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New Sylt

Von einem Unterhändler der Firma Morris & Co. in Hamburg kauft Brar zwei Überfahrten nach Baltimore im Zwischendeck auf der Queen Mab. Es ist ein alter Segler, eine Viermastbark, für den die Karten sehr viel billiger sind als für eine Dampferpassage. Das Schiff liegt in Cardiff, die Anfahrt kostet ihn nichts, da sein alter Kapitän ihn und Inken mit seinem Frachtensegler hinbringen will, keine ungefährliche Reise die englische Südküste entlang, um Land’s End herum, durch den Bristolkanal in den Sund von Cardiff.

So stehen sie schließlich an einem windigen Oktobertag in Cardiff auf dem Kai, zusammen mit zahllosen anderen Frauen und Männern, ganzen Familien mit Großeltern und Kindern darunter, und sehen zu, wie die Matrosen in die Rahen der vier hohen Masten hinaufsteigen, um die eingerollten Segel zu setzen. Im Gegensatz zu fast allen anderen, die mit verschnürten Pappkartons und Säcken beladen sind, mit den Federbetten aus ihrer Heimat und ganzen Arsenalen von Töpfen, Pfannen und Küchengerät, hat Brar nur einen Seesack bei sich, der noch vom Vater seiner Mutter Wehn stammt. Inken trägt Keikes alten Koffer, mit dem diese als junges Mädchen einst von ihrer Heimatinsel Fehmarn an die Nordsee aufgebrochen war. Eine Geschichte, die Inken erst erfuhr, als Keike das Gepäckstück hervorholte und es mit Fett wieder aufpolierte. Auch sie habe einmal das Abenteuer gesucht, meinte die Muhme, und ihre Heimat und ihre Schwester verlassen, um ihr Glück in der Fremde zu machen. Ohne Inken etwas davon zu sagen, hat sie ihr ihren einzigen, von ihrer Mutter ererbten Festtagsschmuck eingepackt. Ein feinziseliertes Silberhalsband mit einem Anhänger daran, in dem drei blutrote Granatsteine funkelten. Sorgfältig in Seidenpapier verpackt ruht es in einem Extrafach des Koffers, mehrfach umwickelt von Röcken und Blusen. Inken hat es erst gestern Abend entdeckt und brach bei seinem Anblick in Tränen aus.

Ihre Tickets gelten für das erste Zwischendeck, in dem die Auswanderer in großen hölzernen Verschlägen untergebracht sind. Jeweils bis zu sechzehn Pritschen sind darin aufgestellt, und auch wenn im Hafen die Putzkolonnen an Bord gewesen sind, ist der Schmutz in diesen Menschenkäfigen ihrer Aufmerksamkeit offenbar entgangen. Es riecht muffig, kein Tageslicht dringt bis an diesen Ort, wo vor allem Familien untergekommen sind. Unglücklicherweise beginnt die Reise bei schlechtem Wetter. Kaum haben sie Cardiff und den Schutz des Bristolkanals verlassen, setzt ein Sturm ein, der das Schiff in den Wellenbergen und Wellentälern von oben nach unten tauchen lässt. Fast alle werden seekrank. Der eiskalte Regen, der vom Himmel fällt, verbannt sie unter Deck. Der Gestank des Erbrochenen, die ungewohnte Nähe von vielen anderen, das Schnarchen von Männern und Frauen, das Seufzen von Kindern im Schlaf, das Wimmern von Kleinkindern lässt Inken kein Auge zutun; sie weiß nicht, wie viele Tage und Nächte in dieser Hölle vergehen, die Schlaflosigkeit versetzt sie in einen Zustand des Betäubtseins, aber auch der Überempfindlichkeit. Als sie mit Brar zum ersten Mal wieder an Deck gehen kann, ist es eine klare Nacht und die Schönheit des Sternenhimmels überwältigt sie beide. Eng umschlungen blicken sie in die Unendlichkeit über ihnen. Es tut gut, sich so klein zu fühlen. Das verkleinert auch die Ungewissheit der Zukunft.

Nun bessert sich auch die Stimmung an Bord, die Essensvorräte werden ausgepackt und getauscht, die Kinder spielen, Walisisch, Englisch, Deutsch, ihre verschiedenen Sprachen stören nicht. Abends ertönen Instrumente und Gesang, bald schon wird getanzt. Die Stimmung ist so fröhlich und ausgelassen, dass aus den Oberdecks, wo die vornehmeren Passagiere reisen, neugierige und sogar sehnsüchtige Blicke auf sie fallen.

Am nächsten Morgen ganz früh kommt es Inken so vor, als höre sie ein Kinderweinen von außerhalb des geschützten Zwischendecks, und kaum setzt die erste Dämmerung ein, macht sie sich leise auf nach draußen, um nachzusehen. Sie lauscht, nichts ist mehr zu hören. Dann entdeckt sie in einem der Rettungsboote eine wollene Decke. Sie hebt sie an und findet ein Mädchen darunter liegen, das sich offenbar in den Schlaf geweint hat. Ganz vorsichtig lässt sie die Decke wieder zurückgleiten, in diesem Moment wacht es auf und blickt sie mit großen, erschrockenen Augen an. Sein Gesicht so bleich und mager! Als Inken etwas sagen will, legt es schnell den Finger gegen die Lippen und sieht sie flehentlich an. Inken nickt, lächelt ihm beruhigend zu und geht zurück. Sie weckt Brar auf seiner Pitsche neben ihr und erzählt ihm flüsternd von ihrer Entdeckung.

»Ein blinder Passagier! Ein Mädchen, ein Kind noch. Und es sieht halb verhungert aus. So können wir es nicht dort lassen.«

»Wir sollten es besser dem Kapitän melden. Vielleicht kann es sich nützlich machen und bekommt seine Chance …«

»Nein, bitte nicht.« Inken schüttelt den Kopf. »Es hatte solche Angst, bemerkt zu werden. Lass uns ihm einfach nur etwas zu essen bringen.«

Brar sagt weiter nichts, als Inken ihre Vorräte hervorholt und ein paar Scheiben Brot, ein Stück Käse und einen Apfel in ein kariertes Tuch bindet. Doch als sie zum Rettungsboot zurückkehrt, sind drei Männer der Mannschaft dabei, das Kind, das sich zur Wehr setzt, hervorzuholen. Als der Blick des Mädchens auf Inken mit dem kleinen Essvorrat trifft, spürt sie seinen Hass.

Die Männer führen das Kind dem Kapitän vor. Brar glaubt, es wäre sowieso herausgekommen. »Und jedenfalls bekommt sie so ein paar warme Mahlzeiten – und das bessere Essen der Mannschaft obendrein.« Doch auch er muss zugeben, dass er sich getäuscht hat und die Geschichten, die man ihm vorher von den blinden Passagieren erzählt hatte, dass sie aufgenommen würden und am Ende sogar eine Heuer verdienen können, nichts als schöne Märchen sind. Der Kapitän wird seinem Ruf als einem äußerst gestrengen Mann gerecht und handelt nach den Vorschriften. Bis zur Ankunft des Schiffes wird das Mädchen in eine winzige Kabine gesperrt.

Schließlich passieren sie eines Nachts das Leuchtfeuer Chesapeake. Der Horizont an diesem letzten frühen Morgen scheint mit einem dicken weichen Pinsel zwischen Himmel und Erde gemalt, in der Dämmerung rosafarben. Bald entsteht, fast unsichtbar zunächst, eine zweite zarte Linie: Doch es ist keine Wolkenbank mehr, wie so oft, sondern die Küste. Brar holt Inken an Deck, damit sie ihre Ankunft in Amerika miterlebt. Mit zunehmender Durchsichtigkeit der Luft kommen immer neue Linien hinzu, bis sich schließlich der freie Blick auf die Chesapeake Bay einstellt, an deren westlicher Spitze ihre Anlaufstation liegt: Baltimore.

Nach dem Anlegemanöver kommen Beamte der Einwanderungsbehörde an Bord und der Kapitän übergibt ihnen das völlig verstörte Mädchen. Brar und Inken sind Zeugen dieses Moments. Inken geht auf die Männer in Uniform zu. »Ich habe sie entdeckt, das arme Ding. Im Rettungsboot. Es ging ihr schlecht. Man muss sich um sie kümmern.« Einer der beiden Beamten macht eine Geste. »Please, step aside, Madam.« Brar zieht Inken zurück. Sie reihen sich in die Schlange der Passagiere. Die Ersten, die das Schiff verlassen, sind die Passagiere vom Oberdeck. Dann folgen die aus dem Zwischendeck. Alle müssen sich der Kontrolle ihrer Papiere, der Zollkontrolle sowie der medizinischen Untersuchung unterziehen.

Nach New York ist Baltimore das nächste große Zentrum für Einwanderer. Man hatte es nach und nach in Konkurrenz zur nördlicher gelegenen Stadt aufgebaut, um auch in dieser Region von den Immigranten profitieren zu können. Von hier gehen die Züge der Baltimore and Ohio Railroad ab bis weit ins Inland hinein. An der ersten Station Cumberland kann man umsteigen in die verschiedensten Richtungen: nach Chicago, St. Louis oder Cincinnati, nach Cleveland, Pittsburgh oder Toledo.

Als endlich alle Formalitäten erledigt sind, sind Brar und Inken frei zu gehen. Es ist Abend geworden inzwischen, und erst einmal brauchen sie eine Unterkunft. Schnell merken sie, dass sie damit nicht allein sind, denn eine ganze Schar geschäftstüchtiger Vermittler umschwirrt die Passagiere. Brar steuert auf einen kleinen Jungen zu, den andere zuvor rücksichtslos fortgedrängt haben. Auch dieser hat ein Zimmer zu bieten, und da seine Kleidung sauber wirkt, bedeutet ihm Brar, sie würden ihm folgen.

Der Junge führt sie in eine Straße mit dreistöckigen Häusern. Die untergehende Sonne wirft ein letztes rötliches Licht auf die Straße, wo ein Scherenschleifer sein Rad dreht inmitten einer Schar von Kindern; irgendwo singt eine Frau in einer dunkel klingenden Sprache, alte Männer sitzen rauchend auf Stühlen vor einer Haustür und sehen den Jungen zu, die ihre Reifen die Straße entlangtreiben. Vor einem dunklen Türloch bleibt der Kleine stehen. Brar blickt ihn fragend an, der Junge zeigt hinein und hält die Hand auf. Brar sagt in dem Seemannsenglisch, das er während seiner Fahrten nach Bristol gelernt hat: »Erst zeig mir das Quartier.« Der Junge versteht ihn, und sie folgen ihm durch ein düsteres Treppenhaus. Dann stehen sie in einer fensterlosen Kammer, an deren hinterer Querseite ein hölzernes Bett aufgestellt ist. Brar prüft es, die weißen Federbetten sind frisch bezogen. Auf einem Tisch stehen Krug und Waschschüssel und eine Spiegelscherbe, es gibt zwei Stühle. »Okay«, sagt Brar. »Und bekommen wir auch etwas zu essen?« Er macht eine entsprechende Geste. Der Junge nickt und verschwindet. Wenig später kehrt er zurück mit einem Tablett, auf dem Brot, Eier, Käse und eine Kanne Tee stehen. Brar bezahlt und im nächsten Moment ist das Kind verschwunden.

Brar lässt sich nieder. »Lass uns essen, Inken. Wir haben den ganzen Tag nichts gehabt.«

»Ich habe keinen Hunger«, wehrt sie ab und legt sich aufs Bett. So ärmlich und primitiv hat sie sich Amerika nicht vorgestellt. Sie fühlt sich elend und will am liebsten nur noch schlafen.

»Vergiss nicht, Inken«, sagt Brar, »dies hier ist die Großstadt Baltimore. Ein kleines Viertel direkt am Hafen. Hier bleiben die, die sich nichts vorgenommen haben. Wir aber werden schon morgen weiterziehen ins Landesinnere. Ich habe einen sehr wertvollen Tipp auf dem Schiff bekommen: Westlich von Cincinnati, in der Nähe von Salem in Südindiana gibt es gut bezahlte Arbeit in den Steinbrüchen. Von dort kommt das Material für solch berühmte Gebäude wie das Empire State Building. Ein begehrter Stein, der sich gut bearbeiten lässt, aber weil er sehr weich ist, auch sehr anfällig. So brauchen sie immer geschickte Leute.« Brar in seiner Begeisterung merkt nicht, dass Inken längst eingeschlafen ist.

Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück mit öligen Pfannkuchen, die in Sirup ertrinken, machen sie sich zum Bahnhof auf. Bald stehen sie wieder inmitten schreiender Menschen auf einem überfüllten Bahnsteig. Als die Lokomotive einläuft und schnaufend stehen bleibt, stürmen alle gleichzeitig die Waggons und versperren mit ihrem Gepäck die Wagentüren. Brar ergattert zwei Sitzplätze auf einer hölzernen Bank der dritten Klasse. Die Luft ist unerträglich stickig von den Ausdünstungen der Menge, wie zuvor auf dem Schiff. Und so wie das Meer sich dort Tag für Tag eintönig grau dehnte, sind es jetzt endlos eintönige Wälder, die draußen vorm Fenster vorbeiziehen. Heimlich mustert Inken die Frauen: ärmlich gekleidet, abgehärmt und erschöpft wirken die meisten. Viele haben kleine Kinder auf dem Schoß. Kaum sitzen die Mütter, fallen ihnen die Augen zu, mit halbgeöffnetem Mund schnarchen sie leise vor sich hin.

In Cumberland steigen Brar und Inken um in den Zug nach Cincinnati, der genauso voll ist wie der vorige. Jetzt kann Inken ihre Befürchtungen nicht mehr abschütteln: Haben alle denselben wertvollen Tipp erhalten? Schickt man sämtliche Neuankömmlinge in die gleiche Richtung? Ist dies etwa ihre Konkurrenz um einen Arbeitsplatz? Dann ist auch sie eingeschlafen.

In Cincinnati müssen sie ein paar Stunden auf den nächsten Zug warten. Cincinnati ist eine richtige Stadt. Vom Bahnhof aus kann man sie sehen, schön gelegen zwischen bewaldeten Hügeln, die sich zu beiden Seiten vom Tal des mächtigen Ohio River ziehen. Die Häuser sind aus Holz oder Backstein, nicht wenige haben bunte Fensterscheiben. Es erinnert an Kirchenfenster, doch die Motive sind andere: Blüten und Knospen, Laubgirlanden, Seerosen und große Reihervögel. Sie hört jemanden sagen, dass Glaskünstler aus Deutschland sich hier niedergelassen hätten. Wäre dies nicht vielleicht der bessere Ort, fragt sie sich, wo schon andere Landsleute sich ihre Existenz aufgebaut haben? Warum sollen sie weiter in die Wildnis fahren!

Sie verlassen den Bahnhof. An einer großen Säule hängen Plakate. Eines wirbt für den Auftritt der berühmtesten Sopranistin dieser Zeit in der Oper von Cincinnati: Adelina Patti, der die Welt von Südamerika bis Europa zu Füßen liegt. Brar kauft eine Zeitung, um die Arbeitsangebote zu studieren, und gibt Inken die zweisprachige Wochenend-Beilage, damit sie ihr Englisch übt. »Cincinnati – Ereignisse der letzten zehn Jahre« ist das Thema, mit dem stolzen Unterton: Unsere Stadt wird immer wichtiger. Eine Zeichnung springt ihr ins Auge von einem jungen Mann mit schräg sitzendem Hut und dem Ausdruck eines spottlustigen Menschen. »The great aesthete Oscar Wilde is in the city. He arrived from London and will give lectures here and in Louisville«, lautet die Schlagzeile. Oscar Wilde. Ein berühmter Mann, von dem sie noch nie gehört hat. Was weiß sie überhaupt von der Welt? Plötzlich kommt sie sich klein und rückständig vor. Nein, in einer solchen Stadt würde sie sich nicht wohlfühlen. Auch wenn sie es bis Amerika geschafft hat – innerlich misst sie alles an ihrer Insel. Ja, es ist doch gut, dass sie aufs Land ziehen, so weit fort von allen wie möglich.

Dann können sie endlich den neuen Zug besteigen. Er ist zum Glück weniger voll als der andere. Als es nicht mehr weit sein kann bis zu ihrem Zielort, erfasst Inken die Aufregung. »Wohin sollen wir uns denn überhaupt wenden, wenn wir ankommen? Wir kennen doch niemanden dort.«

»Ich habe eine Adresse aufgeschrieben. Nicht weit von der Bahnstation. Mit ein bisschen Glück ist das meine Chance.« Zum hundertsten Mal holt Brar den Zettel aus seiner Jacke, auf dem er den Ortsnamen notiert hat: »Loogootee«.

Als der Zug hält, steigt zu Inkens großer Erleichterung nur ein anderer Mann dort mit ihnen aus. Und so landen sie in Südindiana, einer von Buchenwäldern bedeckten hügeligen Landschaft mit Seen, Bächen und Flüssen. Viele von ihnen münden in den großen Ohio River, der die Grenze zwischen Indiana und Kentucky bildet. Brar findet tatsächlich Arbeit in einem Steinbruch. Sie ist sehr schwer, denn wie überall auf der Welt gibt man den Neuankömmlingen die unbeliebtesten Aufgaben. Sechs Tage die Woche plagt er sich und der Staub verklebt ihm Nase und Augen; wenn die Sonne scheint, blendet es ihn so, dass er auch nachts das Gefühl hat, alles um ihn sei weiß.

Inken kommt in einer Papierfabrik ganz in der Nähe unter. Sie liegt direkt an einem Fluss, dessen schnell fließendes Wasser nicht nur für den Transport gebraucht wird, sondern auch dazu dient, das rohe Kiefernholz zu säubern und zu kochen, den gewonnenen Zellstoff zwischen verschiedenen Bleichvorgängen immer wieder zu waschen und nach der Pressung und Entwässerung der Zellstoffbahnen das überschüssige Wasser mitzunehmen. Inkens Arbeit besteht darin, den Zellstoff, der in einem vier Stunden langen Kochprozess aus dem rohen Holz gewonnen wird, von Ästen und Splittern zu trennen. Eine Arbeit, die leichter aussieht, als sie ist, denn oft ist das Material noch heiß und schwer vom Wasser und sie verbrennt sich die Finger. Trotzdem fasziniert es sie zu sehen, wie sich die entrindeten Holzstämme schließlich in schneeweiße Papierbogen verwandeln, die dann geschnitten und auf den Schiffen gestapelt werden, die sie den Fluss hinunter an die Küste bringen.

Der kleine Ort gehört ganz dem Fabrikbesitzer, der die schlichten Holzhäuser für seine Arbeiter hat bauen lassen; auch einen Lebensmittelladen gibt es neben der Kirche, die sich von den anderen Häusern durch eine Schiffsglocke auf dem Dach unterscheidet. Alles ist so neu, dass es noch nach frisch geschlagenem Holz riecht. Die Bewohner dieser Siedlung, die anderen Arbeiter mit ihren Familien, sind Leute wie sie selbst: europäische Einwanderer, die sich ein besseres Leben als das in ihrer Heimat versprechen, viele von ihnen aus Schottland und Irland. Die Familie, mit der sie sich das Haus teilen, kommt aus Manchester. Die Frau erzählt Inken, sie hätten großes Glück gehabt. Es gäbe längst nicht so viel Arbeit hier, wie man drüben in der Alten Welt behauptet. Diese neue Siedlung sei nur deshalb gebaut worden, weil die alte im letzten Herbst abgebrannt ist und viele dabei ums Leben kamen. »Es war Brandstiftung. Ein Zeichen des letzten Widerstandes der Indianer«, sagt sie sensationslüstern und blickt sich neugierig in Inkens kleinem Zimmer um. Inken, wohl wissend, dass diese Frau nicht schlechter ist als andere, nicht schlechter als sie selbst, hasst sich in diesem Moment dafür, in ihrer Gesellschaft leben zu müssen. Seitdem sie in Cardiff an Bord gegangen sind, hat sie das Gefühl, nur noch mit einem bestimmten Teil der Gesellschaft zu tun zu haben: den Verlierern, Gescheiterten, Trinkern, mit Leuten, denen kein anderer Weg mehr offenstand als auszuwandern. Aber sie sagt nichts zu Brar. Fest entschlossen, seinen Weg nicht durch Bedenken zu gefährden, dreht er alles ins Positive.

Sonntags haben sie frei. An einem dieser Feiertage beginnt Inken einen Brief an Keike, in dem sie ihr von allem erzählt. Doch als sie den Umschlag zukleben will, mag sie sich nicht von ihren Aufzeichnungen trennen. Sie behält die Seiten und setzt dieses Briefeschreiben fort, Sonntag für Sonntag, beginnt jedes Mal mit dem Satz »Liebe Keike« und schickt doch keine einzige Zeile ab. Es hilft ihr, die Probleme, die sie mit keinem teilen kann, hier abzuladen. Ihre Angst davor, noch weiter in die Wildnis zu ziehen. Brar ist versessen darauf, Land zu erwerben, die Nähe einer Stadt oder einer Meeresküste spielt für ihn keine Rolle. Er spricht jetzt davon, sogar eigenes Land zu roden, und das bedeutet ein Leben abseits jeglicher Zivilisation. Inken hasst schon hier die riesigen Insekten, Termiten, die das Holz annagen, die Kakerlaken, die sich in der Küche eingenistet haben und in großen Schwärmen über die Wände huschen. Als sie eines Morgens beim Aufwachen viele kleine Schlangen aus dem Abflussrohr kriechen sieht, bricht sie in Tränen aus. Die Frau aus Manchester lacht. »Da hat eine Königsschlange gejungt«, erklärt sie Inken. »Sie sind vollkommen harmlos. Hüten muss man sich vor der Cottonmouth. Die ist viel kleiner und außerordentlich giftig.«

*

Die Tage vergehen mit harter Arbeit. Als sich das erste Jahr rundet, heiraten sie. »Liebe Keike«, schreibt Inken ihr aus diesem Anlass, »leider konntest du bei unserer Hochzeit nicht dabei sein. Du wärest stolz auf mich gewesen. Ich habe ein neues weißes Kleid getragen und dazu deinen Granatschmuck. Brar sah in seinem geliehenen dunklen Anzug sehr stattlich aus, wir wurden in der Kirche unserer Siedlung von einem Pastor aus Bayern getauft, dessen Familie hierher ausgewandert ist. Du kannst ganz beruhigt sein: Es geht uns gut und beide verdienen wir nicht schlecht. Unser Traum vom eigenen Land rückt in immer greifbarere Nähe.« Hier unterbricht sie ihr Schreiben, als sei sie selbst nicht ganz überzeugt. Dann fügt sie weitere Sätze an, die Keike beruhigen sollen, und trägt Grüße an die Heimat auf. Wieder schickt sie den Brief nicht ab. Sie hat ihn an sich selbst geschrieben, und jene Sätze sollen sie selbst beruhigen.

Im dritten Frühjahr, etwas mehr als zwei Jahre nach ihrer Abreise aus Europa, erfährt Brar bei einem Behördenbesuch in Jasper von Plänen der Regierung, ein nicht allzu großes Waldgebiet südlich von Vincennes als Farmland zu veräußern. Es soll etwa zwanzig Meilen östlich vom Wabash liegen, »Weißes Wasser« in der Sprache der Algonquin, dem Grenzfluss zu Illinois und an einem Nebenfluss des White River, Indian Creek mit Namen. Es ist vielleicht die letzte Aktion dieser Art, bei der man durch die Pioniere auf die kostenlose Ausweitung besserer Verbindungen aus dem südlichen Indiana an den Ohio River hofft. Das Gebiet ist noch unzugänglich und muss – anders als die Niederungen am Wabash – erst gerodet werden. Von Gesprächen mit Farmern weiß Brar, dass es dort denselben guten Boden geben muss wie in den Flussauen, die er kennengelernt hat. Von Trappern, die dort Biber- und Waschbärfallen aufstellen, erfährt Brar, dass Schwarzerlen und Birken in Flussnähe wachsen und weiter ins Land hinein Buchen und Rotahorn, Eichen und Walnuss. Da der Wald nie bewirtschaftet worden ist, müssen alte große Stämme darunter sein, wertvolles Furnierholz, und Brar ist sich sicher, den Preis für das erworbene Land bald durch den Verkaufserlös der gefällten Bäume wieder hereinzuholen. So sieht er endlich seine Chance gekommen. Ein schneller Entschluss ist vonnöten, denn mit dem nächsten Zug würde das Angebot bis nach Cumberland gelangen, und sobald es dort bekannt wäre, würde sich ein Zug von Menschen in Bewegung setzen, der den Preis des Landes um ein Vielfaches in die Höhe schnellen lassen wird. So erwirbt er, im Gefühl einen außerordentlich glücklichen Kauf zu tun, dreißig Morgen im Gebiet zwischen White Fork River und Indian Creek, ohne mit Inken Rücksprache zu nehmen. Er kann es selbst nicht in Augenschein nehmen – das Tauwetter hat eingesetzt. Die Schneeschmelze lässt Flüsse und Bäche anschwellen und über die Ufer treten, setzt das Land zu beiden Seiten des Flusses weithin unter Wasser und es ist nicht mehr möglich, mit einem Pferd den zugefrorenen Fluss hinaufzureiten.

