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Kapitel 2

Der Wald und die Tiere

Am 1. Juli bin ich sechs Jahre alt geworden.

Jeden Morgen – während Mama das Frühstück zubereitete – hatte ich die Leintücher auszuschütteln und auf dem Fenstersims zu lüften. Nach dem Frühstück machte ich den Abwasch, holte die Laken wieder vom Fenstersims und legte sie – sauber gefaltet – in die Betten.

Nach dem Abwasch hatte ich dafür zu sorgen, dass genügend Holz neben dem Kamin lag. Dann kam der Unterricht, der sich bis zum Mittagstisch hinziehen konnte.

Holz hacken durfte ich noch nicht, aber Mama achtete darauf, dass ich zusah.

Den Nachmittag hatte ich zur freien Verfügung.

Ich machte es mir zur Gewohnheit, barfuß allein durch die Wälder zu streunen. Nur wenn es Katzen hagelte oder im Winter hab ich dann Schuhe getragen.

Die Zeit im Wald war die schönste Zeit des Tages. Mama hat mir so viel über die Kräuter und Blumen beigebracht, und was sie mir im Buch gezeigt und erklärt hat, konnte ich vor unserer Hütte selbst entdecken, berühren und erfahren. Meistens suchte ich den Boden nach Kräutern ab, um Mama damit zu überraschen. Mama hat dann die Kräuter für unser tägliches Leben nutzbar gemacht.

Wenn ich beim Suchen aufblickte, sah ich die Tiere des Waldes huschen, die sich anfangs sehr scheu verhielten.

Abends, vor dem Schlafengehen, las Mama mir aus Büchern vor. Es waren Geschichten, die oft in fernen Ländern spielten.


Eines Tages bemerkte ich auf einem meiner Streifzüge ein Reh, das sich in einiger Entfernung seitlich mit mir fortbewegte. Blieb ich stehen, blieb auch das Reh stehen. Bewegte ich mich auf das Reh zu, bewegte es sich von mir weg. Ging ich weiter, folgte es mir. Als ich wieder zur Hütte kam, schloss ich schnell die Tür hinter mir, kletterte auf die Spüle und lugte aus dem Fenster hinaus. Und tatsächlich: Das Reh stand am Bach und knabberte an den Fichtenzweigen.

Spontan beschloss ich, meine neue Freundin „Lena“ zu nennen.

Am nächsten Tag konnte ich es kaum erwarten und witschte zur Tür hinaus; meine Hefte und Bleistifte lagen noch verstreut auf dem Tisch. In den Augen von Mama eine Todsünde. Egal jetzt! Nichts wie weg, bevor Mama mich noch erwischen konnte. Ich hörte noch ein Rufen, bevor sich die Tür ganz schloss. Aber eigentlich hatte ich das Rufen nicht richtig gehört und meinen Namen schon gar nicht!

Ich lief sofort unter den Schutz der Bäume und der Wald sog mich auf.

Lena war da! Ich tat so, als würde ich sie nicht sehen und ging bergwärts. Nach einer Weile überquerte ich den Bach und trank sein kühles Wasser. Da hörte ich ein leises Fiepen. Ich richtete mich auf. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht: Da war es wieder! Ich ging dem Geräusch nach, und dann sah ich das Unglück: Am Bachlauf lag ein kleines Rehlein mit einem verdrehten Vorderlauf.

Das Fiepen kam von der Mutter, dicht bei ihm.

Das Rehlein musste große Schmerzen haben, aber vor allem sah ich die Angst in seinen großen Augen.

Ich kniete mich langsam nieder. Ohne mir Gedanken zu machen, strömten aus mir Laute heraus, die ich noch nie von mir gehört, die ich noch nie zuvor geformt hatte. „Sei ruhig und hab keine Angst.“

Langsam bewegte ich mich auf den Knien auf das Rehlein zu. Die Mutter stand wie angewurzelt. Da stand auf einmal auch Lena neben mir. Wir sahen uns kurz in die Augen. Dann hob ich das Rehlein in eine andere Position, um den Vorderlauf zu entlasten. Anschließend suchte ich nach ein paar einigermaßen geraden Ästen, nahm meine Schnur aus der Tasche und befestigte die Äste – zu einer Schiene geformt – am Vorderlauf des Rehleins.

„Sei vorsichtig“, hörte ich es da: Es kam von Lena.

Ich nahm gar nicht recht wahr, was sich soeben zugetragen hatte: Lena sprach zu mir – und ich hatte es verstanden!

