Читать книгу Die Frau am Strand - Christa Hein - Страница 7

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Sylt im Jahr 1888

Zwischen den Dünen führt ein schmaler Fußweg ans Meer. Darauf geht ein kräftiger junger Mann mit ausgreifenden Schritten voran. Seine weitgeschnittenen Hosen, sein blaues Hemd, das gelbe Halstuch flattern im Wind. Dicht hinter ihm ein Mädchen, schlank und groß, in einem langen roten Rock und einer schwarzen Samtjacke. Ihr volles dunkles Haar ist unter einer Kappe verborgen. Als die beiden den menschenleeren Strand erreichen, dreht der Mann sich nach ihr um und nimmt ihre Hand. Die Brandung schlägt weiß schäumend auf den Sand. Der Mann legt ihr seinen Arm um die Schultern. Schweigend starren sie aufs Meer, als könne von weit draußen plötzlich etwas Unbekanntes auftauchen.

»Genau hier war es, Inken, oder? Die Odde ist die gefährlichste Stelle der Insel. Bevor es um den südlichen Bogen zum Festland geht, ist die Strömung am stärksten. Jedes Jahr wird der Küstenschutz nachgebessert.«

Noch nie hat sie jemandem von dieser furchtbaren Stunde erzählt, von jenem Mittag im Mai vor über zehn Jahren, der ihr noch immer erscheint, als sei es erst gestern gewesen. Aber wem, wenn nicht Brar, soll sie sich anvertrauen. Ganz langsam, fast stammelnd, beginnt sie zu sprechen.

»Ich lief damals mit meiner Schwester Lene über das harte Gras zwischen den Dünen hindurch an den Strand, genau wie wir eben. Wir waren übermütig und ausgelassen. Das lag an dem Besuch unseres Lieblingsonkels, des jüngsten Bruders meiner Mutter. Sein weißblondes Haar stand ihm vom Kopf ab wie die Federn der Möwen im Sturm. Er war nach zwei Jahren auf See aus dem Südpazifik zurück. Seine Seekiste hatte er mitten in unsere Kammer gestellt, sie duftete wunderbar nach Zimt und Koriander. Er hatte Mutter Gewürze mitgebracht und uns Mädchen jedem ein kostbares indisches Tuch. Die eingewebten Goldfäden darin glänzten wie die Bahnen von Sternschnuppen. Wir trauten uns kaum, sie zu berühren. Schließlich falteten wir sie auseinander, hüllten uns darin ein und kamen uns vor wie Maharadschas. Danach wollten wir sie nicht mehr ablegen. Wir dachten, ein Teil von uns müsse verlorengehen. Auch an jenem Tag trugen wir die Tücher. Es war Sturm, das Wasser stand höher als normal. Bevor wir mit dem Muschelsuchen begannen, falteten wir unsere Tücher sorgsam zusammen, legten sie höher auf die Vordünen, wo Wellen und Wind nicht hinkamen, und beschwerten sie mit Steinen. Dann suchten wir nach Muscheln und Seegras, mit dem Mutter unsere Kissen ausstopft, entdeckten plötzlich einen Heuler, vom Meer angespült. Er lebte noch. Sein silbergraues Fell mit den schwarzen Punkten glänzte in der Sonne. Lene lief auf ihn zu. Er war ganz zutraulich und ließ sich sogar von ihr streicheln. Seine dunklen großen Augen hatten es Lene angetan. Sie war entzückt, als er ihr mit seinen kleinen Flossen nachkroch, wenn sie sich nach Muscheln bückte. Sie taufte ihn Boyboy. Als sie versuchte, ihn auf den Arm zu nehmen, entwischte er ihr, schwamm ins tiefere Wasser, tauchte und kam wieder zurück. Wir spielten mit ihm in den auslaufenden Wellen. Plötzlich schwamm er weiter hinaus. Lene lief ihm nach. Ich schrie ihr zu, sie solle sofort umkehren, aber sie hörte nichts. Sie versuchte, ihn einzuholen, doch in der starken Brandung war das unmöglich. Ich lief hinterher, wollte sie zurückholen, aber der weiche Sand gab nach unter meinen Füßen. In diesem Moment sah ich sie kommen: eine besonders große Welle, die sich direkt vor Engellene auftürmte, gar nicht weit von mir. Sie riss meine Schwester um und drückte sie unter Wasser. Als sie endlich wieder auftauchte, war sie schon ein weites Stück hinausgezogen worden. Ich kämpfte mich durch die Brandung, zurück an Land, um Hilfe zu holen. Als ich mich wieder umsah, trieb Engellene bereits weit draußen. Immer noch sehe ich ihr Gesicht, ihre Augen. Sie blickten verwundert, wie die Augen von Boyboy. Man fand ihre Leiche später an einem Strand in Dänemark.«

»Wie alt war sie?«

Die nüchterne Frage Brars lässt Inken die Fassung verlieren. Sie bricht in Tränen aus. »Sieben. Sie war ein Jahr jünger als ich. Oft kommt es mir vor, als sei es gerade erst geschehen.«

»Ich verstehe deine Traurigkeit, aber all das ist über zehn Jahre her, Inken, und du kannst nichts mehr daran ändern. Quäle dich nicht mehr damit. Du musst auch vergessen lernen. Engellene würde es nicht anders wollen. Um ihretwillen musst du lernen, wieder froh in die Zukunft zu sehen.«

»Ich habe mich immer schuldig gefühlt an ihrem Tod. Wie oft habe ich in meinen Gebeten gewünscht, dass ich an ihrer Stelle fortgetrieben wäre. Sie war so fröhlich, so ein hübsches Mädchen.«

»Du hast getan, was du konntest. Ihr wart Kinder. Dich trifft keine Schuld. Das Meer hier ist gefährlich und unberechenbar, unter den anrollenden Wellen zieht unsichtbar eine starke Strömung nach draußen. Keiner kann dagegen ankommen. Auch Männer hätten nichts ausrichten können.«

Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Inken, meine Liebe. Wir wollen uns zusammentun und glücklich werden, wir wollen Kinder haben.«

Inken windet sich aus seiner Umarmung und tritt einen Schritt vor ihn. »Ich warne dich, Brar. Unsere Familie ist mit einem Fluch beladen. Unser Vater kam auf See um, genau wie sein Vater und davor schon dessen Vater. Und dann Engellene. Ich hätte Angst, auf dieser Insel ein Kind zur Welt zu bringen. Ihm scheint das Schicksal doch vorherbestimmt.«