Die Wochen, die nun vergehen, strapazieren ihrer beider Geduld. Brars, weil er endlich dorthin will, Inkens, weil sie den Gedanken an den bevorstehenden Umzug in die Wildnis möglichst weit von sich schiebt. Jeden Abend, wenn sie im Bett liegen, spricht Brar von dem neuen Land und schmiedet Pläne für die Sommerzeit. »Gutes Werkzeug ist wichtig«, sagt er. »Daran dürfen wir auf gar keinen Fall sparen. Und wir sollten uns einen Esel zulegen. Das sind geduldige und sehr leistungsfähige Tiere, die mehr aushalten als Pferde.«

Das Regierungsangebot ist inzwischen bekannt geworden, und nicht wenige überlegen, ihre Ersparnisse in den Landkauf zu investieren. Die besten Stücke – von denen Brar einen guten Teil besitzt – sind verkauft, das Gebiet ist relativ klein und schon jetzt ist der Preis beträchtlich gestiegen. Unter den Männern, die sich als Farmer niederlassen wollen, mahnen einige zur Vorsicht. Sie wollen gehört haben, dass in den inneren Wäldern am Fluss noch Indianer leben, die das Land bestimmt nicht freiwillig abtreten werden. Inken hört diese Gerüchte mit Sorge. Brar beruhigt sie damit, dass den Männern hier jedes Mittel recht ist, das neue Land zu entwerten, um den Preis zu drücken. Er verspricht ihr, genaue Erkundigungen einzuholen.

Ende März ist es endlich so weit. Brar erhält den Auftrag, eine Lieferung Holz weit flussaufwärts bis zum Handelsposten zu begleiten. Von dort aus können sie weiterziehen, die Zeit in der Papierfabrik für Inken endet.

Ein kleiner Flussdampfer soll sie bis zum Handelsposten bringen. Mit zunehmender Unruhe beobachtet Inken, wie die liebliche Landschaft mit ihren verstreut liegenden Farmen allmählich immer dünner besiedelt scheint und die Ufer immer undurchdringlicher bewaldet sind. Gegen Abend endlich legen sie an einem hölzernen Landungssteg an. Inkens Mut ist gesunken. Es gelingt Brar nicht, sie aufzumuntern. In dem Augenblick kommt eine buntgekleidete Kinderschar lachend und jauchzend herbeigelaufen, winkt dem ankommenden Dampfer zu. Ein Mädchen hält blühende Zweige in der Hand, ruft etwas und wirft die Blumen plötzlich über das Wasser hinüber zum Schiff; Inken fängt das Sträußchen auf – hellrosa und weißer Dogwood, violetter Crabapple –, das Mädchen strahlt. »Ein gutes Omen, nicht wahr?«, sagt Brar, der seine angeblich gar nicht abergläubische Insulanerin genau kennt.

Sie verbringen mehrere Tage am Handelsposten, bis der Auftrag erledigt ist und Brar einen Esel, zwei Hühner, ein Pferd und einen Wagen erstanden hat. Sie statten ihn provisorisch mit Decken als Schlafstatt aus, beladen ihn mit dem mitgebrachten Werkzeug, den Äxten und Sägen, Hämmern und Schaufeln, der Nähmaschine und den Seilen, erwerben Essensvorräte, Stoff, Federn, Küchengerät und eine handgezeichnete Karte. Schließlich ziehen sie frühmorgens bei Tagesanbruch stromaufwärts. Nach einem halben Tag treffen sie auf einen kleinen Zufluss, der nach Westen abbiegt. »Das muss er sein!«, ruft Brar. »Unser Indian Creek!«

Sie folgen seinem Verlauf durch ein unwegsames Tal, bis sie nicht mehr weiterkommen. Brar springt vom Wagen ab, studiert seine handgezeichnete Kopie der Regierungskarte und den Kompass. »Wir müssten schon ganz in der Nähe sein. Der Fluss macht eine Biegung nach Osten, dahinter beginnt unser Land.« Inken steigt ab und fächelt sich Luft zu. Nachdem bis vor kurzem tiefer Schnee alles bedeckt hat, ist es jetzt plötzlich sommerlich heiß. Der schnelle Wechsel, der typisch für das Klima in diesem Land ist, macht ihr zu schaffen. Mücken schwirren bereits in Scharen um ihren Kopf, und während Brar die Tiere ausschirrt, sieht sie sich entmutigt um. In dieser Einöde soll sie leben? Ist sie dafür den ganzen Weg von Sylt nach Amerika gekommen? Sie muss alle Kraft zusammennehmen, um sich nichts anmerken zu lassen. Heimlich streicht sie mit der Hand über Keikes Granatschmuck unter ihrem blauen Kattunhemd. Sie hat ihn jeden Tag getragen, aus Angst vor Dieben, wie sie Brar erklärt. Der wahre Grund aber ist, dass sie auf seinen Schutz vertraut wie auf die Kraft eines Amuletts. Darin ist sie eine echte Insulanerin geblieben.

Brar bahnt ihnen einen Weg in das dichte Unterholz. Als die Sonne sich anschickt unterzugehen, sind sie aus dem Wald heraus und gelangen auf eine sumpfige, von mächtigen Schwarzerlen gesäumte Wiese. Sie zieht sich bis an den Fluss, der hier ein Steilufer bildet. Die Flussbiegung hat eine Ausbuchtung geschaffen, einen kleinen See, und gerade in diesem Augenblick setzt das rote Sonnenlicht die stillstehende klare Wasserfläche in Brand. Begeistert ruft Brar: »Inken! Ist das nicht wundervoll? Dies ist der Platz für unser Haus! Hierher kommt unser Garten.«

Inken ist ebenfalls beeindruckt von der Schönheit des Ortes, und als Brar sie jetzt in den Arm nimmt, sie an sich drückt und küsst, wird sie ganz ruhig. »Inken. Wir sind endlich am Ziel!«, sagt er und sie nickt lächelnd. »Wir nennen unsere neue Heimat New Sylt.«

Als Erstes hat Brar seine Claims abgesteckt, dann eine breite Schneise durch den Wald geschlagen, die sumpfige Wiese entwässert und Bäume gefällt, um Platz zu schaffen für Haus und Garten, in dem Inken noch in diesem Jahr Gemüse anbauen will. Das ist ihr wichtig, nur so wird sie Vertrauen zu dem neuen Land fassen. In diesen Tagen denkt sie oft an die alte Keike, sieht sie mit ihrem grauen Haarknoten, aus dem sich immer ein paar Strähnen lösten, und hört sie sagen: »Hast du nur Kartoffeln und Kohl, ist dir auch im Winter wohl.«

Die Stämme der Schwarzerlen geben prächtige Bohlen ab für das massive Blockhaus, die der geduldige Esel in die rechte Position zieht und deren Fugen und Ritzen Inken mit Flechten und trockenem Moos ausstopft. Inken beginnt das Tier zu mögen, das fast immer sanft und willig ist, anders als das schnell scheuende nervöse Pferd. Sie taufen ihn auf den Namen Jackie, das Pferd bekommt den Namen Libelle. Vorläufig gibt es nur einen einzigen Raum, in dessen eine Ecke Brar einen Ofenherd mauert mit einem Rauchabzug durchs Dach. Für die dunkle Schmalseite hat er ein massives Bett gezimmert und für die Mitte des Raumes einen Tisch mit zwei Stühlen. Inken näht Federbetten, Wäsche, eine Tischdecke, Servietten, Handtücher und Vorhänge für das kleine Fenster Richtung Osten, in dem man die Sonne aufgehen sieht. Immer hat sie dabei das Haus von Kapitän Raue vor Augen und setzt alles daran, es ihnen so gemütlich wie möglich zu machen.

Brar spürt, dass seine Frau trotz allem Heimweh hat. Um ihr eine Freude zu machen, baut er ihr zu ihrem Geburtstag nach Süden hinaus eine kleine überdachte Terrasse. Dort lässt es sich, in Felle gewickelt, schon im späten Winter aushalten, um ein paar Sonnenstrahlen einzufangen. Aus dem Rest der Tischplatte schnitzt er ein Schild, auf das Inken mit blauer Farbe den Namen ihres Häuschens malt: New Sylt.

*

Die intensiven Ausflüge in die Vergangenheit hatten Liz so sehr erschöpft, dass sie eine Pause brauchte. Sie fuhr in die Stadt. Als sie ihren Briefkasten öffnete, fiel ihr ein ganzer Stapel Post entgegen, darunter ein von Hand adressiertes Kuvert einer Galerie in ihrer Straße. Sie riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen: Das Gemälde, das dem Besitzer der Galerie kürzlich als ein Werk des spanischen Malers Sorolla ohne weitere Provenienzbelege zum Verkauf angeboten wurde, habe sich nach eingehender Prüfung als Fälschung erwiesen. Man bitte darum, es abzuholen und die der Galerie entstandenen Kosten für die Expertise zu begleichen. Inese! Sie brauchte Geld und hatte offenbar versucht, den Sorolla zu verkaufen. Aber wieso eine Fälschung? Annie hatte das Bild in Valencia vom Maler persönlich geschenkt bekommen. Sie hatte dort gelebt und eine Weile sogar Malunterricht von Sorolla bekommen. So jedenfalls hatte sie es Liz und Jenna einmal erzählt.

Liz’ Vater hatte das Bild schätzen lassen. Der Gutachter hatte eine fünfstellige Summe genannt. Liz sah ihren Vater vor sich, wie er ihr stolz den Sorolla übergab: »Für den Fall, dass du einmal in Geldnot gerätst.«

Sie machte sich zur Galerie auf. Die Schaufenster waren mit schwarzem Papier verklebt. Drinnen hängten zwei Männer in Overalls große Leinwände auf. Fotorealistisch gemalte Akte von dicken Frauen. Eine Angestellte kam auf Liz zu. Als Liz erklärte, worum es ging, zeigte sie auf einen verpackten Gegenstand, der an der Wand lehnte. Liz könne das Werk wieder mitnehmen gegen eine Empfangsbestätigung und Hinterlegung einer Kreditkartennummer. »Wegen der Kosten für die Expertise müssen Sie mit dem Chef verhandeln. Er ist in zwei Wochen aus Shanghai zurück.«

Liz fuhr in die Hütte zurück. Sie hängte den Sorolla so auf, dass sie ihn während der Arbeit sehen konnte. Unwiderstehlich zog das Gemälde sie in die Welt, die sie beschrieb.

*

Der Sommer ist feucht und heiß, die Mücken plagen Inken einige Wochen lang unmäßig, doch ihre Gemüsebeete entwickeln sich prächtig, und allmählich gewöhnt auch sie sich an die Wärme. Eines Morgens liegen die beiden mitgebrachten Hühner tot im Garten, bis zum Zaun sind sie geschleppt worden. Brar stellt Fallen auf, um den Räuber zu fangen, ein Fuchs oder ein Waschbär, vermutet er. Inken hat ein solches Tier noch nie gesehen und ist gespannt. Wenn es die Zeit erlaubt, geht Brar auf die Jagd oder zum Fischen. Immer wieder bringt er Inken Kaninchen, Rebhühner oder Fische mit, die Abwechslung in die vorläufig noch etwas eintönige Küche bringen. Brar hat damit begonnen, ein Boot zu bauen, ähnlich den Indianderkanus am Fluss, aus einem einzigen Baumstamm. Die Tage verlaufen gleichförmig und sind von morgens früh bis abends spät angefüllt mit Arbeit; die Zeit vergeht, viel schneller als gedacht ist es Herbst. Der Oktober überrascht die beiden, die auf ihrer Heimatinsel nur wenige Bäume gehabt haben, mit einem prächtigen Schauspiel. Die fächerartigen Blätter der Sugar Maples, der Rotahornbäume, die sich von ihrem Haus aus die Hügel hinaufziehen, haben sich mit dem ersten Nachtfrost plötzlich verfärbt, wie ein Flammenmeer lodern Orange und Gelb, Rot und Rost rund um das Haus herum auf. Inken bekommt nicht genug von den leuchtenden Farben, läuft immer wieder hinaus, um den Indian Summer zu bewundern.

