam im Alleingang und ohne es zu überleben. Ausgerechnet diese Kindfrau in Kathys Umfeld wusste nichts von meinem Doppelleben als es um ihr eigenes Überleben ging. Sie verblutete bei der Abtreibung, einsam und allein mit der Frucht ihres Leibes, um das Wort zu verwenden, das von der Kanzlei in der Sonntagsmesse jeweils erhalt, Ursprung des Endes, das ihr wiederfuhr. Verhütungsmittel waren in jener Zeit ein Tabu im katholischen Brasilien, zumindest in ausserehelichen Verhältnissen der Mittelklasse. Der Arzt durfte den pubertierenden Töchtern in Gegenwart der Mütter keine Aufklärung geben. In der Regel musste er danach jedoch nicht nur das Amt des Beichtvaters übernehmen, sondern auch den Skandal, von denselben Müttern als schlimmer als der Tod befürchtet, durch Entweihung im Allerheiligsten der Töchter, chirurgisch abwenden. Der Priester, dessen Amtsgewalt das Verbot des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs als unbeugsame Heilslehre Reich und Arm gleichermassen aufzwang, war in diesen Fällen üblicherweise nirgendwo mehr anzutreffen, es sei denn, er galt als verwirrter Häretiker oder, übler noch, als subversiver Befreiungstheologe. Pater Joao, einer dieser seltenen Abtrünnigen, wurde in jenen Jahren, in denen eine unheilige Dreifaltigkeit aus Kirchenfürsten, Militärdiktatoren und Geldoligarchen gemeinsam uneingeschränkte Macht über das Land ausübten und dabei die Reichtümer des Landes und den damit gekauften Glanz gierig zusammenhäufte, zunächst ein Kampfgenosse und sodann ein enger Freund. Es war unsere Pflicht, uns gegen Armut, Ungerechtigkeit und Willkür im eigenen bescheidenen Wirkungskreis aufzulehnen. Jedoch gliechen unsere Bemühungen einem Stein, den wir den Berg hinauf trugen und von dessen Spitze er dann bekanntlich unweigerlich wieder hinunterrollte.

2003

Da stehe ich nun an der Theke des Café de la Gare von Lausanne, ohne die nötige Münze für einen kleinen Ristretto. Der Fernseher flimmert, spuckt grelle Bilder einer Strassenschlacht draussen vor der Tür. Vermummte Gestalten, kaum ein Dutzend, liefern den staatlichen Spezialeinheiten im Kampfanzug just gegenüber dem Bahnhof ein wildes Katz- und Mausspiel. Steine gegen Gummigeschosse, Wasserwerfer gegen Molotowcocktail, Knüppel gegen Eisenstangen, mal schrilles, mal dumpfes Geschrei, Knallkörper, brennende Spruchbänder, Megaphongebrüll da und dort, Panzerwagen in zögernder Drohstellung vor improvisierten Barrikaden. Es brennt im selbstinszenierten Epizentrum des Universums, am Bildschirm nebst der Bierreklame, in der Wirklichkeit auf dem Platz vor dem Café. Eine Bretterwand, zum Schutz der Vitrine kurz vor dem Protestumzug in aller Eile errichtet, trennt die beiden Welten nur dürftig. Der Wirt beisst nervös an seinem Fingernagel, leert seinen Pastis “cul sec”, lässt dabei jegliche Gelassenheit vermissen. Der Gipfel findet am anderen Ufer des Sees statt, friedlich niedlich im französischen Städtchen Evian am Lac Léman. Unberührtes Herz des Chaos, Ursache des Aufruhrs hier: das Gruppentreffen der acht mächtigsten Staatsoberhäupter der Erde – G8 – hermetisch isoliert durch Sicherheitskräfte in Schnellbooten, durch Luftwaffe und Bodentruppen, das ganze Arsenal, um Weltherrschaft abschreckend auszustrahlen, fernab jeglicher Äusserung von Opposition, die sich hier austobt, diesseits des Ufers.

Ich versuche, das Gesicht im Menschengewimmel wieder zu finden, doch die hastigen Bilder aus dem Flimmerkasten beschränken sich auf eine kleine Gruppe von vermummten Gewalttätigen am Rande des Umzugs der friedlich Protestierenden. Der Reporter kommentiert lautlos, denn der Apparat ist auf stumm geschaltet. Seine Stimme wäre ohnehin überflüssig, so wie bei einem beliebigen Fussballspiel...

Ich nehme meinen alten Koffer zur Hand und verlasse das Lokal auf der Suche nach dem Gesicht.

Sollte die Pumpe mich nun im Stich lassen, nach dem Nachtflug um den halben Erdball, so werde ich hier zu Staub zurückkehren, in meinem Heimatland, das ich über ein halbes Jahrhundert nicht mehr besucht habe. Indes wird dies wohl kaum geschehen, schwebe ich doch beinahe in der kühlen Frühlingsluft wie ein Halbgott. Ich fühle mich wie nach einem Bad im Jungbrunnen, ich habe noch eine Ewigkeit zu leben, so meine Einleuchtung. Jedenfalls noch genügend Zeit, um das Gesicht wieder zu finden, so mein fester, inniger Glaube jetzt und in alle Ewigkeit.

Ich heisse Ludovico, Jahrgang 1910. Ich kehre zurück. Ohne Absicht, hier zu sterben.

TRAVULY

Подняться наверх