Ich umfasste das Rehlein mit beiden Armen, hob es behutsam auf und sprach ihm weiter gut zu, in einer fremden Sprache!

Ganz langsam hab ich das Rehlein bergabwärts getragen, jede Erschütterung vermeidend. Obwohl der Körper des Rehleins sich leicht anfühlte, war das Gewicht auf die Dauer sehr anstrengend. Mehrmals wurde mein Verlangen übermächtig, das Rehlein kurz abzusetzen. Dies hätte jedoch wieder Schmerzen bei ihm ausgelöst, sodass ich darauf verzichtete. Einmal bin ich dann doch ausgerutscht und hätte das Rehlein fast sausen lassen.

Da gab es Rufe des Schreckens um mich rum. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie uns Tiere in einigem Abstand folgten. Es wurden immer mehr.

Ich war vollkommen erschöpft. Das Rehlein zitterte am ganzen Leib. Endlich erreichte ich mit lahmen Armen und klammen Fingern unsere Lichtung.

Vor der Hütte rief ich schon laut nach Mama, die mit Stirnrunzeln und einem saftigen Gewitter auf den Lippen sofort öffnete.

Aber schnell war Mama im Bilde und rollte ein Fell vor dem Kamin aus. Wir legten das Rehlein ab, das sofort versuchte aufzustehen. Ich rief nach draußen: „Lena komm rein, hab keine Angst.“

Nach einigen Augenblicken stand Lena an der Türschwelle. Ich winkte sie heran und sagte: „Leg dich zu dem Rehlein, dann bleibt es ruhig.“

Mit einem Seitenblick streifte ich Mama: Sie hatte Tränen in den Augen, legte aus dem Verbandskasten eine Binde bereit und sah mir dann eindringlich in die Augen: „Christian, halt das Rehlein jetzt gut fest. Wenn wir es jetzt nicht richtig machen, muss es sterben.“

Es gab ein knackendes Geräusch, und das Rehlein schrie vor Schmerzen, dann war es still.

Mama hatte das verletzte Bein mit einem Ruck gerade gerichtet, ein Tongefäß aus dem Küchenschrank geholt, die Heilkräuter vorsichtig aufgetragen und schließlich einen festen Verband angelegt.

Ich lockerte den Griff um das Rehlein, und nachdem es ruhig blieb, ließ ich es ganz los.

Lena stupste mich mit ihrer feuchten Nase: „Christian, das werden wir Tiere dir nicht vergessen!“ Dann sprang sie mit einem Satz nach draußen.

Spät am Abend machte ich ein Feuer, setzte mich neben das Rehlein und redete ihm gut zu, bis es schließlich einschlief. Eigentlich hätte ich schon längst selbst im Bett sein müssen.

Ich war natürlich viel zu aufgeregt, um zu schlafen und stahl mich unter die Bettdecke von Mama. Ich konnte und konnte nicht einschlafen und spürte, Mama war auch noch wach. In die Dunkelheit hinein fragte ich: „Warum hast du vorhin geweint?“

Nach einer kleinen Ewigkeit kam es aus der Dunkelheit zurück: „Du hast die Gabe – die Gabe deines Vaters …“

Ich hielt den Atem an: „Erzähl es mir, bitte erzähl es mir jetzt – wie hast du Papa eigentlich kennengelernt?“

Mama drehte sich zu mir herum: „Ich habe deinen Papa zum ersten Mal gesehen, als ich meine erste Stelle als Lehrerin in Schönau antrat, nach der Ausbildung in Salzburg.

Als Österreicherin war ich fremd im Ort und habe mir abends im Gasthof zum Hirschen als Bedienung etwas dazu verdient. Ich war furchtbar nervös, weil ich das noch nie gemacht hatte. Schon am zweiten Abend wurden zwei Burschen frech und hielten mich fest, als ich das Bier vor ihnen abstellte.

Da stand einer auf, am Tisch des Bürgermeisters.

Seine ernsten grünen Augen waren dunkel vor Zorn, aber seine Bewegungen waren ruhig. Im Gasthof wurde es mucksmäuschenstill. Die Leut haben sofort eine Gasse gebildet. Einer murmelte: ‚Der Waldbauer.’ Und dann war Papa auch schon da, und … er lächelte.

Das Lächeln kam aber nicht bei seinen Augen an: ‚Wollts ihr dem Mädel zur Hand gehn?’, fragte er, und seine großen Hände gruben sich wie Eisenklammern in die Schultern der Burschen.