Brar schüttelt sie, um sie aus ihrer Starre zu lösen. »Du hast ja recht. Man nennt unsere Heimat nicht ohne Grund die Inseln der Witwen und Waisen. Was deiner Familie passiert ist, ist doch hundertfach geschehen. Wie viele Grönlandfahrer sind nach monatelanger gefährlicher Reise wohlbehalten zurückgekehrt, um dann hier vor den Inseln, in Sichtweite der Heimat, auf den Sandbänken unterzugehen. Es gibt kaum eine Familie, die nicht von solchem Schicksal erzählen kann.« Es tut ihr gut, Brars Stimme zu hören. »Lass uns von hier fortgehen, Inken. Ich denke schon lange, dies ist nicht der richtige Ort für uns. Ich kann hier nie etwas Größeres werden ohne Grund und Boden, ohne eine gute Ausbildung; meine Arbeit im Gästehaus in Westerland vergangenen Sommer hat mir die Augen geöffnet. Ich war nichts als ein Sklave. Dabei fühle ich mich stark und weiß, dass ich vieles erreichen kann.«

Er zieht sie an sich und dreht sich so, dass Inken in seinen Windschatten kommt. »Der Wind weht aus Westen. Ich spüre ihn im Rücken. Er wird uns nicht abhalten. Wir werden ihm entgegengehen. Nach Amerika. Dort haben wir eine Chance.«

Während er redet, sieht er, wie ihr Blick durch ihn hindurchgeht, als wäre er Luft. »Was ist? Was siehst du mich so seltsam an? Was hast du, Mädchen?«

»An jenem Unglückstag hatte ich furchtbare Angst, nach Haus zu gehen. Angst vor Mutters Vorwürfen. Aber sie blieb erschreckend ruhig. Stumm nahm sie mich in die Arme so wie jetzt du. Ich glaube, sie wusste bereits alles. Man hat mir erzählt, sie habe im Garten Kartoffeln ausgegraben. Plötzlich habe sie den Spaten beiseitegeworfen und sei an den Zaun gelaufen, der in Richtung See liegt. Im nächsten Moment habe sie immer wieder Engellenes Namen gerufen. Es war in den Minuten ihres Todes. Und es war wie damals bei Vater. Wir standen nebeneinander in der Küche, ich schürte das Feuer im Herd, als Mutter plötzlich mitten in der Bewegung innehielt, die Hände nach oben hob und rief: ›John!‹ Mehrmals hintereinander: ›John!‹ Ihr Gesicht war kreideweiß, danach sprach sie mit niemandem. Als eine Weile später der Nachbar an die Tür klopfte, den Hut in der Hand und mit einer fürchterlichen Miene, wusste ich: Vater war tot.«

Brar dreht sich um und hält Inken dabei weiter fest. Dann dreht er auch sie, so dass der Sturm beiden ins Gesicht bläst. Sein Mund an ihrem Ohr ruft er in dem tosenden Lärm: »Inken, das sind Spökenkiekereien. Es nützt nichts, dass du über die Vergangenheit grübelst. Sieh her.« Er hebt seine Hände mit ausgestreckten Zeigefingern. Dann führt er sie nach unten, mit beiden Fingern vor sich auf den Boden weisend: »Das hier ist die Gegenwart! Und das«, er hebt die Hände, bis die Finger zum Horizont zeigen, »das dort ist die Zukunft. Das Einzige, was für uns beide zählt. Weißt du, was die Chinesen sagen? Das Menschenleben ist nur ein Morgenfrost auf den Dachziegeln. Diese kurze Spanne, die man hat, die muss man nutzen! Alles, was man selbst erwirbt, das bleibt einem für immer. Das Gefühl, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, kann einem niemand nehmen, auch wenn die Zeiten sich ändern.«

Sie verlassen den Strand Arm in Arm. In einer windgeschützten Mulde hält Brar an. Die Sonne lässt das harte Dünengras um sie her aufblitzen wie kleine Schwerter, dumpf ist das Brechen der Wellen zu vernehmen. Er zieht Inken nah zu sich heran, sie legt den Kopf in den Nacken, und sie küssen sich leidenschaftlich. »Inken«, flüstert Brar. »Geh mit mir fort.«

Sie erwidert nichts, er löst schließlich seine Umarmung. Noch einmal setzt er an: »Zu was kann ich es hier denn bringen? Kapitän kann ich nie werden als unehelicher Sohn einer armen Mutter. Sie lebte nicht umsonst allein außerhalb von Keitum in einer kleinen Kate, die der Gemeinde gehörte. Ich war ihr ganzes Glück, obwohl sich viele im Dorf das Maul zerrissen haben über uns. Sie ist dennoch in Frieden gestorben. Für mich ist jetzt der Weg frei. Sie braucht nicht mehr zu erleben, dass ich diese Insel verlasse.«

»Und was ist mit mir?«

»Du musst mit mir kommen. Gerade deinetwegen kann ich mich nicht kleiner machen, als ich bin. Du als Allererste würdest mich nicht wollen als Knecht oder Matrose oder Laufbursche für die Badegäste. Ich will meinen eigenen Grund und Boden besitzen. Ich sehe es schon vor mir: Unser Häuschen aus roten Backsteinen mit einem Garten.«

»Ach, Brar, du bist verrückt!« Inken lacht plötzlich wieder. Dann sagt sie: »Auch ich sehe es vor mir. Unser Haus wird viele Fenster haben, durch die die Sonne in die Stube scheint. Ich werde weiße Vorhänge nähen, die das Licht hindurchlassen und alles hell und freundlich machen. Nichts mehr wird an die düstere Kate deiner Mutter erinnern!«

»So gefällst du mir, Inken! Komm!« Er nimmt sie bei der Hand, und sie rennen den Dünenkamm hinab auf die geschützte Seite der Insel.

*

Am Rande des Dorfes steht zur Wattseite hin ein kleines, strohgedecktes Lehmhaus, halb zugewachsen von Holunderbüschen, deren betäubend duftende Blütendolden im Frühjahr ein weiß schäumendes Meer bilden. Jetzt hängen die letzten schwarzen Beeren an den Zweigen, der Wind hat die Blätter fortgefegt. In blauen Lettern steht der Name des Hauses über der Tür: Pydder Lyng. Ein Sandweg führt aus der Dorfmitte hierher, der hinter dem Haus in die Wiesen mündet. An die Südseite schmiegt sich ein kleiner Garten mit krummen Apfelbäumen, auf ordentlichen Beeten steht, säuberlich in geraden Reihen gepflanzt, der Grünkohl und wartet auf den ersten Frost. Auch einen alten, knorrigen Birnbaum gibt es, dessen Stamm wie eine bizarre schwarze Skulptur in den Abendhimmel ragt.

