Читать книгу Wenn die Liebe hinfällt... - Christian Friedrich Schultze - Страница 4
Letzter Sommer
ОглавлениеEs war erst früh am Vormittag. Noch waren erst wenige Leute hier.
Im Sommer kam er an wirklich schönen Tagen, wenn es richtig warm war, hierher, um im kühlenden See zu schwimmen. Sonst saß er lieber auf dem Balkon seiner kleinen Wohnung, ein Buch in der Hand, in dem er meist nur halbherzig las. Dabei trank er Tee oder Kaffee aus seiner großen Steinguttasse. Von hier aus konnte er jenseits des Sees die Bergketten sehen, was ihn tief befriedigte.
Heute war er gleich nach dem Frühstück hingefahren. Der Wetterbericht hatte Spitzentemperaturen und wolkenlosen Himmel vorhergesagt. Deshalb hatte er sich ein paar Brote gemacht, eine große Colaflasche mit Rotwein gefüllt, alles, samt den Badesachen, in den Rucksack gepackt und war mit seinem Mofa die wenigen Kilometer bis zur Badestelle gefahren. Noch waren Ferien und er ahnte, dass an diesem späten Augusttag viele Wasserfans so denken würden wie er. Sie würden zum See strömen und den gesamten Badestrand in Beschlag nehmen.
Bis jetzt waren erst wenige Gäste angekommen. Es war noch zu früh, die letzten Nebelschleier schwebten noch über dem jenseitigen Ufer. Er legte sich auf die Wiese, nah genug zum Wasser und so, dass er es gleichzeitig nur ein paar Schritte zum Schatten hatte, den die in kleinen Grüppchen stehenden Lärchen warfen, falls es ihm mit der Sonne zu arg würde, aber auch weit genug weg, dass der Blick hinüber zur Bergkette frei war, wenn er die Augen aufschlug.
Die Luft war klar und mild. Ein leichter Wind kräuselte die Wellen. Er würde die Mittagshitze erträglich machen. Die Bergkuppen spiegelten sich im Wasser, das sich noch nicht entscheiden konnte, ob es grün, türkis oder blau leuchten sollte. Die Wiese stieg vom Seeufer aus leicht an.
Von diesem romantischen Lärchenboden am Südufer des Sees war für die Badelustigen nur ein kleiner Teil freigegeben worden. Überall standen Verbots- und Hinweisschilder: Umweltschutz über alles! Man hatte auch eine ganze Anzahl Abfallbehälter aufgestellt. Offenbar hoffte man, dass die menschlichen Horden ihren Abfall dort hinein beförderten. Er ärgerte sich immer wieder darüber, wie es am Abend, wenn er nach einem Badetag nach Hause fuhr, an diesem Strand aussah. Darum fuhr er nur an wirklich warmen Tagen an den See, um in der Sonne zu liegen, zu dösen, in den Himmel oder in die Berge zu schauen und ein paar Runden zu schwimmen. Manchmal las er - ohne wirkliches Interesse - in irgendeinem neu erschienen Buch, von dem die Rezensenten schwärmten.
Und immer hörte er mithilfe seines MP3-Players „seine“ Musik. Es gab Tage, da wollte er Bach und die Barockmeister. An anderen Tagen brauchte er Mozart und dann wieder Rachmaninov. Und manchmal hörte er ohne Unterlass die Rockgruppen, die sein Leben begleitet hatten und die nun eine nach der anderen ausstarb.
Zuweilen hatte er auch seinen Operntag. Bis heute konnte er sich nicht entscheiden, ob er die Arien von Mozart oder von Verdi mehr liebte. Es war einfach wunderbar, so ausgestreckt im Warmen zu liegen, in die Universen der Musik abzutauchen, manchmal in die paradiesische Welt um sich herum zu schauen und das Treiben der Pärchen und der Familien mit ihren Kindern zu beobachten. So lange er gesund blieb, würde er das machen. Darüber hinaus verlangte er vom Leben nichts mehr. Im Winter vielleicht noch hin und wieder in die Berge zum Skifahren, so lange er noch fit genug dafür war.