An einem der letzten warmen Tage, deren Temperaturen in den hohen Zwanzigern nicht vermuten lassen, dass es nachts bereits ersten Raureif gibt, macht Brar sich auf zum Handelsposten. Er will zwei Eichenstämme verkaufen und Vorräte für den Winter holen. Zum ersten Mal bleibt Inken für eine Nacht allein zurück. Den ganzen Tag über hält sie sich beschäftigt, versucht, nicht daran zu denken, dass Brar fort ist, und als es endlich Abend wird, ist sie erleichtert, ins Haus gehen zu können. Es wird dunkel und sie will die Petroleumlampe anzünden. Doch mitten in der Handbewegung hält sie inne. War da eben ein Geräusch? Sie lauscht, doch nichts Ungewöhnliches ist zu hören. Nur der leichte Wind, der durch die Bäume geht, es ist wohl nur ein Ast zu Boden gefallen. Leise tritt sie neben das kleine Fenster und späht vorsichtig hinaus. Bildet sie es sich ein oder ist da eben ein Schatten über die Uferböschung verschwunden? Eine Weile starrt sie in die Dunkelheit, ohne etwas zu erkennen. Jetzt aber hat sie Angst. Plötzlich glaubt sie, überall den Blick unsichtbarer Augen zu spüren. Sie verzichtet auf das Licht, verzichtet auf ein warmes Abendessen und legt sich angekleidet ins Bett, für alle Fälle. Vorher hat sie Jackie ins Zimmer geholt. Sie hofft, dass sie seine Nähe ermutigt. Sie hat ihm Futter in eine größere Schüssel gegeben und während sie auf jedes Geräusch lauscht, hört sie das Mahlen seiner Zähne. Obwohl sie von der körperlichen Arbeit erschöpft ist, spürt sie, wie sie wacher und wacher wird, je länger sie liegt. Als ein großer Vogel sich auf dem Dach über ihr niederlässt, schreit sie leise auf. Und sagt sich im selben Moment: Es ist unsere Eule, die oft dort oben sitzt. Sie versucht, ihre Vernunft einzuschalten. Es ist ja lächerlich, wer soll denn mitbekommen, dass sie eine Nacht allein im Haus ist? Die Zeit vergeht ihr endlos langsam. Als der erste blassgrüne Streifen sich am Himmel im Fenster nach Osten abzeichnet, verspürt sie unendliche Erleichterung. Gott sei Dank, die Nacht ist vorbei. Heute kommt Brar zurück!

Obwohl sie kaum geschlafen hat, fühlt sie sich nicht müde. Eher überwach und umso empfindlicher. Der Tag beginnt traumhaft schön und sie läuft in ihren Garten. Dort funkeln die Spinnennetze im Licht, als seien sie mit Edelsteinen besetzt, die violetten und orangefarbenen Zinnien leuchten aus dem Schatten. Nach einem Frühstück mit heißem Tee und Porridge will sie ihren Gemüsegarten umgraben. Sie holt sich den Spaten und beginnt die Erde zu bearbeiten, dort, wo im nächsten Jahr ihre Zwiebeln stehen sollen.

Dann hört sie vom Fluss her ein Geräusch. Im ersten Moment hält sie es für das Aufklatschen eines springenden Fisches aufs Wasser, so wie es zu hören ist, wenn die Hechte auf Jagd gehen. Doch gleich darauf wiederholt es sich, und dann noch einmal – kein Fisch springt mit dieser Gleichmäßigkeit. Hellhörig geworden richtet sie sich von ihrer Arbeit auf und blickt auf den Fluss hinab. Nichts ist zu sehen. Sie beobachtet die Wasserbucht, auf der sich winzige Wellenkreise an den Rändern verlaufen. Doch ein Fisch? Plötzlich, als für einen kurzen Augenblick eine Wolke die Sonne freigibt und ihr Licht auf den See fällt, erkennt Inken neben den schwarzen Schatten der Erlen am Ufer das Spiegelbild eines Kanus auf dem Wasser. Das Boot selbst bleibt verborgen, so nah fährt es unter den überhängenden Zweigen entlang – dann verdeckt eine Wolke die Sonne wieder und schluckt das Bild. Doch so kurz der Moment gewesen ist, so sicher ist sich Inken. Unwillkürlich duckt sie sich. Noch nie, seitdem sie hier sind, ist jemand aus dieser Richtung den Fluss herabgekommen. Die Trapper, die ihre Biberfallen kontrollieren, kommen den Fluss von unten herauf und kehren meist hier wieder um. Will dieses Boot, das so heimlich und leise das Ufer entlanggleitet, unbemerkt bleiben? Inken späht durch die Zweige. Schemenhaft sieht sie den Rumpf, im nächsten Moment paddelt das Kanu unter den Bäumen hervor – ihr stockt der Atem. Zwei Männer mit nackten Oberkörpern und langen Haaren sitzen hintereinander, jeder ein Paddel in der Hand, hinter ihren Rücken ragen Gewehrläufe auf.

Inken spürt, wie ihr das Herz bis zum Halse schlägt. Ausgerechnet heute ist sie allein. Instinktiv wendet sie sich dem Haus zu, um sich zu verbergen. Doch plötzlich, als sie es vor sich liegen sieht, diesen dunklen kleinen geschlossenen Kasten, erscheint es ihr wie eine Falle. Sie mag nicht weiterdenken. So läuft sie zurück. Leise versteckt sie den Spaten und geht auf die Ahornbäume zu. Dort führt ein Weg den Hügel hinauf, von wo aus man auf das Haus und den Fluss hinabblicken kann. Sie bewegt sich leise, versucht, bergauf nicht so schwer zu atmen, obwohl es sie Mühe kostet, denn sie fühlt sich schwach nach der durchwachten Nacht. Trotzdem knacken immer wieder Zweige unter ihren Schritten; ein Vogel fliegt auf und schreit schrill, dass sie zusammenfährt. Sie kann ein Husten kaum unterdrücken. Mit jedem Schritt fallen ihr die Dinge ein, die man in der Papiermühle über Indianer erzählt hatte: wie sie die eben aufgebauten Häuser der Siedler niederbrannten, die Felder verwüsteten, die Menschen niedermetzelten. Panik erfasst sie. Blindlings rennt sie jetzt, immer wieder streifen Zweige sie und zerkratzen ihr das Gesicht; sie achtet nicht auf das Brennen auf den Wangen, auf der Stirn, auf den Schmerz im Fußknöchel, als sie umknickt. Plötzlich hört sie ein metallisches Klacken und im nächsten Moment schreit sie auf. Direkt vor ihr steht ein Mann unter den Bäumen. Sie kann sein Gesicht, das im Schatten liegt, nicht erkennen, nur den Glanz seiner stechend schwarzen Augen. Und doch ist sie sicher, es ist einer der beiden aus dem Kanu. Stumm steht er da, mustert sie. Das Klacken, das sie gehört hat, muss von dem Gewehr gekommen sein, das er in der Hand hält.

Inken zittert am ganzen Körper, außer Atem von der Anstrengung, vor Angst – aber trotzdem kann sie ganz klar denken. Wie hat er sie so schnell einholen können? Er muss sie längst beobachtet haben. Sie muss ihm vorkommen wie ein verschrecktes Kaninchen. Weshalb hält er das Gewehr in der Hand? In allen Erzählungen, die sie gehört hat, gebrauchten die Indianer Messer und Tomahawks, keine Gewehre, die für ein Nahziel wenig geeignet sind. Noch immer steht er reglos, den Blick auf sie geheftet. Sie nimmt schließlich ihren ganzen Mut zusammen und besinnt sich auf ihr bisschen Englisch. Schließlich bringt sie hervor: »How are you?« Die Absurdität dieses Satzes, die unfreiwillige Komik dieser Frage wird ihr im selben Moment bewusst, als sie sie ausspricht. Zu ihrer Überraschung verzieht sich das Gesicht des Mannes zu einem Lachen. Fassungslos hört sie ihn in perfektem Englisch antworten: »Well, I’m fine. How about yourself?«

Inken ist so konsterniert, dass ihr nichts mehr einfällt. Dann spürt sie, wie sich aus ihrem Innern ein Lachen heraufarbeiten will, das in ein Weinen umzuschlagen droht. Um Gottes willen. Der Mann dreht sich zur Seite, als wäre er verlegen und wüsste nicht, was er mit einer Frau anfangen soll, die dabei ist, in Tränen auszubrechen. Sie reißt sich zusammen. Und jetzt sieht sie, dass sie in ihrer Angst vieles falsch wahrgenommen hat: Sein Oberkörper ist gar nicht nackt, vielmehr trägt er ein weiches helles Lederhemd, das wie angegossen sitzt. Sein vermeintlich langes Haar ist in Wirklichkeit ein Tuch im Nacken als Schutz gegen zu viel Sonne. Er ist kein Indianer. Beschämt blickt sie zu Boden. Wie hat sie so in Panik geraten können? Aber: Weshalb ist er ihr gefolgt?

Sie macht eine Geste, die bedeuten soll: Gehen wir zum Haus. Er nickt und geht voran, höflich die Zweige für sie aus dem Weg haltend. Als sie unten ankommen, ist der andere da, ebenfalls kein Indianer. Es sind Jäger, und sie sind gekommen, um ihr Fleisch zum Kauf anzubieten. Sie haben das Wild vom Fluss hergetragen und zeigen es ihr: ein Hase, ein Fasan, zwei Enten. Inken nickt, es sind schöne Wildtiere, sicher ein gutes Fleisch. Sie würde den Hasen zerteilen und in Gläser einmachen, das Entenfett für den Winter auffangen und von dem Fasan Brar einen Festtagsbraten zum Empfang bereiten zur Einweihung ihres neuen Hauses. So geht sie, um Gemüse, Eier und Brot zu holen, Kartoffeln in einen Sack zu schütten, die sie als Gegenleistung wollen für das Fleisch. Als der Handel getätigt ist, tippen die Jäger mit dem Finger gegen ihren Hut und kehren zu ihrem Kanu zurück. Während Inken ihnen nachsieht, glaubt sie plötzlich zu wissen, weshalb sie so panisch reagiert hat, weshalb sie nicht schlafen konnte, weshalb sie alles so übertrieben wahrgenommen hat: Sie ist in anderen Umständen.

*

Im ersten Winter in ihrem neuen Haus drücken mächtige Schneelasten auf das Dach, doch Brar hat es fest und sicher gebaut. Um zum Holzschuppen zu kommen, muss er einen Tunnel in den Schnee graben. Zum Glück haben sie Vorräte an Mehl, Reis und Fett, an Speck, Dörrobst, Zucker, Salz und Tee eingelagert. Zu Weihnachten gibt es den eingemachten Hasen mit Backpflaumen, wie früher zu Haus, und zum neuen Jahr den letzten Rest vom feinen Entenschmalz. Die Vorräte an Holzscheiten sind unerschöpflich für den sparsamen selbstgemauerten Ofen, auf dessen Sims Inken eine Messingteekanne gestellt hat und kleine Andenken, so wie bei Kapitän Raue. Es ist einsam, doch das sind sie beide gewohnt. Einmal kommt ein Fallensteller den Creek bis zu ihnen herauf. Von ihm erfahren sie, dass die Papiermühle erneut niedergebrannt ist und es viele Familien in alle Winde verstreut hat. Als im Frühjahr die Sonne den Schnee forttaut und das frische Grün sprießt, spürt Inken zum ersten Mal das Kind in ihrem Bauch. Brar küsst sie vor Freude auf die Stelle und endlich hat sie das Gefühl, wirklich angekommen zu sein in der Neuen Welt.

Im Juni bringt Inken mit Hilfe einer Hebamme, die Brar geholt hat, einen gesunden Jungen zur Welt. Sie taufen ihn Fred, die amerikanische Version von Ferdinand, dem zweiten Namen von Inkens Vater John. Er entpuppt sich als ein stilles, aufmerksames Kind, das wenig Zeit beansprucht; während seine Eltern arbeiten, liegt Fred zufrieden im Schatten eines Baumes und spielt mit Käfern und Gräsern.

Mit ihrer kleinen Farm geht es aufwärts. Die Ernten werden größer. Brars Geschick im Fallenstellen und im Gerben der Felle von Biber, Nutria und Waschbär verbessert sich, und er verkauft immer mehr am Handelsposten.