Es ist später Nachmittag, die Sonne färbt den Himmel im Westen rot, ihr Licht ist als Widerschein in der düsteren Küche nur zu ahnen. Inken bindet sich die blaue Baumwollschürze über den Rock und beginnt, das Gemüse zu putzen. Am Herdfeuer wendet eine alte Frau Kartoffelscheiben in einer großen Pfanne. Plötzlich bricht sie ihr Schweigen: »Ich habe dich heute wieder mit Brar gesehen.«

Das junge Mädchen schneidet weiter Lauch und Möhren in eine weißemaillierte Schüssel.

»Es kommt nichts Gutes davon. Der uneheliche Sohn einer Tagelöhnerin.«

»Ach, Keike, hör auf«, unterbricht Inken sie. »Man muss an die Zukunft denken, nicht immer nur an die Vergangenheit.«

»Ja, so spricht die Jugend. Und über kurz oder lang ist der Mann fort und du sitzt da. Denk an deinen guten Ruf, Mädchen. Viel mehr als das hast du nicht zu verlieren.«

»Aber ich liebe ihn«, sagt sie trotzig. »Mit ihm würde ich glücklich werden.«Die Alte lacht spöttisch auf. »Glücklich? Was weißt du denn, was Glück ist. Gib mir lieber die Kumme mit dem Gemüse her.«

Inken bringt die Schüssel mit den Lauch- und Möhrenstückchen. Keike schüttet sie in das kochende Wasser und gibt Salz dazu. »Eines merk dir, Mädchen: Solang du Salz im Haus hast und in deinem Topf auf dem Feuer etwas zum Kochen, so lange bist du kein unglücklicher Mensch.«

»Du bist eine alte Frau, Keike. Für dich mag das reichen, aber ich will noch etwas anderes vom Leben. Und eines jedenfalls weiß ich ganz bestimmt: Ich will nicht das Leben, das meine Mutter und meine Großmutter und du und so viele Frauen hier auf der Insel geführt haben. Witwen sind sie doch fast alle geworden, junge Witwen zumeist. Das Haus voller kleiner Kinder und nichts als Not und Sorge ums tägliche Brot.«

»Werde nicht übermütig, du junges Ding. Du hast nie Hunger gelitten, auch nachdem der Vater auf See geblieben ist. Der kleine Garten, das schöne Obst, der Fleiß deiner Mutter als Seemoossammlerin und Muschelfischerin haben euch immer ernährt.«

»Aber ich will ein solches Leben nicht. Dieses ewige Einerlei! Und wie jung ist Mutter gestorben!«

»Oh, Fräulein Hochmut spricht. Der reine Undank. Liegt im Einerlei nicht auch etwas Tröstliches? Jeden Morgen das Feuer schüren, das ist nicht nur eine Last. Es bedeutet auch Wärme, Sicherheit, Tag für Tag.«

»Wenn jeder so dächte, würde sich nie etwas bewegen.«

»Was heißt schon Bewegung. Der Mensch soll seine Kräfte nicht überschätzen. Denk an unsere Bäume, sind sie nicht alle windwüchsig? Nach Osten gekrümmt? Der Baum, der sich dem Wind zu aufrecht entgegenstemmt, fällt als Erster um.«

»Ich will kein Baum sein, Keike. Ich will nicht wurzeln. Jedenfalls jetzt noch nicht.« Sie läuft aus der Küche in den dämmerdunklen Garten. Am Zaun in der Ecke blühen die letzten Rosen. Es duftet nach Holzfeuer und Äpfeln. Inken atmet tief ein. Die Abendluft kühlt ihr das vom Reden und vom Herdfeuer heiße Gesicht. Sie pflückt eine Rose ab, zerrupft die Blütenblätter. Zurück bleibt der nackte helle Strahlenkranz aus Staubfäden und Stempel. Bleich schimmert er in der Dämmerung. Sie reißt die letzte Blüte ab, zerpflückt sie ebenfalls.

»Immer das gleiche Muster«, murmelt sie, »Blüte für Blüte, Jahr für Jahr, ohne Unterschied.« Ärgerlich wirft sie sie fort. Vom Meer her weht ein böiger Wind. »Brar«, flüstert sie. »Du hast so recht.«

*

Der Winter in diesem Jahr ist besonders streng. Ganze Teile der Insel hat das Meer in schweren Stürmen fortgerissen. Doch dann türmen sich Eisschollen auf dem Strand und bilden einen schützenden Wall. Das Watt zwischen Insel und Festland beginnt zuzufrieren, und als Mitte Februar die Vorbereitungen für das Biikebrennen beginnen, ist noch lange kein Frühling in Sicht.

Keike hat Inken gebeten, ihr vom Apotheker in Keitum ein Medikament gegen ihr Rheuma zu besorgen. Es ist ein schöner Tag, bei strahlendem Sonnenschein läuft das Mädchen los, aber als es sich auf den Heimweg machen will, setzt heftiges Schneetreiben ein. Bald sind Mantel, Mütze, Schal mit weißen Flocken besetzt, kaum noch kann Inken den Weg vor sich sehen, die eisigen Kristalle brennen ihr in den Augen. Es scheint aussichtslos, heute noch nach Haus zurückzukehren, und sie entschließt sich, einen Bauern zu bitten, sie im Stroh des warmen Kuhstalls übernachten zu lassen. In dem Moment kommt ihr eine Frau entgegen.

»Ist das nicht die Inken von der alten Keike?«, ruft sie, während sie mit beiden Händen ihr Kopftuch festhält. »Wo willst denn du jetzt noch hin?«

Inken kneift die Augen zusammen und blinzelt in den Schneesturm. Sie glaubt, die Frau von Kapitän Raue zu erkennen. »Nach Hause«, ruft sie zurück. »Aber das Wetter hat mich überrascht.«

»Um diese Stunde schickt man keinen Hund mehr vor die Tür. Das würde Keike mir nie verzeihen, dich weitergehen zu lassen. Komm mit, du kannst bei uns übernachten.«

Wenig später betritt Inken die warme Stube des alten Kapitänshauses, wo ein helles Feuer im Kamin prasselt. Seine Flammen spiegeln sich im blankgeputzten Messing des Wasserkessels, in den Messingschirmen der Blaker rechts und links vom Sofa.