Die Burschen waren starr vor Schreck, schauten sich an und blieben stumm!

Alle standen unter seinem Bann. Nach einer Weile löste Papa diesen Bann auf, ließ die beiden los, nahm elegant meine Hand und führte mich an die Theke zurück.

Noch am Abend, beim Abrechnen, kam der Wirt auf den Vorfall zu sprechen: ‚Die Burschen ham ganz schee Glück g’habt. Mit dem Waldbauern is ned gut Kirschen essen. No nie!’“

„Aber wie sah denn der Papa aus?“ Ich war ungeduldig.

Mama dachte nach: „Papa war nicht besonders groß und nicht besonders klein, was aber auffiel, waren das breite Kreuz und die großen Hände, von der schweren Arbeit im Wald. Er hatte eine schmale Hakennase und ein energisches Kinn. Bis auf seine Augen war er keine Schönheit, aber die Wärme in seinen Augen breitete sich in mir aus. Das war eine Kraft!

Ja, Christian, so etwas gibt es: Wir wussten beide im gleichen Augenblick, dass wir zueinander gehören. Papa lebte schon damals hier oben und kam nur in das Tal, wenn er Vorräte brauchte oder Erledigungen zu machen hatte.

Wir haben uns noch im selben Sommer einander versprochen, obwohl ich für dieses Versprechen meine neue Stelle in der Grundschule aufgeben musste. Es war die schönste Zeit meines Lebens – bis zu diesem Unglückstag!

Aber jetzt schläfst du schön. Ein andermal erzähl ich dir weiter.“

***

Das Rehlein war ein Böcklein und so nannte ich es Ferdinand.

Ferdinands Lauf wuchs zusammen. Nach drei Wochen nahmen wir den Verband ab. Ferdinands Mama kam jeden Tag vorbei und säugte ihn. Ich ging jeden Tag vor dem Sonnenuntergang nach draußen und musste allen Tieren berichten, wie es um Ferdinand steht.

Wir trafen uns immer bei der Lichtung im Wald. Dabei setzten sich alle um mich herum und waren neugierig, wie wir Menschen denn so leben. Umgekehrt fand ich es aufregend, was die Tiere vom Leben im Wald zu erzählen hatten.

Der König der Lüfte ist Igor, der Adler. Oben an der Schönfeldspitze – hinter dem Steinernen Meer – hat er seinen Horst. Mit seinen mächtigen Schwingen zieht er erhaben seine Kreise. Die Tiere unter ihm schauen mit Respekt nach oben. Sie haben auch Angst vor ihm, aber nur ein bisschen. Irgendwie schaut Igor immer nach dem Rechten und lässt die Tiere unter sich in Ruhe.


Viel mehr Sorge bereiten die Bären, erzählten meine Freunde. Die Bären sind die wahren Herren im Wald! Sie haben keine Feinde, die ihnen etwas anhaben können, und so führen sie sich auch auf! Wenn es etwas zu fressen gibt, lassen sie keinen anderen ran.

Die Raben halten’s dagegen mit den Wölfen! Immer wenn ein Tier verendet, kundschaften sie aus, ob sich etwa schon Bären an dem Kadaver zu schaffen machen. Die Raben melden das sofort an die Wölfe; dafür werden sie fürstlich entlohnt, sobald die Wölfe sicher an das Aas herankönnen.

„Wölfe?“, hakte ich nach.

„Ja, nimm dich in Acht“, sagte Lena. „Igor hat ein Wolfsrudel gesehen, das über das Hagengebirge zum Steinernen Meer unterwegs ist!“

Ich bekam einen gehörigen Schrecken: Wenn ich das Mama erzählen würde, konnte ich meine Streifzüge vorerst vergessen.

Wir trennten uns, und jeder ging nachdenklich seines Weges.

Ich war wirklich beunruhigt! Kein Tier war jemals feindselig mir gegenüber aufgetreten, und das war für sich genommen schon erstaunlich: Schließlich hatten viele Tiere schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht.

Mama meinte dazu: „Die Tiere hier oben sehen dich als einen der Ihren! Du lebst ja auch hier und – du hast die Gabe von Papa. Der konnte sich hier oben auch bewegen, wie er wollte: Er gehörte einfach zu den Tieren. Selbst die Bären hatten Respekt vor ihm!“

Aber Wölfe?, fragte ich mich.


Drago

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