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VORWORT

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Die Diagnosen zur öffentlichen und politischen Debattenkultur liegen auf dem Tisch. Die Sprache wird als in Teilen vergiftet kritisiert, und es wird darauf hingewiesen, dass Unsägliches wieder salonfähig geworden ist. Die toxische Rhetorik populistischer Interventionen hat Durs Grünbein pointiert zum Thema gemacht. Mit deutlichen Worten wies Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident auf die Grenzen des Sagbaren im öffentlichen Raum hin. Während der Covid-19-Pandemie standen für einige wenige Wochen im Frühjahr 2020 in der öffentlichen Auseinandersetzung andere Fragen im Vordergrund. Dann allerdings ist der Streit darum, wie wir mit Meinungen umgehen und welche Meinungen sich wie artikulieren, umso unerbittlicher ausgebrochen. Erinnert sei an all das, was unter dem Titel von Verschwörungstheorien kritisiert, relativiert oder auch verteidigt wurde. Man sieht die Meinungsfreiheit gefährdet – ob nun durch eine informelle, aber nicht weniger wirksame Cancel Culture oder durch formalisierte Reglementierungen des öffentlichen Raums.

Als Bundestagspräsident und anschließend als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung hat Norbert Lammert unablässig das Desiderat ins Bewusstsein gerufen, den Grundlagen und Bedingungen der öffentlichen und politischen Debattenkultur mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Als ich 2019 von der Konrad-Adenauer-Stiftung gebeten wurde, die Frage nach der Debattenkultur einer systematischen Revision zu unterziehen und einen kritischen Blick auf einige grundsätzliche Probleme zu werfen, wurde mir klar, dass viele der aktuellen Auseinandersetzungen Gefahr laufen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In einer dazu verfassten größeren Studie (Bermes 2019a) und weiteren Beiträgen in der Politischen Meinung sowie in Gesprächen mit Kollegen, Journalisten und Politikern verdichtete sich die Überzeugung, dass unser Verständnis, was es mit Meinungen auf sich hat und wie wir mit Meinungen umgehen, brüchig geworden ist.

Natürlich ist es wichtig, Fake News, Hate Speech oder auch das sich Einrichten in den Filterblasen eines neuen digitalen Biedermeiers zu monieren. Doch die Kritik scheint sich daran festzubeißen, dass man es in solchen Fällen verfehlter Kommunikation nur mit Meinungen zu tun habe. Wenn man nur genug Wissen akkumuliert habe bzw. das richtige Wissen besitze, dann hätten sich die Meinungen und die Meinungsverwirrungen erledigt. Von Meinungen halte man sich also am besten fern, denn die diagnostizierten Pathologien ließen sich therapieren, wenn die bloßen Meinungen aus der Welt geschafft würden.

Diese Beschreibung mag als allzu pointiert erscheinen, aber ganz falsch kann sie nicht sein. Denn niemand machte sich an das Projekt der Aufklärung, was es in einem grundlegenden Sinne mit Meinungen auf sich habe. Dies verwundert, denn sowohl bei Platon als auch Aristoteles – und erst recht bei Husserl, Wittgenstein, Heidegger, Arendt u. a. – wird dem Meinen und der Meinung, also der Doxa, in einem ganz außergewöhnlichen und prinzipiellen Sinne, der weit über die Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Rhetorik oder auch die Kommunikationswissenschaften hinausreicht, Rechnung getragen, ohne das Meinen und die Meinung einfach über Bord zu werfen. Sicherlich hat die Meinung im aktuellen philosophischen common sense und in großen Teilen der Tradition einen schweren Stand. Doch ebenso klar ist, dass man Meinungen zwar gelegentlich den Rücken kehren kann, sie aber nicht einfach verschwinden.

Wozu sich aber mit der Frage nach der Meinung beschäftigen, wenn Meinungen doch nur ein Provisorium sein können? Richten wir unser Augenmerk doch lieber auf das Wissen und die Wissenschaften, halten wir uns doch nicht zu lange mit dem auf, was nur eine Notlösung sein kann und das wir schnellstmöglich hinter uns lassen sollten. Das mag ein wohlfeiler Imperativ sein, der jedoch nicht nur an der Wirklichkeit der menschlichen Weltorientierung scheitert, sondern auch an einer aufgeklärten Vernunft, die weiterhin die Voraussetzungen ihrer Reichweite und ihrer Ansprüche im Blick hat. Aber selbst wenn wir in Meinungen nur Provisorien sehen würden, würden wir ihnen als Notbehelfen auch eine Funktion zuschreiben. Schließlich ist bereits die erste Stufe einer Leiter von Nutzen, nicht erst die letzte. Und meistens ist die erste Stufe die wichtigste, denn findet man hier keinen Halt, wird gar nichts gelingen. Wir leben vielleicht in einer Zeit, die an dieser ersten Stufe fortwährend abrutscht – aus welchen Gründen auch immer. Wir meinen, vieles zu wissen, aber wissen nicht mehr so genau, was wir mit den Meinungen anfangen sollen. Und daher kann es sich lohnen, die Frage nach der Meinung wieder zu einem eigenen Thema zu machen und sie so zu stellen, dass sie nicht direkt einrastet in die klassischen Antwortregister der verschiedenen Disziplinen.

»Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, verdienen oft am meisten untersucht zu werden.« (Lichtenberg 1994, 84) Dieser fast spitzbübischen Empfehlung Lichtenbergs wird nur zum Teil gefolgt werden können. Nicht die ›gemeinsten Meinungen‹, obwohl auch dies verlockend wäre, werden das Thema dieses Essays sein, wenngleich auch von der Cancel Culture die Rede sein wird. Im Fokus wird das stehen, ›was jedermann für ausgemacht‹ hält, aber alles andere als klar ist: unser Verständnis von Meinungen als Meinungen. Ob dies in unseren Zeiten ›am meisten untersucht‹ wird, kann bezweifelt werden. Wir haben sicherlich keinen Mangel, auf Meinungen zu treffen. Auch vermuten wir vielleicht an allen Ecken und Enden der analogen und digitalen Welt Meinungen. Und sicherlich leben wir unter den Bedingungen medialer Kommunikation in Verhältnissen, in denen wie keinen anderen Meinungen registriert werden, ob nun in den sogenannten sozialen Medien oder durch die Demoskopie. Mit Vehemenz stellt sich die Frage, was Meinungen, wenn sie nicht einfach nur geistige Launen sind oder ausschließlich dem Wissen gegenübergestellt werden, eigentlich als Meinungen bedeuten. Denn es wird keine Devise unseres Handelns und Erkennens sein können, es einfach mit den Meinungen bleiben zu lassen. Auch sich an dem Problem der Meinung einfach vorbei zu mogeln, wird kein erfolgreiches Rezept sein.

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Einige Aspekte der Überlegungen habe ich in verschiedenen Vorträgen und auf Workshops in Jena, Seoul, Hangzhou und Neapel in den letzten beiden Jahren zur Diskussion gestellt. Für wichtige Hinweise und wertvolle Anregungen, die ich gerne aufgegriffen und verfolgt habe, bin ich meinen Freunden und Kollegen in Deutschland, Südkorea, China und Italien zu besonderem Dank verpflichtet. Die Unterstützung von Marlin Mayer und Marius Heil, die mich fortwährend mit Literatur versorgten und den Text durchgesehen haben, hat die Fertigstellung des Essays wesentlich befördert. Elke Holweck und Philipp Bauer waren zusätzlich an der Endredaktion des Textes beteiligt. Ihnen allen gilt mein Dank für ihr Engagement und ihre Mitwirkung.

Möglich geworden ist die konzentrierte Arbeit an diesem Projekt durch die Förderung der Volkswagenstiftung, die die Projektidee in ihr Förderprogramm aufgenommen hat. Ziel der Förderlinie ist es, eine pointierte, für weitere Disziplinen und Zugänge offene, philosophische Untersuchung im Stil eines wissenschaftlichen Traktats zu dem Thema zu verfassen, die zu einer neuen Beschäftigung mit der Frage nach den Meinungen einlädt. Die Form eines konzentrierten und prononcierten wissenschaftlichen Essays, weniger die einer fachwissenschaftlichen Abhandlung, sollte dafür wegweisend sein. Der Umfang sollte dabei den eines längeren wissenschaftlichen Essays nicht übersteigen. Dies sind freilich Voraussetzungen, die gerade bei einem solchen Thema herausfordern, aber auch anspornen. Auf jeden Fall setzen sie den äußeren Rahmen für die folgenden Überlegungen.

Der Volkswagenstiftung will ich in einem besonderen Maße für die Unterstützung danken. Denn in Zeiten der unter den Schlagworten Professionalisierung und Digitalisierung eher ziellos geführten Formwandlung deutscher Universitäten sind es genau diese Fördereinrichtungen, die Wissenschaft möglich machen.

Landau, im Mai 2021

Meinungskrise und Meinungsbildung

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