»Oh, wie schön es hier ist«, entfährt es Inken. »Und so herrlich warm.«

»Setz dich ans Feuer, du musst ja ganz durchgefroren sein. Ich mach uns inzwischen einen Tee.«

Die Frau geht in die Küche. Durch die geöffnete Tür hindurch sieht Inken für einen Moment die polierten Kupfertöpfe, die vom Deckenbalken in der Küche hängen. Ja, wenn man so leben könnte, denkt sie. Dann lässt es sich aushalten hier auf der Insel. Sie hockt sich auf den kleinen Schemel neben den Schaukelstuhl direkt am Feuer, der sicher der Platz des Hausherrn ist.

In diesem Moment betritt Kapitän Raue die Stube. Er rückt den Schaukelstuhl nah ans Feuer und reibt sich die großen Hände. Sein weißer Bart ist rot von den Flammen. »Wenn du einmal in den Tropen warst, frierst du immer in dieser Gegend«, sagt er zu Inken. Dann deutet er aufs Kaminsims, wo säuberlich nebeneinandergereiht exotische und seltsame Dinge stehen. »Was das für eine Vase ist, weißt du doch, oder? Die habe ich aus Iquique in Chile mitgebracht. Nimm sie mal in die Hand und dreh sie.« Inken holt die Vase aus schwarzgebranntem Ton. »Sie hat ein doppeltes Gesicht.« Ein ernstes Gesicht blickt sie an; als sie die Vase dreht, erscheint ein lachendes Gesicht. »Und dort«, er deutet auf einen Gewürzmörser, »den hab ich auf einem indischen Markt erstanden. Und dies kleine Ding stammt aus Tahiti. Ein Eingeborenenkanu, aus Brotfrucht geschnitzt.« Inken nimmt einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand. Dann bringt seine Frau ein Tablett, auf dem handbemaltes, zartes Teegeschirr steht, eine dampfende Kanne, ein Schälchen mit Kandis und ein Sahnekännchen. »Das Porzellan da kommt alles aus Tientsin«, sagt der Kapitän.

»Erzählst du wieder deine Geschichten! Ihr alten Fahrensleute könnt es einfach nicht lassen, ein bisschen Seemannsgarn zu spinnen. Nun lass die arme Inken doch damit in Ruhe!«

»Gar nicht«, sagt Inken schnell, »ich höre das sehr gern.«

»Lass man gut sein, Frau«, sagt der Kapitän und trinkt den Tee, den seine Frau ihm eingeschenkt hat. Eine Weile blicken sie stumm in die Flammen. Dann steht er auf und geht zur Fensterbank. Dort stehen zwei Hündchen aus weißem Porzellan mit goldenem Halsband und rosa gemalten Schnauzen. Inken hat schon viele dieser Figürchen gesehen, in fast jedem Haus auf der Insel gibt es welche davon. »Du weißt, was es damit auf sich hat, Inken?« Sie schüttelt den Kopf. »Das war auf der anderen Seite der Welt mal als eine Art Passierschein in gewissen Häusern gebräuchlich, falls du verstehst, was ich meine. Außerdem diente es der Orientierung für neu ankommende Freier. Schaute der Pudel auf der Fensterbank nach draußen, bedeutete dies: Besuch wird empfangen. Schaute er jedoch in den Raum, so hieß das: Ein Freier ist bereits da. Viele ahnungslose Ehefrauen von Seeleuten bekamen diese Pudel früher als hübsches Mitbringsel.« Kapitän Raue setzt sich wieder und während er sich seine Pfeife stopft, lächelt er wie jemand, der mit seinem Leben zufrieden ist.

Tag für Tag wird der Holzhaufen für das Biikefeuer höher. Jeder vom Dorf schleppt etwas herbei: Holzkisten, alte Polster, ausgediente Reisigbesen, alles, was Feuer nährt. Einen Tag vor dem Fest wird ganz zuoberst eine menschengroße Puppe befestigt, die die jungen Frauen aus Stroh und Lumpen gefertigt haben. Kohlschwarze Augen sind auf eine helle Kugel gemalt und haben einen durchdringenden Blick, die roten Lippen leicht geöffnet, als spreche die Puppe. Früher hat Inken wie alle Kinder Angst gehabt vor dieser in einen langen Umhang gehüllten Gestalt. Man erzählte sich, sie sei eine Zauberin gewesen, die die Männer verhexte, und sei deshalb verbrannt worden. Aber in jedem Winter, besonders in solch kalten wie diesem, tauche ihr Geist auf und mache die Männer unruhig.

Kurz bevor der Holzhaufen angesteckt wird, kommen die Kinder mit Töpfen und Pfannen und veranstalten mit ihrem Geklapper einen Höllenlärm. Damit wollen sie nicht nur den Tieren, die sich nach dem Aufschichten vielleicht noch zwischen den Ästen eingenistet haben, Angst einjagen, damit sie nicht in den Flammen umkommen. Inken kann sich noch gut entsinnen, dass auch sie sich damit Mut gemacht hat vor der großen Puppe. Als die Sonne den Himmel mit Feuerrot und Orange überzieht, kommen von überallher in Mäntel und wollene Capes gehüllte Menschen, schwarze Figuren auf dem weißen Schnee. Kaum ist es dunkel, setzen zwei Männer den Holzstoß in Brand. Es ist plötzlich ganz still, als die ersten größeren Flammen aufzucken und das Feuer sich schnell weiterfrisst. Bald schon greifen die Flammen nach der Puppe, und als der Saum des Umhangs auflodert, beginnen die jungen Männer zu johlen. Gebannt sehen alle zu, wie sie jetzt von den Füßen aufwärts zu brennen beginnt, ein menschlich geformter Körper, der sich in den Flammen krümmt. Als Letztes brennen die Haare, ein Feuerkranz um das immer noch weiße Gesicht. Wie jedes Mal beschleicht Inken ein zwiespältiges Gefühl: als verbrenne in diesem Moment auch etwas von ihr selbst. Bald halten die Jungen Stöcke ins Feuer, um sich an der Kohle die Hände zu schwärzen. Wenig später schleichen sie sich von hinten an die Mädchen heran, um ihnen mit den Händen übers Gesicht zu fahren. Als nach Stunden der glühende Holzstoß kleiner geworden ist, nehmen die mutigsten jungen Männer Anlauf und springen über die Glut, während die anderen sich längst ins Gasthaus begeben haben, aus dem Musik zu hören ist.