Jahre vergehen. Sie gleichen sich so, dass die Zeit stillzustehen scheint. Dann wird Inken wieder schwanger. Im April drei Jahre nach Fred folgt die Geburt ihrer Tochter. Über einen passenden Namen haben die Eltern lange nachgedacht: Inken will Annemarie, den Namen ihrer Mutter, doch das ist Brar zu lang. Er soll amerikanischer klingen, findet er, entweder Anne oder Mary. Inken klingt Mary zu heilig und Anne klingt auf Englisch nicht richtig, einsilbig, zu vernünftig für ihren Geschmack. So kommt es zu Annie, ein Anklang an Annemarie, und – wie es sich im Amerikanischen gehört – geschrieben mit ie. Annie hat Inkens dunkles kräftiges Haar geerbt sowie deren Anmut in den Bewegungen; sie ist des Vaters erklärter Liebling.

Die Zeit, dieser unerbittlich sich drehende Mühlstein, vergeht bei aller Langsamkeit viel zu schnell. Manchmal möchte Inken sie anhalten, in solchen Momenten wie Annies fünftem Geburtstag. Brar schenkt ihr ein neugeborenes Lämmchen, das sie selbst mit der Flasche aufziehen darf. »How do you want to name it?«, fragt er seine Tochter, und ohne zu zögern antwortet sie: »Mary.« »Why this?«, fragt Brar amüsiert. Im Gegensatz zu Inken, die Wert darauf legt, dass die Kinder Deutsch lernen, bemüht er sich, ihnen das Englische nahezubringen. »Because«, gibt das Mädchen zur Antwort, »her name is Mary.« Fred, der große Bruder, der bald acht wird, hilft bereits auf dem Feld. Es stehen inzwischen drei Kühe im Stall, im Hof pickt eine Hühnerschar, und in diesem Jahr ziehen sie sogar zwei Schweine auf. Die von Inken gepflanzten weißen und violetten Fliederbüsche gedeihen prächtig, im Obstgarten wachsen Apfel- und Pflaumenbäume, im Nutzgarten Zwiebeln, Kohl, Kartoffeln, Möhren und Gurken zwischen Blumen in allen Farben; das ursprüngliche Holzhaus hat Brar erweitert um zwei Kammern und ein Obergeschoss mit den Schlafräumen. Außen läuft eine weißgestrichene Veranda einmal ums ganze Haus, zur besonderen Freude von Inken, die hier mehrmals am Tag für ein paar Minuten innehält, um die in jede Richtung spektakuläre Aussicht zu genießen. In den Juninächten kommt es ihr vor, als sei der Sternenhimmel auf die Erde gefallen, wenn Millionen funkelnder Glühwürmchen über den Gräsern auf und ab tanzen.

Warum verstreicht hier die Zeit so anders als in unserer alten Heimat, schreibt sie in ihr Tagebuch. Sie ist schnell wie unser Fluss und zugleich scheint sie stillzustehen wie das Wasser in unserem Brunnen. Nichts geschieht und darum vergeht alles so schnell und zugleich so langsam.

Doch dann geschieht etwas. Brar bringt vom Handelsposten einen Brief für Inken mit. Aus Staberhuk auf der Insel Fehmarn. Darin teilt Greta, die jüngere Schwester von Keike, den Tod ihrer Muhme mit. Sie habe für Inken ein Erbstück hinterlassen, das jetzt auf Fehmarn liege und von dem Greta nicht weiß, wie sie es ihr zukommen lassen soll. Ob sie vielleicht eines Tages kämen, um es selbst in Empfang zu nehmen?

Inken weint, als sie den Brief gelesen hat. Annie sieht es und schmiegt sich erschrocken an sie. »Was ist los, Mommy? Warum weinst du denn?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte, mein Liebling.« Sie hebt ihre Tochter auf den Schoß. »Es hat mit der Insel zu tun, von der dein Vater und ich stammen.« »Was für eine Insel?«, bohrt Annie weiter, wie es ihre Art ist, und Inken versucht zu erklären. Aber das geht nicht so einfach, Annie will alles ganz genau wissen, dabei müssen jetzt eigentlich die Zwiebeln ausgegraben werden; so muss Inken versprechen, am Abend ausführlicher zu erzählen.

»Und warum sind wir nicht auf dieser Insel?«, will Annie wissen, als beide Kinder im Bett liegen und Inken erwartungsvoll anblicken. »Also gut, Annie. Ich will euch von Sylt erzählen, von meinem Vater John, meiner Mutter und von der alten Keike, damit du weißt, woher deine Eltern kommen.« Und zum ersten Mal hören Annie und Fred die Geschichte ihrer Eltern, vom Meer und seinen Stürmen, von Engellene und Keike, vom Seemoossammeln und vom Austernernten auf der Nordseeinsel. Sie können nicht genug bekommen von dieser fremden Welt. Jeden Abend betteln sie, die Mutter solle weitererzählen, und so wird es Inken in diesem Sommer eine liebe Gewohnheit, sich zur Zeit der Abenddämmerung in den Schaukelstuhl auf der Galerie vor die Tür zum Schlafzimmer der Kinder zu setzen, und, während die Grillen und Zikaden ihre Musik machen, von der Alten Welt zu erzählen, die wegen ihrer aufmerksam lauschenden Kinder für Inken wieder aufersteht.

Während Annie immer wieder Neues über Keike, über Engellene und das Seehundbaby hören will, interessiert Fred sich vor allem für Inkens Vater, dessen Namen er schließlich trägt. Inken beschreibt ihm die Sturmflut, in der ihr Vater John Ferdinand ums Leben kam: das tagelange ohrenbetäubende Heulen des Windes, das Knallen der Wellen, die Angst, die alle ausstanden. »Es ist gut, dass ihr von der Insel weggegangen seid«, fasst Fred Inkens Worte zusammen, und sie streicht ihm über das gewellte Haar, das sich genauso anfühlt wie das von Brar.

»Ja, du hast recht. Ich bin nur traurig, dass die alte Keike euch nicht mehr kennengelernt hat. Aber die Fahrt übers Meer nach Europa zurück ist weit, erst später, wenn ihr größer seid, werden wir sie zusammen machen. Schließlich wartet auf Fehmarn noch ein Erbstück auf mich.«

In dieser Nacht träumt Annie, sie fahre über den Ozean nach Europa, auf eine Insel, die übersät ist mit blauen Blumen inmitten eines roten Meers. »Und auf dem weißen Sand sitzt ein großes Lebewesen aus duftenden Kräutern und wartet, dass Inken es endlich abholt«, erzählt sie ihrem Bruder gleich am Morgen.

»Was soll denn das sein?«, fragt Fred. »Ein Lebewesen aus Kräutern? Und außerdem ist das Meer nicht rot, das hast du falsch geträumt.«

»Hab ich nicht«, widerspricht Annie bestimmt, »es steht so in der Bibel, Mommy hat es doch selbst vorgelesen. Und du bist ganz schön dumm, wenn du nicht begreifst, dass es das Erbstück ist, das auf Mommy wartet.« Fred lacht, als er das hört, und Annie wird wütend.

»Das Erbstück«, wiederholt ihr Bruder. »Du weißt ja gar nicht, was das ist. In deinem Kopf gehen die beiden Sprachen wie Kraut und Rüben durcheinander. Vielleicht weil Daddy mit uns nur Englisch spricht und Mommy immer nur Deutsch. Jedenfalls aber ist das Erbstück bestimmt nicht aus herbs gemacht.«

»Und warum nicht, bitte schön? Wo es doch so heißt?«

Fred weiß nicht, was er gegen diese Logik einwenden kann. Es gibt niemanden, den er mehr liebt als seine Schwester, abgesehen von Mommy, aber wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist mit ihr nicht mehr zu reden. Lachend rennt er hinaus in den Garten, scheucht Annies Lamm über die Weide und verschwindet im Wald.

Wie schon in den vergangenen Jahren schließt sich Brar immer wieder den Jägern an, zieht mit ihnen den Fluss hinauf in die noch unberührten Wälder. Jedes Mal steht Inken Angst aus, bis er heil wieder zurück ist. Doch der Vorrat an Fleisch, das sie pökelt und einkocht für den Winter, ist hochwillkommen. Wenn Inken in den kleinen Keller geht, den Brar ihr gegraben hat, und die gut gefüllten Regale betrachtet, überkommt sie ein Gefühl von Reichtum und Überfluss: In großen Gläsern schwimmen die gelben Kürbisstückchen und Möhren, dunkelrote Pflaumen und grüne und weiße Bohnen, die Kartoffeln lagern in einer dunklen Kiste, im Holzfass das Sauerkraut; sie hat Gurken in Essig eingelegt und Marmelade gekocht von Johannisbeeren, Brombeeren, Himbeeren und Stachelbeeren; das Entenfett schimmert seidig weiß und die gekochten Rebhühner im Gelee sehen golden aus; mit Annie und Fred hat sie Pilze gesammelt, die noch trocknen und einen angenehmen Duft ausströmen, von der Küchendecke hängen geflochtene Bündel mit Zwiebeln und Knoblauch. Es ist mehr als genug, was die Natur ihnen gegeben hat, nicht einzurechnen die Freude an der Blütenpracht den ganzen Sommer über, so dass Inken fast jeden Tag einen neuen verschwenderisch blühenden Blumenstrauß pflückt und in die Vase auf dem Esstisch stellt. Ihre Tochter Annie liebt Farben über alles. Immer wieder malt sie diese Sträuße, mit Farben, die sie aus zerriebenen Kräutern und Blütenblättern gewonnen hat, und kann sich nicht sattsehen an den zarten Blütenblättern und den feinen Linien. Ihrer Mutter fallen Keikes Worte ein, die damals sagte: »Die schönsten Blumen welken doch bald dahin. Das Ziel ist das Überleben – das allein ist schön und wichtig, und das ist der Lauf der Welt.« Sie lächelt in sich hinein. Unwillkürlich fällt ihr ein, wie sie Keike gegenüber mit dem Fuß aufstampfte und sagte: »Diese Blüten zeigen immer nur das gleiche Muster. Jahr für Jahr, ohne Unterschied. Ich will mehr.« Immerhin hat sich der Lauf der Welt für sie und Brar doch ziemlich geändert. Geht es ihnen nicht so viel besser als auf Sylt? Zufrieden sieht sie ihrer Tochter zu. Und, wie so manches Mal schon, spürt Inken: Dies ist das Glück. In diesem Moment leben wir.

Ein paar Tage später geht Fred mit seiner Schwester über die Wiesen an den Fluss, wie so oft. Vom Steilufer aus blicken sie auf die kleine Ausbuchtung, die Brar Inkensee getauft hat, folgen von dort aus einem Rinnsal, das sich zu einem zweiten kleinen See weitet im dämmrigen Grün hoher Bäume. Im trüben Licht entdeckt Annie etwas Weißes im Wasser, das von innen heraus zu leuchten scheint. Es ist eine Seerose, die an diesem Morgen aufgeblüht ist. Annie ist begeistert, Fred interessiert es nicht, er will lieber seine Angeln am anderen Ende des Ufers prüfen. Als er zurückkommt, ist Annie verschwunden. Sie wird bereits nach Haus gegangen sein. Doch dort ist sie nicht, und als er die Mutter fragt, die hinten im Garten arbeitet, antwortet sie: »Ich dachte, sie ist bei dir.«

»Nein, nur bis zum Fluss«, sagt er und verstummt. Jetzt wird ihm unheimlich. Er erzählt der Mutter, wo sie gewesen sind, und alarmiert rennt Inken mit Fred im Schlepptau an den Fluss hinunter. Während sie laufen, steht Inken das Gesicht von Engellene plötzlich vor Augen.

