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Prolog auf dem Friedhof
Jerusalem 1998

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Da bringen sie ihr schon wieder einen Grabstein!

Ich folge unauffällig, aus sicherer Entfernung, der deutschen Delegation, die einen schwarzen Stein durch die vielen hellen auf dem Friedhof am Ölberg trägt. Ich kann sie nicht verlieren, ich weiß, wohin sie gehen.

Warum lassen sie das nicht endlich? Die kriegen sie doch nicht unter die Erde. Nicht in ein ordentliches Grab. Sie hat ihr Geburtsdatum in allen Ausweisen gefälscht. Vielleicht hat sie uns mit ihrem Todestag genauso betrogen und sie lebt noch, eine Methusalem-alte Frau, die in Wahrheit ein junges Mädchen ist – oder ein junger Mann, das wechselte damals und es würde heute nicht anders sein.

Zum dritten Mal nun ihr Name, gemeißelt in Stein! Der erste ist der schönste. Wir brachten ihn vor 53 Jahren. Ich war Mitte zwanzig, aber nicht mehr lange, bald danach war ich ein alter Mann. Der Grabstein, der erste, leicht rosa aus Galiläastein, sollte während der jordanischen Besatzung für eine Straße quer über den Friedhof verbaut werden. Aber er war ungeeignet, groß und sperrig, man fand ihn später am Straßenrand und brachte ihn zurück. Er trägt nun eine Tafel, auf der ihr Name zum zweiten Mal steht. Sie ist weiß, jüdisch, hebräisch. Sie fällt hier nicht auf. Und nun bringen sie einen deutschen Grabstein, schwarz, und es stehen deutsche Worte darauf.

Wie hat sie das geschafft? Sie bringt einen deutschen Grabstein mit deutschen Worten auf den jüdischen Friedhof am Ölberg! Aber sie liegt nicht darunter. Sie wurde auch als Tote noch einmal vertrieben, wahrscheinlich liegt sie längst in einem Massengrab. Da ist sie immerhin nicht allein. Sie war nicht gern allein.

Ich bleibe im Hintergrund, obwohl mich von den Deutschen, die da den schwarzen Stein bringen, niemand kennt. Meine Erinnerung an diese Frau ist nicht mit dem Meißel gehauen, sondern mit Tinte und Blei geschrieben. Ich weiß genau, wo die drei Kladden sind. Ich habe sie gehütet all die Jahre lang. Hätte ich sie veröffentlichen sollen? Unser gemeinsames Buch – ihr letztes und mein erstes?

«Machen Sie ein Märchen daraus», hatte sie befohlen. «Oder was Lustiges. Auf keinen Fall was für die Literaturwissenschaft! Sie dürfen alles damit machen. Sie sind doch ein Dichter!»

Während sie im Hadassah-Krankenhaus lag und starb, habe ich die drei Kladden aus ihrem Zimmer geholt. Ich habe sie nicht gestohlen, es war ein Auftrag. Ich habe Kommentare an die Ränder und zwischen ihre Zeilen geschrieben, ganze Seiten hinzugefügt, aber nichts an ihren Worten geändert. Ich begann damit bald nach ihrem Tod im Januar 1945, als man in Jerusalem noch trauern konnte um gerade mal 767 Juden, deren Schiff das Britische Mandat nicht landen ließ. Ich beendete diese Arbeit, als wir allmählich erfuhren, was in diesem Deutschland wirklich geschehen war. Die Katastrophe am Ende unseres gemeinsamen Buches begann – das Datum steht noch heute in der dritten Kladde – am 20. Januar 1942. Ich alterte so schnell, wie ich langsam begriff, was an diesem Tag in Berlin am Wannsee eingeleitet wurde. Danach habe ich nie wieder eine Zeile geschrieben.

Ein dunkler Stein, schwarz und glänzend, sie tragen seine deutsche Schrift vorbei an hebräischen Buchstaben. Ich will ihn später anschauen, allein.

Die Kladden werde ich nicht suchen müssen. Ob ich ihre Schrift noch lesen kann? Vielleicht besser als meine.

Ein Bündel Wegerich

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