Die ganz Alten sitzen in der feierlichen schwarzen Festtagstracht auf Stühlen in einer Reihe und sehen zu, wie die Jugend tanzt. Durch die Nacht schallen Geige, Akkordeon und Gesang, begleitet vom dumpfen Stampfen der Holzpantinen auf dem mit Sägemehl bestreuten Tanzboden. Inken in ihrem hübschen blauen Kleid mit den weißen Rüschen am Schulteransatz wird von vielen jungen Männern aufgefordert. Mit glühenden Wangen und funkelnden Augen tanzt sie an ihrer Muhme Keike vorbei. Auch Brar ist gekommen, die dunkle Kappe auf dem Kopf, aber er hält sich abseits, steht mit ein paar jungen Männern im Schatten der Scheune. Vergeblich sieht Inken sich nach ihm um. Erst als zur Polka gerufen wird, mischt er sich unter die Paare, steht plötzlich vor ihr und verbeugt sich linkisch.

Sie nimmt seinen Arm und gleich darauf drehen sie sich im Kreis, tanzen die Polka nach allen Regeln der Kunst, bis sie außer Atem sind. Dann zieht er sie näher und flüstert: »Morgen ist es so weit. Der Vollmond geht kurz vor Mitternacht auf. Das Watt ist fest genug gefroren, um zu Fuß zum Festland zu kommen. Ich warte auf dich am Oststrand.«

Erschrocken lässt Inken ihn los, beinahe stolpern sie, ein Hindernis für die anderen.

Der Keike mit ihrem scharfen Blick entgeht nicht, dass dort etwas Besonderes geschieht. Sie bleibt ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, sieht, wie Brar sich wieder zurückzieht und verschwindet. Ich werde ein wachsames Auge auf Inken haben müssen, sagt sich die alte Frau.

*

Der Mond gießt sein kaltes Licht über die Landschaft. Die Dünen sehen aus, als trügen sie kleine Haarschöpfe, die weißen Wellenkämme in der Ferne leuchten fahl. Hartes Gras streift Brars Beine, während er ausschreitet, als einer der Ersten, der das Fest verlässt, nach Süden aus dem Dorf hinaus, dorthin, wo die alte Kate seiner Mutter Wehn steht. Er hasst diese elende, fensterlose Hütte, die die Gemeinde ihm überlassen hat und aus der die Feuchtigkeit sich nie vertreiben lässt. Der vergangene Winter, so hat Brar sich geschworen, soll sein letzter hier gewesen sein. Er legt sich schlafen, es sind nur noch vier Stunden, bis er wieder aufstehen muss, um den Mist aus dem Schweinestall des Bauern zu fahren mit der Holzschubkarre, neues Stroh auslegen. Arbeiten, die ihm Freude machen würden – wenn es sein eigener Hof wäre. Aber dafür fehlt ihm das Geld; die Arbeit auf den Austernbänken oder an Bord eines Muschelfischers ist auch nicht besser. Und die Zeiten des Walfangs, als man hier noch richtig reich werden konnte, sind längst vorbei, seitdem die Erfindung des Petroleums die Tranlampen überflüssig gemacht hat. Wenn er auf der Insel bliebe, würde er nie aus dieser elenden Kate kommen. In Amerika aber kann man noch ein Stück Land erwerben und ein gutes Auskommen haben von der Arbeit der eigenen Hände. Wenn er jetzt nicht geht, schafft er es wahrscheinlich nie.

In Hamburg will er sich das Geld für die Überfahrt nach Amerika verdienen, auch wenn es viele Auswanderer gibt, die Plätze kaufen, und ein Überangebot an jungen Männern, die sich ihre Fahrt an Bord verdienen wollen. Manche als blinder Passagier, da sie nach ihrer Entdeckung oft mitarbeiten dürfen, sogar eine kleine Heuer bekommen und das bessere Essen der Mannschaft ohnehin. Aber wenn Inken mitkommt, geht das nicht.

Beim Einschlafen tritt ihm noch einmal ihr Bild vor Augen: Wie sie beim Polkatanzen den Kopf mit dem glänzenden schwarzen Haar zurückwirft und lacht, ihre roten Lippen, ihre ebenmäßigen weißen Zähne. Inken, sagt er leise, mit dir würde ich alles erreichen können.

Am nächsten Abend ist die Luft klar und kalt. Funkelnd stehen die Sternbilder von Orion und Plejaden am Himmel, als Brar die Tür der Kate hinter sich schließt. Er macht sich auf zum Oststrand des Dorfes und wartet, dass der Mond endlich aufgeht. Schließlich schiebt sich der obere Rand der großen Apfelsine über den Horizont. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, bis das Licht auf dem Schnee den Weg so erhellt wie am Tag. Jetzt müsste Inken sich gerade fertig machen, sich den Mantel anziehen, die warmen Stiefel, um sich an Keike vorbei aus dem Haus zu schleichen. Vielleicht wartet sie noch ein bisschen, bis es heller ist, und sie hat ja recht, was nützt es, sich in dem noch dämmrigen Licht den Fuß zu vertreten. Ungeduldig läuft Brar am Strand hin und her. Als der Mond halb über dem Horizont ist, ist die Sicht schon besser. Ist schon etwas von ihr zu sehen? Weiter läuft er seinen Weg über den Strand, immer wieder dieselben Schritte über den Schnee, schon ist ein festgetretener Pfad entstanden. Der Mond schiebt sich immer höher, beginnt, einen Glanz in der Farbe von Halligbutter anzunehmen. Dann ist auch sein unterer Rand über den Horizont. Brar kommt sich trotz der Weite vor wie ein Gefangener in einer Zelle, wie er hier nach Inken Ausschau hält. Jetzt sollte sie eigentlich auftauchen, aber er kann nichts entdecken. Der Mond steht bereits eine Handbreit über der Meereslinie, da sieht er plötzlich eine Bewegung in den Dünen. Eine schwarze Gestalt läuft dort. Er fühlt, wie sein Herz einen Sprung macht. Inken. Und im selben Moment weiß er: Sie ist es nicht. Die Gestalt läuft auf ihn zu. Ein Junge. Aus Inkens Nachbarschaft, er kennt ihn. Wortlos überreicht er Brar einen Umschlag und verschwindet wieder. Er braucht ihn nicht zu öffnen, um zu wissen, was geschehen ist. Sie wird nicht kommen. Er wird heute Abend allein bleiben. Trotzdem reißt er das Kuvert auf. Inken schreibt, sie könne Keike jetzt nicht so einfach im Stich lassen. Aber sie denke an ihn, jeden Tag, jede Stunde – bis zu ihrem Wiedersehen. Er liest wieder und wieder, steckt den Zettel schließlich tief ins Innenfutter seiner Jacke. Während er losläuft, schnell, denn jetzt muss er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, spürt er die Enttäuschung wie eine schwere Last auf den Schultern. Inken ist nicht bei mir, hämmert es in seinem Kopf. Inken bleibt hier.