Sie rennt, stolpert über Baumwurzeln und sumpfige Höcker aus Gras, Fred kann kaum folgen. Am zweiten See angekommen schreit sie ihrem Sohn zu: »Wo genau hast du sie zum letzten Mal gesehen?«

Fred zeigt auf die Stelle am Ufer, wo noch ein Abdruck von Annies Fuß im Schlamm sich mit Wasser füllt. Der Untergrund in diesem See, anders als am Fluss vorne, ist weich, zieht einen förmlich nach unten. Inken versucht, etwas zu erkennen, aber das Wasser ist trübe. Äste liegen im Schlamm, Laub vom Vorjahr. Plötzlich schreit Fred: »Die Seerose. Die weiße Seerose da vorne bei dem umgestürzten Baum ist verschwunden.«

»Und vorhin war sie noch da?« Inken ahnt, was geschehen ist, als sie Freds angstverzerrtes Gesicht sieht. Im nächsten Moment wirft sie sich ins Wasser und schwimmt auf den Punkt zu, wo sie die Seerose vermutet. Das Wasser riecht widerlich modrig. Zwischen den dicken Stängeln, die vom Grund an die Oberfläche reichen, braucht sie ihre ganze Kraft, um voranzukommen. Bitte, betet sie innerlich, bitte Engellene, mach, dass Annie …

Der umgestürzte Baumstamm dreht sich, als sie versucht, ihn zu erklimmen, Aber schließlich gelingt es ihr, sich aufzurichten, so dass sie etwas erhöht sitzt. Und da sieht sie plötzlich etwas Weißes im grünbraunen Wasser schimmern, die Seerose, unter Wasser gezogen von einer kleinen Hand, die jetzt kraftlos danebentreibt.

Mit einem Aufschrei stürzt sie sich darauf, zieht an der Hand, die sich kaum bewegen lässt, so sehr ist der Arm in den Schlingpflanzen gefangen; Inken zerrt an ihnen, bis diese plötzlich mit einem Ruck ihren Widerstand aufgeben und das Mädchen aus dem dunklen Wasser an die Oberfläche kommt. Inken reißt ihre Tochter empor, schüttelt sie, schlägt ihr mit der Hand auf den Rücken, bis Annie zu husten beginnt. Schließlich kommt sie zu sich. Fred führt Mutter und Schwester an Land zurück, wo sie niedersinken. Inken nimmt ihre beiden Kinder in den Arm, lautlos weinend und zu Tode erschöpft. Schließlich schlafen sie in der warmen Sonne ein. So findet sie Brar, als er von der Jagd zurückkehrt und sich, beunruhigt über das leere Haus, sofort auf die Suche nach seiner Familie gemacht hat.

*

Inkens abendliche Vorlesestunden sind für die Kinder der Ersatz für den Unterricht, den sie nicht erhalten, weil die nächste Schule zu weit fort liegt. Beide können inzwischen rechnen, lesen und schreiben, und Brar legt Wert darauf, ihnen vom Handelsposten jedes Mal Bücher mitzubringen. Fred hat das Geologiebuch mit den Landkarten am liebsten, auf denen er die gewundenen blauen Linien der Flüsse mit dem Finger entlangfährt bis zur Mündung. Der Mississippi beeindruckt ihn mit seiner Größe, und er schwört sich, eines Tages, wenn er groß genug ist, jenen Fluss zu befahren bis ans Meer. Das Meer, so stellt er sich vor, muss eine wunderbar große Senke voll Wasser sein, die in den verschiedensten Blautönen schillert, eine Art Himmel auf Erden. Immer wieder bittet er Brar, ihm vom Meer zu erzählen, von den Häfen, den Schiffen, der eigenen Seereise über den Atlantik und von der Insel Sylt.

Davon kann Annie nie genug bekommen. Sie stellt sich eine Insel vor wie ein kleines Paradies, auf der alle Vögel und Tiere, alle Heilpflanzen und Blumen wachsen, die sie aus ihren Büchern abzeichnet und mit ihren englischen und deutschen Namen versieht. Sie lernt schnell, bringt bald ihrer Mutter Englisch bei.

Durch all die Zeiten hindurch bleibt Inken ihren Briefen an sich selbst treu; jeden Sonntagabend setzt sie sich an den Küchentisch und schreibt ein Stückchen weiter, etwas, das sie längst nicht mehr missen möchte. Mit den Jahren hat sich eine ansehnliche Anzahl von beschriebenen Blättern angesammelt, und sie hat sie inzwischen nach dem Datum geordnet und mit roten und blauen Bändern zusammengebunden, mit jedem Jahr wechselt die Farbe. Manchmal möchten die Kinder etwas aus diesen Briefen hören, aus der Zeit, als sie noch ganz klein waren, und Inken löst ein bestimmtes Band von einem Bündel und liest ihnen vor.

Schon bald beginnen auch die Kinder, ihre Erlebnisse festzuhalten. Fred in Worten, Annie hauptsächlich in Bildern. Mit anderen Kindern haben die beiden keinen Kontakt, sie kennen es nicht anders. Inken vermisst die Gesellschaft von Siedlernachbarn ohnehin nicht. An die Zeit in der Papiermühle hat sie keine guten Erinnerungen. Sie ist froh, nicht gezwungen zu sein, die Farm zu verlassen. Das Leben mit Brar und den Kindern, die seltenen Besuche von Jägern und Trappern oder von Männern, die Brar manchmal vom Handelsposten mitbringt, sind ihr genug.

Nicht nur ihre Beobachtungen über die Kinder notiert Inken, sondern auch die über ihre Umgebung: das Forttauen des Eises vom Wabash River, die Ankunft der ersten Schwalben, das Aufblühen der Rosenbüsche, die Erntezeiten von Beeren und Pilzen – und so bekommt das Jahr seine Struktur. An den Geburtstagen der Kinder geht Brar mit ihnen zum Türpfosten, um ihre Größe zu messen. Er legt ihnen ein Buch auf den Kopf und ritzt eine Kerbe ins Holz. An Annies nächstem Geburtstag sind es drei Zentimeter mehr als im vergangenen Jahr. Seit Fred elf ist, schießt er in die Höhe. Inken schreibt alles auf. Sie will Annie eine Sahnetorte backen und mit den letzten eingekochten Brombeeren vom Vorjahr verzieren. Es ist ein sehr warmer Frühlingstag, fast schon sommerlich, und auf die Obstbäume scheint ein Schnee von Blüten gefallen zu sein. Inken will den Geburtstagstisch im Garten unter der Birke decken. Aus dem Ofen dringt wunderbar süßer Duft. Sie stellt den Tortenboden zum Auskühlen vor das geöffnete Küchenfenster. In diesem Moment entdeckt sie Annie, die in den blühenden Apfelbaum geklettert ist. Seine duftigen rosafarbenen Blüten haben es ihr angetan, stillvergnügt singt sie vor sich hin – doch Inken hält wie versteinert inne. Dieses Bild hat sie schon einmal gesehen. In ihrem Alptraum in der ersten Nacht in der Neuen Welt. Alles genau wie damals: der Fluss, der blühende Baum, das Mädchen darin. Sie spürt, wie sich etwas in ihr zusammenkrampft. Angst. Etwas Furchtbares war im Traum geschehen. Dann wehrt sie sich dagegen. »Leg deinen Inselaberglauben ab, Inken«, sagt sie laut. »Hier bist du in der Neuen Welt und dein sehnlichster Traum ist in Erfüllung gegangen: eine glückliche Familie, ein eigenes Haus, ein eigener Garten. Old worrywart!«, beschimpft sie sich selbst mit dem neugelernten Wort. Und kann doch nicht verhindern, dass sich auf diesen Tag im Licht des heraufziehenden Sommers ein leichter Schatten legt.

Als wieder die Tagundnachtgleiche kommt, geht der große Vollmond direkt gegenüber der untergehenden Sonne auf. Von der Veranda ihres Hauses aus sehen die vier zu, wie er allmählich Licht annimmt. »Der Erntemond«, sagt Brar, »auch Schnittermond genannt. Bei diesem Licht lassen sich die Kornfelder auch nachts noch abernten.«

»Es ist ein Schnitter, der heißt Tod«, sagt plötzlich Annie. Inken fährt zusammen. »Woher hast du das, mein Kind?«

»Aus dem Liederbuch.«

»Den Tod«, sagt Brar, »nennt man auch den Sensenmann. Er schneidet die Menschen mit der Sense aus dem Leben wie wir das Korn vom Feld.«

»Hört bitte auf, so zu sprechen. Ihr redet den Tod noch herbei.«

»Inken«, sagt Brar. »Die Insulanerin mit ihrem Aberglauben kommt durch.«

Aber auch ihm ist nicht wohl in seiner Haut. Und tatsächlich soll sich dieser Satz als ein böses Omen erweisen.

*

Im Oktober verletzt sich Brar schwer beim Baumfällen. Er kann nicht ausweichen, als eine angeschlagene Eiche sich plötzlich dreht und ihre Richtung ändert. Ihr Stamm begräbt ihn unter sich, es dauert Stunden, bis Waldarbeiter ihn befreien und zum Handelsposten bringen können, wo es medizinische Hilfe gibt. Eine Operation ist nicht möglich, das linke Bein ist zu unglücklich gequetscht. Es wird geschient, und bis zum nächsten Sommer, sagt man ihm voraus, wird er daran laborieren. Trotz größter Sorgfalt entzündet sich die Wunde. Brar spielt Inken gegenüber alles herunter, aber sie kennt ihn. Wenn er sich unbeobachtet glaubt, sieht sie, wie er sich ans Bein fasst, unendlich müde. Fred und Annie sind ihm jetzt eine große Unterstützung, doch im Grunde will er die Kinder nicht auf diese Art einspannen und seine Hilflosigkeit macht ihn unzufrieden. Inken arbeitet für zwei, und oft sind sie alle am Abend so erschöpft, dass sie ohne eine warme Mahlzeit ins Bett fallen.

Im Winter ist endlich weniger zu tun. Doch die Verletzung hat Brar geschwächt. Als die beißende Kälte im Januar die Natur wie mit Glas überzieht, legt er sich mit hohem Fieber zu Bett. Auch die beiden Kinder werden krank, Inken versorgt alle drei. Als Fred und Annie wieder munter werden, erwischt es sie selbst. Kreidebleich im Gesicht, die Augen von dunklen Schatten umrandet legt sie sich hin. Sie bittet Annie um eine heiße Bettpfanne, doch weder diese noch ein zweites Federbett, das die Kinder auf ihr auftürmen, können dem heftigen Schüttelfrost Einhalt gebieten. Dann plötzlich verfärbt sich ihr Gesicht rot, und nacheinander wirft sie das obere, dann das zweite Federbett ab und versucht, sich das Nachthemd vom Leibe zu reißen. Das Fieber steigt an, abwechselnd sieht Inken bleich aus und rot, und Annie macht ihr kalte Wadenwickel, so wie sie es von Inken gelernt hat. Sie scheinen der Mutter gutzutun. Sie schläft ein. Annie geht in die Küche, um aufzuräumen. Plötzlich hört sie die Stimme ihrer Mutter. Sie redet laut, erzählt etwas, lacht. Über Annies Gesicht huscht ein Lächeln. Gott sei Dank, es scheint ihr etwas besser zu gehen. »Keike?«, hört sie die Mutter rufen, und dann: »Annie?« Sie antwortet, während sie schnell die Schürze ablegt und in Inkens Zimmer läuft: »Ja, Mommy, was wolltest du sagen?«

Doch sie stockt, als sie Inken erblickt: Mit weit aufgerissenen, vom Fieber glasigen Augen wirft ihre Mutter sich unruhig im Bett hin und her. »Engellene!«, ruft sie nun und beginnt, in schnellem Tempo vor sich hin zu murmeln. Es ist kaum zu verstehen, doch Annie glaubt die Worte »schuld an ihrem Tod« zu hören und: »die gerechte Strafe«. Plötzlich setzt Inken sich auf und schreit ihre Tochter an: »Verschwinde, dumme Gans!« Annie, zu Tode erschrocken, bricht in Tränen aus und läuft in die Küche zurück.

Von dort hört sie Inken immer lauter vor sich hin reden; in atemberaubender Geschwindigkeit folgen Namen, die Annie aus den Erzählungen der Mutter von Sylt vertraut sind: Keike, Westerland, Odde, Kapitän Raue, Biike, Rantum. Das Fieber hat sie in ihre alte Heimat zurückkehren lassen, versucht Annie sich zu trösten, und deshalb hat sie ihre eigene Tochter nicht erkannt. Sie geht zu Inken zurück: Die hat jetzt die Augen geschlossen und spricht in ruhigerem Tonfall. Offenbar befindet sie sich an einem Strand und zusammen mit anderen sammelt sie Treibholz. Immer noch mehr Holz und immer noch mehr, alles werfen sie auf einen haushohen Haufen. »Und jetzt«, ruft Inken, »die Puppe im roten Umhang!« Im gleichen Moment flüstert sie: »Wie er sie festbindet. Jetzt, oh, jetzt kann sie nicht mehr fort, oh, dieser Mann mit dem bleichen Gesicht und den schwarzen Augen.« Annie schaudert es bei dieser Beschreibung. »Macht kein Feuer!«, bettelt ihre Mutter plötzlich und wirft sich im Bett hin und her, versucht wieder, das Nachthemd abzustreifen. »Es ist zu heiß. Lasst das Biikebrennen sein! Wollt ihr mich denn verbrennen!«

Die Sätze gellen Annie in den Ohren, sie läuft, um Schnee für die Mutter zu holen. Inken wimmert vor Schmerzen.