Immer hat Inken die Tage und Wochen nach der Biike gehasst. Das Warten auf den Frühling erschien danach schier endlos. Mit dem Biikebrennen ist der Winter noch längst nicht vertrieben, nur die Arbeit der Seeleute beginnt. Die Insel fühlt sich verlassen und leer an, wenn so viele Männer plötzlich in die Überseehäfen nach Hamburg und Rotterdam gegangen sind, um sich in den Dienst der großen Reedereien zu stellen, wie sie es seit eh und je getan haben. Es ist zwar nicht mehr so wie damals, als schon die Zwölfjährigen zur See gingen und die frischgebackenen Ehemänner oft erst an Land zurückkehrten, wenn sie alt waren, so dass so manche Frau auf der Insel ihren Mann erst nach vierzig Jahren Ehe als Sechzigjährige wirklich kennenlernen konnte. Die Zeiten sind vorbei, und irgendwann kommen jetzt immerhin die Feriengäste. Doch bis dahin ist es noch endlos lang. Brar ist fort. Er wird nie wieder zurückkehren. Würde es ihm gelingen, genügend Geld für ihrer beider Überfahrt zu verdienen? Und dann …? Sie mag lieber nicht darüber nachdenken.

*

Brar hat angemustert auf einem englischen Frachtensegler, der zwischen Hamburg und Southampton fährt. Seine Eigner sind zwei Brüder, von denen der Alte als Kapitän seine letzten Fahrten über die Nordsee unternimmt. Sie befördern Tuche und Kohlen, Kies und Getreide hin und her, im regelmäßigen Rhythmus von jeweils fünf Tagen. Brar bekommt eine kleine Heuer dafür, dass er beim Be- und Entladen des Schiffes anpackt und unterwegs dem Bruder des Kapitäns als Deckshand und in der Kombüse hilft. Monat um Monat vergeht auf diese Weise, zum Glück hat er kaum Gelegenheit, sein Geld auszugeben.

Die Fahrt aus dem Hamburger Hafen, die Elbe hinab, hinaus auf die Nordsee, wenn möglich, steht er an Deck und sieht zu, wie die Ufer des breiten Flusses zu beiden Seiten vorbeigleiten. Kleine Höhen, auf denen hier und da Häuser verteilt stehen, manche schön und großzügig gebaut. Später dann die flach hingeduckten Katen der Bauern in den nassen Wiesen der Elbmarschen, die schilfbestandenen Ufer der in den Strom mündenden Flüsse, in denen Entenjäger auftauchen mit ihren Hunden, die mit Vögeln im Fang auf die Holzkähne zuschwimmen. Dann die Alte Liebe von Cuxhaven, die legendäre Anlegebrücke, von der man die Auswanderer nach Amerika verabschiedet. Sobald sie das Leuchtfeuer des alten Backsteinturms von Neuwerk passiert haben, geht es auf die meist stürmische Nordsee hinaus.

Wenn sich dann am übernächsten Tag die Kreideküste von Dover weiß aus dem Dunst erhebt und sie an Eastbourne vorbei Beachy Head passieren, beginnt der Kapitän wieder und wieder durchs Glas zu gucken, als könne er sein kleines Haus an der Küste unweit von Southampton bereits erkennen. Dabei müssen sie erst durch den Spithead, an Portsmouth vorbei, wo die englische Kriegsflotte liegt, und es ist ganz unmöglich, das Haus am Ende des Trichters zu erspähen. Kaum im Hafen angelangt verschwinden er und sein Bruder von Bord, gehen zu Fuß die anderthalb Meilen, wo die Frau des Kapitäns sie erwartet. Brar, zusammen mit englischen Schauerleuten, löscht im Hafen die Ladung und bleibt als Wache auf dem Schiff zurück.

Vor allem in diesen Stunden allein an Bord verspürt er oft Sehnsucht nach Inken. Vor fast vier Monaten hat er sie zum letzten Mal gesehen. Unruhig, schon so lange nicht von ihr gehört zu haben, beginnt er einen Brief an sie.

*

Auf Sylt erlebt man in diesem Sommer wärmere und sonnigere Tage als je zuvor auf der Insel. Nach einem verregneten April, einem verregneten Mai und einem kalten, windigen Juni, der alle zu Gefangenen ihrer Behausungen gemacht hat, stellt sich nun endlich der Sommer ein: laue Abende, ein sanftes, sich schnell aufwärmendes Meer, dessen auslaufende Wellen wie kleine Hundezungen an den Strand lecken und von dem die alten Kapitäne sagen, es erinnere sie an die See vor der afrikanischen Küste. Die Menschen kommen jetzt aus ihren dunklen Zimmern nach draußen, versammeln sich abends auf den Bänken am Platz und immer spielt jemand Flöte oder Akkordeon. Es wird viel gesungen und gelacht, und oftmals auch getanzt unter den bunten Laternen aus China, die in jedem Seefahrerhaushalt vorhanden sind und die man schnell an eine Wäscheleine hängt.

Auch Inken ist fröhlich wie lang nicht mehr. Endlich kann man im Freien sitzen, endlich kann sie das neue Kleid tragen, das Keike ihr zu Beginn des Frühjahrs, nachdem Brar fort war, genäht hat. Es ist aus ebenjenem Tuch gemacht, das sie und ihre Schwester einst aus Indien geschenkt bekamen: Farben von Hellblau bis Türkis, in allen Schattierungen eines südlichen Meeres, bedruckt mit feinen schwarzen Linien wie Wellen und mit goldenen Fäden durchwirkt. Inken trägt ihr dunkles, glänzendes Haar zu einem dichten Zopf geflochten, und mit ihrer großen schlanken Gestalt erscheint sie nicht nur Keike geradezu königlich schön.

»Bleib bei uns«, hat die alte Muhme, die genau spürt, dass Inken jeden Tag aufs Neue überlegt, sie in den vergangenen Wochen immer wieder gebeten. »Verlass die Insel nicht. Du wirst hier dein Glück schon finden, alles, was es dazu braucht, ist ein bisschen Geduld. Was willst du dich auf ferne Abenteuer einlassen, Kind.«

Inken aber, auch um die Sätze auszuprobieren, schüttelt den Kopf und sagt: »Was ich hier habe, finde ich anderswo leicht wieder. Sieh dir doch an, wie wir leben: die klammen Betten, die erfrorenen Kartoffeln vom letzten Jahr noch in der Erde, die Möhren schon von Maden zerfressen, selbst die Zwiebeln verfaulen in der Erde, so nass ist alles. Durchs Dach regnet es herein, und ab nächster Woche werden die Tage schon wieder kürzer. In Amerika, da beginnt die warme Zeit bereits im März, und im November kann man noch draußen sitzen. Dort wachsen Orangen und Pfirsiche von selbst und Tomaten in Hülle und Fülle, groß wie Kohlköpfe. Und außerdem«, setzt sie mit einer trotzigen Heftigkeit hinzu, die sie selbst ein wenig überrascht, »liebe ich Brar.« Seufzend schüttelt Keike den Kopf.

Der Spätsommer kommt und legt sich wie ein Zauberbann über die Insel. Es ist die Zeit der abgeernteten Getreidefelder, Tage mit Dorffeiern, zu denen viele junge Leute kommen. Es wird gelacht und gescherzt, selbst von den Halligen kommen die Mädchen, und da der Wind beständig aus Osten weht, segeln junge Männer vom Festland und den anderen Inseln herüber, um sich unter die Abendgesellschaften zu mischen. Sie haben sich feingemacht für diese Besuche, unverkennbar ihre Absichten, und nicht nur einer von ihnen ist auf Inken aufmerksam geworden. Nach Kräften ermutigt Keike die Halligleute, wiederzukommen, und sie tischt ihnen gebackene Krapfen auf und gewürzten Wein. Inken ist gelöst und fröhlich, sie droht der alten Muhme mit dem Zeigefinger, sie solle bloß nicht denken, dass sie sie nicht durchschaue. Aber ein junger Mann aus Heide, ein Zimmermannsgeselle, der Keike das Dach und die Tür ausgebessert hat und Inken mehrfach zum Tanzen holt, gefällt ihr auch ohne Keikes Zutun ziemlich gut.

Ist es Zufall, dass ausgerechnet in diesen Tagen der Brief von Brar eintrifft? Als habe er gespürt, wie es um sie steht. Der Junge des Fischers hat ihr den Umschlag gebracht, aufgegeben in Hamburg. Als sie Brars Schrift erkennt, läuft sie, unruhig, in den Garten und setzt sich auf die kleine weiße Bank unter den Apfelbäumen. Mit zitternden Fingern reißt sie das Kuvert auf. »Meine liebste Inken«, liest sie. »Ich zähle die Tage, bis ich von dir höre. Ich habe das Geld für die Überfahrt bald zusammen. Jetzt warte ich auf ein Zeichen von dir. Was hast du gemacht in den Wochen und Monaten, seit ich fort bin? Bist du noch mein? Ich denke so oft an dich. Dein Brar.«

Inken spürt etwas in sich aufsteigen, eine Beklemmung, die tief aus ihrem Innern zu kommen scheint. Brar. Sie hat nicht mehr oft an ihn gedacht in den letzten Tagen und sie spürt einen leisen Anflug von schlechtem Gewissen. Aber was hätte sie sich vorzuwerfen? Dass sie ausgelassen gefeiert hat? Dass der junge Zimmermann – Sven heißt er, ein hübscher Name – ihr gut gefällt? Schließlich ist sie jung, schließlich ist sie nicht mit Brar verheiratet. Warum soll sie andere Männer nicht anschauen. Ihr Schicksal ist noch nicht entschieden.

Tief atmet sie aus, lässt den Brief sinken. Dann steht sie auf und geht durch den Garten, bleibt am Zaun stehen, von wo aus man über die Dünen im Westen als schmalen Streifen das Meer sieht: Brar ist der früheste Freund ihrer Kindheit. Die Vertrautheit zwischen ihnen ist niemals getrübt gewesen. Und doch – vielleicht kennt sie nur einfach nichts anderes? Unwillkürlich sieht sie Sven vor sich. Ein unternehmungslustiger junger Mann, der sich auf dem Festland eine eigene kleine Werkstatt aufbaut. Er würde sie sicherlich vom Fleck weg heiraten, hat Keike unlängst geäußert. Könnte sie nicht auch mit ihm das Gefühl erleben, zusammenzugehören?

Hinter dem Wohnzimmerfenster bemerkt sie eine Bewegung. Ist eben der Vorhang vors Fenster zurückgeglitten? Mit einer entschlossenen Bewegung steckt Inken den Brief unter ihre Schürze. Sie wird ihrer Muhme nichts davon erzählen.

*

Ein Brief kann die Welt aus den Angeln heben. Man muss nur wissen, wie man ihn schreibt. Lange zögert Inken. Es ist schon Herbst, als sie sich endlich an einem Tag, an dem Keike fort ist, an den Tisch in der Wohnstube setzt und zu schreiben beginnt. Wie von selbst entsteht der Brief, in einer nüchternen, fast geschäftsmäßigen Sprache. »Lieber Brar. Ich komme übernächsten Sonntag abends mit dem Zug von Tondern nach Altona. Falls du nicht da bist, werde ich im Seemannsheim nach deiner Adresse fragen. Deine Inken.«

Brar liest die Zeilen und lächelt. Sie kommt tatsächlich. Sie vertraut sich ihm an, will ihr Leben mit ihm teilen. In letzter Zeit sind ihm Zweifel gekommen, auch wenn er ganz im Innern nie an eine andere Möglichkeit geglaubt hat. Am liebsten würde er dem Nächstbesten auf die Schulter schlagen und rufen: Ich spendiere Rum für alle, meine große Liebe geht mit mir nach Amerika! Aber im Gegenteil – er wird keinen Fuß mehr in eine Schenke setzen, denn jeder Groschen ist jetzt doppelt wert. Sein Gemütszustand fällt selbst dem Kapitän auf. Doch als er den Grund erfährt, warnt er: »Ich hab schon viele nach drüben gehen sehen, die dann nach Jahren zurückkehrten, entmutigt, zerrissen zwischen hier und dort. Überleg dir gut, ob du die Heimat verlassen willst, eine solche wie deine gibt es in der Fremde nicht wieder.«

»Heimat«, lacht Brar. »Eine feuchte Kate und keine Zukunft.«

Doch dann quälen ihn wieder Fragen. Nachts fährt er aus dem Schlaf. Noch einmal liest er die Zeilen. Inken schreibt, sie will ihn aufsuchen. Was, wenn sie nur kommt, um ihn zu bewegen, zurückzukommen auf die Insel? Warum schreibt sie nicht, sie würde mit ihm gehen?