Auch Brar ist aufgestanden und tritt an Inkens Bett. »Sie träumt vom Biikebrennen«, versucht er seine kleine Tochter zu beruhigen. »Das ist ein großes Feuer auf unserer Insel in der Heimat gewesen.« Aber auch er ist beunruhigt. »Was hat eure Mutter gemacht, wenn ihr Fieber hattet?«, fragt er. Annie, froh, etwas tun zu können, sagt: »Sie hat uns immer Hühnersuppe gekocht. Hühnersuppe ist reine Medizin, hat sie gesagt.«

Brar sieht Fred an. »Meinst du, du kannst ein Huhn schlachten, wenn ich dir ein paar Anweisungen gebe?« Fred fühlt sich unbehaglich. Aber natürlich ist es gar keine Frage, dass er es versuchen will, und tapfer sagt er zu Annie: »Bereite in der Küche alles vor. Ich bringe dir ein Huhn.«

Als er den Stall betritt, die Axt in der Hand, scheinen die Tiere sofort zu wissen, was geschehen soll. Während sie sonst, wenn er oder Annie die Eier einsammeln, friedlich vor sich hin summen und picken, fliegen sie jetzt erschreckt auf, dass die Federn stieben. Es dauert lange, bis er ein Huhn an den Schwanzfedern zu packen bekommt. Unter lautem Gegacker und wildem Flügelschlagen trägt er es kopfüber zum Hackklotz hinaus. Annie, die von der Küchentür aus zugesehen hat, geht ins Haus. Diesen Anblick hat sie von jeher vermieden, sie ist froh, dass Fred diese Arbeit erledigt.

Nach etwa einer Stunde, während der sie ein ordentliches Feuer im Herd entfacht hat, bringt Fred ihr das fertig gerupfte und bereits ausgenommene Huhn. Wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hat, nimmt Annie den bleichen faltigen Körper und sengt die letzten Federkiele und den Flaum über der offenen Flamme ab. Der Geruch, den sie immer gehasst hat, steigt davon auf, und sie muss sich gegen den Gedanken wehren, dass die tote bleiche Hühnerhaut der Haut ihrer kranken Mutter gleicht. Schließlich liegt das Huhn in dem Topf mit Salzwasser auf dem Herdfeuer. Die nächsten Stunden verbringt sie abwechselnd zwischen Küche und den beiden Zimmern, in denen ihre Eltern liegen. Brar ist in einen tiefen Schlaf gefallen, während Inken leise vor sich hin murmelt. Als die Suppe fertig ist, füllt Annie sie in eine dünne Porzellantasse und bringt sie ihrer Mutter. Sie setzt sich auf die Bettkante und versucht, Inken von der dampfenden Suppe einzuflößen. Brav schluckt sie ein paarmal, doch plötzlich schlägt sie ihr die Tasse aus der Hand. Sie zerbricht auf dem Boden, Hühnerfleisch, Suppe, Porzellanscherben liegen durcheinander. Annie kniet nieder, um sie aufzuheben, dabei schneidet sie sich in den Finger und hellrotes Blut quillt heraus. Als Inken das sieht, beginnt sie plötzlich schrill zu lachen.

Annie rennt in die Küche. Fred, der den Lärm gehört hat, findet sie schluchzend, den Kopf auf den Tisch gelegt. »Mommy«, bringt Annie mühsam hervor. »Sie hat mir die Tasse aus der Hand geschlagen und mich ausgelacht, als ich mich geschnitten habe.«

»Bestimmt nicht«, versucht Fred seine Schwester zu trösten. »Sie würde dich nie auslachen. Aber Mommy ist sehr krank. Sie hat dich nicht erkannt. Diese bösen Fieberträume haben nichts mit dir zu tun.«

Ein wenig getröstet sieht Annie zu Fred auf. »Aber was sollen wir nur machen?« Fred setzt sich ihr gegenüber an den Tisch und streichelt die Hand seiner Schwester. »Wir müssen warten und geduldig sein. Sie wird sich schon wieder erholen.«

Die doppelte Beanspruchung durch die harte Arbeit im Herbst und die ständige Sorge um Brar hat Inkens Widerstandskraft geschwächt. Annie verbringt viele Stunden an ihrem Bett. Die Mommy schläft. Jetzt schläft sie sich gesund, sagt sich Annie und nickt ebenfalls ein. Sie hört nicht, wie Brar an Stöcken humpelnd eintritt. Er bemerkt sofort, seine Frau hat zu atmen aufgehört. Hinter sich hört er Fred hereinkommen, der wie angewurzelt stehen bleibt, das Gesicht wie versteinert.

Brar weckt sanft seine Tochter, zieht sie an sich, vom Bett der Mutter fort. »Komm, mein Liebling. Du musst jetzt tapfer sein.«

Annie blickt ihn an und fragt: »Was ist mit Mommy?« Inken liegt reglos. Ihre Augen sind geöffnet. Als sehe sie etwas, das so schön ist, dass man den Blick davon einfach nicht abwenden kann. Brar beugt sich über sie und schließt sie mit einer sanften Berührung. »Eure Mutter ist jetzt im Himmel«, versucht er seine Kinder zu trösten. »Dort sitzt sie bei den Engeln und schaut auf uns herab.« Dann legt er die Arme um sie. Annie schluchzt laut auf, als begreife sie erst jetzt. Fred weint tonlos, genau wie der Vater.

Später gehen die beiden in den Schuppen, um Holz für einen Sarg herauszusuchen. Annie hört Bruder und Vater in der Scheune zimmern, während sie aufräumt. Sie sucht das weiße Leinenhemd heraus, das Inken ihr einmal gezeigt hat, und zieht es der Mutter an, so gut sie kann.

Als der Leichnam im Sarg liegt und er verschlossen werden soll, ruft Annie im letzten Moment: »Wartet, es fehlt noch etwas.« Sie kommt zurück mit Inkens silberner Halskette, die sie einst vor ihrer Abreise aus Sylt von Keike bekommen hat, und legt sie der Mutter um den Hals. »Mommy soll doch schön aussehen, wenn sie vor Gott und die Engel tritt.«

Brar beginnt damit, im Garten ein Loch in den Boden zu hacken. Doch die Erde ist zu hart gefroren. Sie ziehen den Sarg in den Schnee, beschweren ihn mit Steinen zum Schutz gegen Tiere. Dann schaufeln sie Schnee darauf. Später, wenn der Boden auftaut, werden sie ein richtiges Grab ausheben. Noch immer sehr schwach humpelt Brar an Krücken über den Hof. Vieles ist liegen geblieben seit seinem Unfall. Doch vieles ist auch in guter Ordnung. Brar lobt seinen Sohn: »Du hast hier alles sehr gut gemacht, mein Junge. Wenn ich bedenke, wie lange ich ausgefallen bin!« Fred, stolz über diese Worte, bittet den Vater, ihm weitere Dinge zu zeigen, die er in der Zwischenzeit gern gewusst hätte. Brar gibt sein Wissen in Worten und Handgriffen weiter. So zeigt er Fred, wie man die Pflugscharen und Sensen schleifen muss, damit sie im Frühjahr parat sind. »Das sind wichtige Winterarbeiten, mein Junge. Wenn das Frühjahr losgeht, hat man für all das keine Zeit mehr. Dann muss die Saat ausgebracht werden, die Zäune für das Vieh aufgestellt werden, damit es hinauskann und das frische Gras bekommt. Hier, siehst du«, er führt Fred in eine Ecke der Scheune, wo Säcke von der Decke hängen, »hier bewahre ich das Saatgut auf. Sicher vor Tieren geschützt und vor Feuchtigkeit. Das ist unsere Bank, darauf musst du immer ein Auge haben.«

Doch schon bald muss er die Arbeit abbrechen und sich selbst wieder zu Bett legen. Die Anstrengung und der Schock über Inkens Tod sind zu viel für seinen geschwächten Zustand.

An diesem Abend bekommt Brar wieder hohes Fieber. Annie flößt ihm zwei Tassen von der Hühnersuppe ein, die sie im Eis am Fluss verwahrt hatte. Dann schläft er ein. Beklommen begeben Annie und Fred sich zu Bett. Als sie am nächsten Morgen nach dem Vater sehen, wirkt er matt und kraftlos.

Er bittet sie, sich an sein Bett zu setzen und gut zuzuhören. Er erzählt ihnen, wo die Papiere für die Farm aufbewahrt werden. Ohne dass einer von ihnen es ausspricht, spüren sie, dass er ihnen sein Vermächtnis weitergibt.

Er erholt sich nicht wieder. Noch einmal vollzieht sich ein Alptraum: Die Kinder müssen erleben, was gerade erst mit der Mutter passiert ist. Anders als Inken aber ist er ganz still; er hört einfach auf zu atmen, und wieder geschieht es, als Annie an seinem Bett eingeschlafen ist. Doch noch etwas ist anders als bei seiner Frau: Seine Augen haben sich geschlossen, als gäbe es nichts mehr, das sich anzusehen lohnt.

Die Kinder sind wie gelähmt. Stumm bleiben sie am Bett des Vaters sitzen. Schließlich geht Fred hinaus. Er weiß nichts anderes zu tun, als was er vom Vater gelernt hat. Er zimmert einen Sarg. Dann hüllen sie gemeinsam den Körper in ein Bettlaken und befördern ihn in die Kiste. Den dumpfen Klang, als der Körper auf das Holz fällt, werden sie nie im Leben vergessen. Sie ziehen ihn hinaus in den Schnee, neben den Platz, wo Inken liegt, und schleppen schwere Steine herbei. In den Tagen danach reden sie kaum miteinander; einmal fragt Annie Fred, ob er glaubt, dass jetzt der Vater im Himmel die Mommy wiedertreffen würde. Fred nickt, er hält die Tränen nur mühsam zurück.

Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als all die Arbeiten zu verrichten, die die Eltern sonst getan haben: den Stall ausmisten, die Kuh melken, die Hühner und den Esel Jackie füttern; hundemüde sinken sie abends ins Bett.

Noch bis Ende März hat der Frost das Land fest im Griff, erst im April taut alles fort. Kaum kann man den Boden bearbeiten, hebt Fred im hinteren Teil des Gartens unweit des Apfelbaums eine tiefe Grube aus und hier, in Inkens ehemaliger Lieblingsecke, beerdigen sie die Särge der Eltern. Annie sagt den Text des alten Volkslieds her, der Inken damals so aus der Fassung gebracht hat: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod.« Fred hat ein Holzkreuz gezimmert und ritzt die Namen der Eltern und die Jahreszahl hinein.

*

Der extreme Winter in diesem Jahr führt dazu, dass jeder auf sich selbst gestellt ist. Auf diese Weise mischt sich niemand in das Leben von Fred und Annie ein, obwohl es Gerüchte gibt vom Tod der Farmer aus Deutschland. Die beiden Kinder wissen genug, um die Farm selbständig bewirtschaften zu können, wenn auch manches liegen bleiben muss, weil es über ihre Kräfte geht. Fred wächst mehr und mehr in die Rolle hinein, die zuvor Brar ausgefüllt hat. Er ist sich über ihre Situation vollkommen im Klaren: Entweder sie schaffen es oder sie müssen die Farm verlassen. Ein Fortgehen aber kommt für ihn nicht in Frage. Er wird schließlich dreizehn – seiner Meinung nach alt genug für eine eigene Farm. Auch Annie begreift, um was es für sie geht. Sie vermisst ihre Mutter schrecklich und weint sich abends oft in den Schlaf. Da sie aber merkt, wie sehr es Fred bekümmert, sie so traurig zu sehen, gibt sie sich Mühe, ihren Schmerz zu unterdrücken.