Der Tag, an dem sie ankommen soll, ist ungemütlich und kalt. Brar hat ein winziges Zimmer gefunden bei einer Frau, die es ihm mit einem deftigen Aufpreis vermietet hat, weil dem Paar der Trauschein fehlt. Viel zu früh macht sich Brar auf zum Bahnhof. Heftiger Regen mit Graupelschauern geht hernieder, ein eisiger Wind reißt die letzten Blätter von den Bäumen. Der Zug verspätet sich, auf der Strecke zwischen Tingleff, wo die Bahn aus Tondern mündet, und Neumünster hat es einen Zwischenfall gegeben. Brar geht die Stationen durch und überschlägt die Zeit, die Inken unterwegs ist. Von Munkmarsch morgens mit dem Dampfschiff die zwei Stunden erst an den großen Austernbänken vorbei über die Hoyer Tiefe zur Schleuse, von dort aus fünfzehn Minuten Fahrt nach Hoyer, von wo die Wagen etwa eineinviertel Stunden brauchen bis zum Bahnhof in Tondern. Die gut zehnstündige Reise wird heute noch länger dauern. Inken wird müde sein. Hoffentlich hat die Wirtin wenigstens etwas eingeheizt bei diesem Wetter.

Als der Zug endlich einfährt und die Türen sich öffnen, entsteht im Nu ein Gewimmel aus Menschen auf dem Bahnsteig. Doch Brar erspäht Inken auf den ersten Blick – und sie sieht überhaupt nicht müde aus! Doch dann durchfährt ihn ein heftiger Schreck: Sie trägt nichts bei sich als einen Handkoffer. Würde sie nicht mehr Gepäck dabeihaben, wenn sie wirklich die Reise nach Amerika mit ihm antreten wollte? Inken hat ihn ebenfalls entdeckt und sieht sofort die Enttäuschung, die sich auf seinem Gesicht spiegelt. Unwillkürlich blickt sie an sich hinab. Hat sie sich so verändert? So begegnen sie sich befangen, keiner sicher, was im anderen vorgeht. Steif fragt Brar Inken, ob sie eine gute Reise gehabt hat, dann müssen sie rennen, weil ein eisiger Regenschauer niedergeht. Als die Wirtin des Logierhauses sie einlässt, Inken in ihrem alten Mantel mit dem kleinen Köfferchen sieht, ist sie froh, das Geld im Voraus eingefordert zu haben.

Drei Treppen hoch bis unters Dach steigt Brar voran und öffnet die Tür zu einem winzigen zugigen Raum mit schrägen Balken, in dem nichts weiter steht als ein Bett, ein Tisch mit einem Stuhl daran und einem kleinen gusseisernen Ofen. Er ist kalt. Augenblicklich hockt sich Brar vor die Ofenklappe und bemüht sich, ein Feuer zu machen. Inken zieht ihre nassen Sachen aus, hängt sie über den Stuhl und wickelt sich in eine Wolldecke. Sie setzt sich aufs Bett. Ihre schwarzen langen Strümpfe ringeln sich wie zwei Schlangen von der Lehne, ihr roter Rock, die Samtjacke sehen aus wie am Strand angetrieben. Es gibt einen Kessel, um heißes Wasser zu machen, wenn erst das Feuer richtig brennen würde, aber die Wirtin hat ihnen zu wenig Holz gegeben, um wirklich einzuheizen. Viel zu früh würde das Feuer niederbrennen, und beide wissen, die einzige Möglichkeit, es ein wenig warm zu haben, ist die, ins Bett zu kriechen.

Inken zögert den Moment hinaus. Nach der langen Trennung von Brar ist die plötzliche Nähe schwierig für sie. Brar getraut sich nicht zu fragen, was der Grund für ihr Zögern ist, aus Angst, die Antwort zu bekommen, vor der er sich schon so lange fürchtet. Sie laufen im Zimmer hin und her, um die Kälte zu vertreiben. Schließlich nimmt Brar Inkens Hände, um sie warmzureiben. Endlich fasst er Mut und stellt die entscheidende Frage. »Inken. Wirst du mit mir kommen?« Sie starrt ihn an, mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermag, und schweigt. Schließlich bringt sie hervor: »Warum, denkst du, wäre ich denn sonst hier?«

Dieser Satz, der Inkens Verwunderung so deutlich zum Ausdruck bringt, löst bei ihm alle Anspannung der letzten Monate. Alles in ihm will jubeln und aufjauchzen. »Inken«, sagt er mit solcher Erleichterung, dass er sich fast verschluckt. »Meine Inken.« Und dann schließt er sie in die Arme, hebt sie vom Boden hoch, als sei sie leicht wie eine Feder, und wirbelt mit ihr durch die armselige Kammer. Schließlich setzt er sie wieder auf dem Bett ab, bedeckt ihr Gesicht mit Küssen und schmeckt dabei die salzigen Tränen, die ihr über die Wangen gelaufen sind. »Weinst du?« Bestürzt lässt er sie los.

Sie hat sich mehr nach Brars Nähe gesehnt, als ihr bewusst war, und so wohl tut ihr jetzt seine Berührung, dass es sie tatsächlich zum Weinen bringt. »Die lange Wartezeit war schrecklich.« Und im nächsten Moment zieht sie ihn zu sich, nähert ihre Lippen den seinen, und in diesem ersten Kuss spürt sie, dass alles so ist zwischen ihnen wie früher: ganz selbstverständlich, dass sie zusammengehören.

Die Frau am Strand

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