Es ist Juni, als Fred seine erste Fahrt zum Handelsposten unternimmt. Auf Fragen nach seinem Vater gibt er ausweichende Antworten. Erst im Herbst, als Trapper und Jäger den Fluss heraufkommen, dringt die Kunde von dem, was geschehen ist, nach außen. Doch der Winter mit seinen Schneemengen verhindert auch dieses Jahr, dass Menschen zu ihnen kommen. Kaum aber setzt die Schneeschmelze ein, besucht sie ein Pfarrer, von den Nachbarn der nächstliegenden Farm geschickt. In seinem schwarzen Gewand, mit einem steifen Hut auf dem Kopf, sehen sie ihn schon von weitem aus seinem kleinen Pferdewagen steigen und den Feldrain entlang zu ihnen kommen. »Der sieht aus wie eine Vogelscheuche«, bemerkt Annie. Der Pfarrer besieht sich die Grabstätte im Garten und besteht darauf, dass die Eltern auf dem Friedhof beigesetzt werden müssen. Seiner Meinung nach ist Annie viel zu jung, um mit Fred die Farm zu bewirtschaften. Mit der Ankündigung, diesem Zustand so bald wie möglich ein Ende bereiten zu wollen, verlässt der Mann im schwarzen Talar sie.

Fortan tauchen immer wieder fremde Leute bei ihnen auf, um sich ihre Lage und – so ist sich Fred sicher – in Wirklichkeit ihre Farm anzusehen. Frauen heucheln Mitleid mit der Situation der Kinder, mancher ist darüber moralisch empört. Annie und Fred spüren bei den Leuten die nur schlecht verborgene Gier auf ihren schönen Besitz, auf das gute Land. Doch sie ahnen, dass sie machtlos sind. Noch einmal kommt der Pfarrer, zusammen mit einer Frau, die er als Lehrerin vorstellt, und einem Mann, dem Ortsvorsteher des nächsten Dorfes. Annie sieht sie rechtzeitig. »Drei Vogelscheuchen diesmal!«, ruft sie Fred zu, um ihn zu warnen. Sie lassen alles stehen und liegen und verstecken sich zwischen den Bäumen am Fluss. Dann schleichen sie näher und sehen, wie die Fremden Schränke und Truhen öffnen, offenbar etwas suchen. Schließlich hält die Lehrerin triumphierend einen Brief hoch und ruft: »Sie haben Familie in Europa!« Daraufhin verlassen die drei die Farm, nicht ohne den Brief mitzunehmen.

»Sie wollen uns vertreiben«, sagt Fred, als sie wieder im Haus sind.

Eine ganze Weile später erfolgt ein dritter Besuch. Fred sagt Annie, sie solle sich verstecken und warten, bis er sie ruft. Er selbst geht ins Haus. Von weitem sieht er den Pfarrer kommen in seinem schwarzen Anzug, ohne Hut diesmal, sein blondes Haar schweißnass an der Stirn klebend. Er öffnet ganz selbstverständlich die weiße Gartenpforte in der Fliederhecke und betritt das Haus. Als er Fred bemerkt, ruft er: »Mein Junge. Wir haben zu reden.«

Widerwillig geht Fred ihm entgegen. Er will diesen Mann, den immer ein Geruch von Mottenpulver umgibt, nicht im Haus.

»Ich habe nach Europa geschrieben«, eröffnet er Fred. »An die Gemeinde der Insel, auf der eure Mutter noch Verwandtschaft hat.« Fred mustert den Boden zu seinen Füßen, als höre er gar nicht zu. »Und ich habe Post zurückbekommen.« Erwartungsvoll macht der Mann eine Pause. Als Fred nicht reagiert, fährt er fort: »Man schreibt, die Kinder von Brar und Inken sind willkommen. Sie sollen in Europa eine Zukunft finden, nur die Überfahrt müsse gezahlt werden. Na? Was meinst du dazu?«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagt Fred entschieden. »Annie und ich, wir möchten hierbleiben und unser Erbe antreten. Das ist unser gutes Recht und auch im Sinne unserer Eltern.«

»Junge, sei vernünftig«, sagt der Pfarrer. »Du bist zu jung, um die Verantwortung für deine kleine Schwester zu übernehmen. Du selbst hast auch noch so viel zu lernen. Sieh mal.« Er zieht einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Jacketts hervor, auf dem große bunte Marken kleben. Fred bemerkt, während der Mann ein Papier auseinanderfaltet, dass die Hände des Pfarrers stark gerötet sind. Auch die Haut seines Gesichts wirkt ungesund, als müsse er sich ständig kratzen. »Eure alte Verwandte Greta auf Fehmarn«, liest er vor, »die Schwester von Keike, würde sich freuen, euch bei sich aufzunehmen.«

»Ich kenne keine Greta. Und sie ist keine Verwandte«, stößt Fred hervor.

»Das spielt keine Rolle. Entscheidend ist diese schriftliche Zusage. Du weißt also Bescheid. Wir werden euch eine Überfahrt buchen und alles in die Wege leiten.«

»Das ist Diebstahl«, schreit Fred. »Ihr habt kein Recht, uns die Farm wegzunehmen.«

»Du bist noch gar nicht mündig, mein lieber Junge. Auch wenn ihr hier wie in der Wildnis lebt, gibt es Gesetze und Ordnung in diesem Land. Und stell dir nur mal vor, du verunglückst wie dein Vater. Was dann? Wie soll deine Schwester sich helfen? Also, seid froh, dass die Gemeinschaft der Nachbarn für euch einspringen will und die Überfahrt auslegt, bis jemand die Farm gekauft hat. Der Rest der Summe wird an die Frau in Fehmarn überwiesen werden, dafür sorge ich persönlich.«

Fred ist außer sich. »Verschwinden Sie von unserer Farm! Lassen Sie sich nie wieder blicken!«

»Immer mit der Ruhe, Junge, ich kann auch anders. Ist dir klar, dass wir euch trennen und in zwei Heime stecken könnten? Du solltest uns dankbar sein!«

Fred zuckt zusammen bei diesen Worten. Er wendet sich ab, die Hände in den Hosentaschen, und geht davon.

»Ich komme wieder«, ruft der Pfarrer ihm nach, »und du weißt, was dann zu tun ist. Vernünftiger wäre es, ich nähme euch gleich mit. Aber wenn ihr hierbleiben wollt bis zur Abfahrt, gut. Packt eure Sachen und halte dich mit deiner Schwester bereit!«

Fred stößt seinen schlimmsten Fluch aus. »Sich unsere Farm unter den Nagel zu reißen unter dem Deckmantel der Nächstenliebe!«

»Ich will hier nicht weg!« Annie steht plötzlich vor ihm wie ein kleiner Racheengel. Fred reißt sich zusammen.

»Ich fürchte, wir werden sie nicht mehr los. Es sei denn, wir machen uns auf eigene Faust auf und davon.«

»Aber das wollen wir doch gerade nicht!«, ruft Annie aus.

»Nein«, sagt Fred leise, »das wollen wir doch gerade nicht.«

Fred und Annie werden überraschend abgeholt, ehe sie sich verstecken können. Der Pfarrer lässt sie ihre Sachen packen und wartet darauf, dass sie das Haus verlassen. Fred stopft Brars Lieblingsjacke, eine blaue Seemannsjacke, die ihm bald passen wird, in den Seesack, Annie legt ihre Bilder, ihr Skizzenbuch und die blau und rot gebundenen Briefe ihrer Mutter in den alten Lederkoffer. Dann schließt der Pfarrer ab und steckt den Schlüssel ein. Am Handelsposten wartet auf sie ein untersetzter Mann mit dichtem rotem Haar und einem struppigen Schnauzbart, ein benachbarter Farmer, den sie von früher kennen. Der Mann reibt sich die Hände, als er die Kinder sieht, und ruft ihnen gutgelaunt entgegen: »So, dann wollen wir euch arme Waisen mal verfrachten, was, Herr Pfarrer?« Der nickt ihm zu und sagt: »Bringen Sie sie gesund den Fluss hinab!«

»Worauf Sie sich verlassen können!«

Fred flüstert Annie ins Ohr: »Der wird bei uns einziehen, darauf wette ich.« Annie wirft dem schmuddelig gekleideten Mann einen Blick zu, in dem die ganze Verachtung liegt, deren eine eben Elfjährige fähig ist.

Mit dem Flussdampfer geht es bis zur neuen Papiermühle, dort werden sie einer hageren Frau übergeben, die sie im Zug bis nach Baltimore begleitet. Es ist die Gemeindeschwester. Annie hasst diesen süßlich-faden Geruch, den ihre Kleidung verströmt. Als sie schließlich ankommen, hat Annie Angst vor der großen Stadt. Fred nimmt sie bei der Hand, und sie drückt sie so fest, dass es ihm weh tut. Die fremde Frau läuft mit ihnen an den Hafen, um ihnen das Schiff zu zeigen, mit dem sie am nächsten Tag fahren würden.

Die Baltimore der American Steamship Company liegt bereits unter Dampf. Gerade werden große Postsäcke an Bord gebracht. Annie muss den Kopf weit zurück in den Nacken legen, um den Bug des Dampfers über sich anzusehen. Er ist hoch wie ein Haus. Überall an Deck arbeiten Matrosen. Fred ist beeindruckt von den baumstarken Seilen, mit denen das Schiff am Kai festgemacht ist. Der ganze Hafen begeistert ihn, am liebsten hätte er alles genau in Augenschein genommen, doch die Gemeindeschwester drängt darauf, in ihre Unterkunft zu gehen, einem Hospiz der Mennoniten-Kirche. Fred tut in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder geht er seine Situation in Gedanken durch und fragt sich am Schluss: Warum soll er dieses Land, diesen Hafen jetzt verlassen? Hat er nicht schon immer vom Meer geträumt und ist schließlich nicht sein Großvater, dessen Namen er trägt, zur See gefahren? Wenn er die Farm seiner Eltern nicht haben kann – dann wenigstens den Rest der Welt!

Annie schläft tief und fest, von den vielen neuen Eindrücken überwältigt. Gegen Morgen weckt Fred sie, um ihr seinen Plan mitzuteilen: »Hör zu, Annie. Wir wollen beide nicht von hier fort. Aber einer von uns muss rüberfahren zu Keikes Schwester, du weißt doch … Mommys Erbstück.«

»Mommys Erbstück?«, fragt Annie schlaftrunken. Fred nickt. »Das hat sie doch nie abgeholt. Und jetzt gehört es uns. Einer muss es holen. Also mein Plan ist so: Du fährst rüber, holst das Erbstück, und wenn du es hast, dann kommst du wieder zurück. Ich werde mich so lange verstecken und bleibe hier. Ich bin alt genug, allein durchzukommen. Ich schreibe dir, ich habe ja deine Adresse, und dann planen wir weiter. Hast du alles verstanden?« Verwirrt nickt Annie und legt den Kopf aufs Kissen zurück. Dann stützt sie sich auf: »Fred. Geh nicht. Allein hab ich Angst.«

»Hab keine Angst! Es ist doch für alles gesorgt. Die schöne Schiffsreise, die Schwester von Mommys Keike, die auf uns wartet, das Erbstück.«

»Was soll das denn eigentlich sein?«

»Auf jeden Fall etwas, das Mommy sehr, sehr wichtig war. Wir müssen doch ihre Wünsche erfüllen!« Fred gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstert: »Liebe Annie, verrat mich nicht.« Müde sinkt sie in ihr Kissen zurück, Tränen laufen ihr übers Gesicht. Fred wartet, bis sie sich in den Schlaf geweint hat. Dann klettert er leise aus dem Fenster, während Annie von dem großen Erbstück aus duftenden Gräsern träumt, das in Europa auf sie wartet.

Als die Gemeindeschwester die beiden wecken will, ist Freds Bett leer. Annie erinnert sich jetzt an die Nacht und was Fred ihr gesagt hat. Sie erschrickt, hat Angst, presst aber die Lippen zusammen und verrät nichts.

Die Frau nimmt Annie fest an die Hand, als befürchte sie, auch das Mädchen könne verschwinden. So gehen sie zum Hafen. Annie trägt ihren Koffer. An Bord übergibt sie Annie einem Steward, wie es vereinbart ist. Die goldenen Litzen auf seiner weißen Uniform glitzern, er zwinkert Annie mit einem Auge zu. Als sie ablegen und der Wasserspalt zwischen Schiffswand und Kai immer breiter wird, entdeckt Annie Fred unten zwischen den Menschen auf dem Kai. Er steht nicht weit von der Gemeindeschwester, die ganz sicher sein will, dass Annie auch wirklich auf dem Schiff davonfährt. Er winkt seiner Schwester zu, sie winkt zurück, legt den Finger an die Lippen zum Zeichen, dass sie nichts verraten hat. Jetzt entdeckt auch die Frau Fred in der Menge, ruft seinen Namen – doch er verschwindet. Der davonstürzende Fred ist das letzte Bild, das Annie von ihrem Bruder mit auf die Reise nimmt.

Die Frau am Strand

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