Er liebte auch den Winter. Aber nur, wenn dieser richtig knackig war. Hin und wieder holte er sich eine Flasche guten Scotch, wenn das Geld dafür da war. Musik und Whisky, viel mehr konnte er nicht mehr erwarten von Leben, dass wusste er. Er war damit zufrieden. Er hatte gute Zeiten erlebt, manchmal auch allerhand Geld gemacht, war viel in der Welt herumgereist. Ab und an kam eins seiner beiden erwachsenen Kinder, um nach ihm zu schauen. Dann fuhren sie gemeinsam in die Berge und er wurde zu einem guten Essen eingeladen. Mehr ließ er nicht zu. Er wollte nicht, dass sie sich mehr um ihn kümmerten. Sie hatten ihre eigenen Probleme und Kämpfe. Es war gut so, wie es war. Er war gesund und er lebte in diesem Alpenland, das einigermaßen geordnete Verhältnisse und einen gewissen Wohlstand besaß.
Er war froh, dass er nicht in Afrika oder im Nahen Osten leben musste. Es gab überhaupt kein anderes Land, wo er hätte leben oder sterben wollen. Er hatte diese Wohnung mit dem Blick über den See in die Berge, ein traumhaftes Privileg, wie er fand. Das redete er sich nicht nur ein. Und noch konnte er, wenn es ihm warm genug war, hierher an diesen See fahren. Lesen, schwimmen, schauen und seine Musik hören. Trotz seiner bescheidenen Verhältnisse war das eine Lebensqualität, die nur wenige dieser sieben Milliarden Menschen besaßen, darüber war er sich völlig im Klaren. Und deshalb war es in Ordnung, so wie es war.
Heute hatte er sich einige Klavierkonzerte von Mozart in den MP3-Player geladen. Unglaublich, wie dieser Kerl mit ganz sparsamen Tönen in diese musikalischen Tiefen gelangte! Seiner Meinung nach gab es keinen, der es nach ihm nochmal so geschafft hatte. Er blickte hinüber zur Bergkette. Ein Bussard zog über dem gegenüberliegenden Seeufer seine Kreise. Beneidenswert, wie der Vogel die Aufwinde nutzte, um über dieser herrlichen Welt zu schweben, dachte er. Aber er hatte keinen Mozart!
Sie kam langsam und unentschlossen vom Parkplatz herüber geschlendert. Er hatte sie sofort bemerkt. Sie ziehen an solchen Tagen immer weiße Kleider an, dachte er, während er ihre Beine scannte. Er guckte immer zuerst auf die Beine und dann die Figur hinauf. Dann versuchte er, ihre Augen zu betrachten. Nicht, dass er Blickkontakt gesucht hätte, das war lange vorbei. Aber er brauchte die Information, was sie für Augen hatten, die Form und die Farbe, um sich sein Bild von ihnen machen zu können. Frauen interessierten ihn nur noch im Rahmen ihrer Erscheinung. Und immer noch rätselte er an dem Problem, ob man vom Äußeren auf das Innere schließen könne.
Er hatte die letzten Jahre erfolgreich vermieden, sich noch einmal mit dem anderen Geschlecht einzulassen. Er wollte, dass das vorbei war. Zwei Scheidungen reichten! Warum sollte er den Gleichklang seines letzten Lebensviertels, den er mit Mühen erreicht hatte, wegen einer Affäre mit einer unberechenbaren Schönen aufs Spiel setzen? Aber er machte sich gerne seine Gedanken über sie, egal ob sie nun alleine, mit Begleiter oder mit Familie auftauchten.
Natürlich trug sie eine Designersonnenbrille - Prada, Gucci oder Ray-Ban? Er kannte sich nicht genug aus. So etwas wusste Lina, seine Tochter. Im grellen Gegenlicht hätte er ihre Augenfarbe sowieso nicht bestimmen können. Sie hatte blonde Haare, dunkle Brauen und ein schmales Gesicht mit vollen Lippen. Und sie besaß diese langen, schlanken, aber muskulösen Beine, die er liebte. Sie trieb Sport, das sah er gleich. Die Füße steckten in Sandalen mit hohen Absätzen, deshalb hatte sie Schwierigkeiten, über die Wiese zu kommen. Es war fast noch überall frei, aber sie kam auf ihn zu. Klar, es war der beste Platz. Jedenfalls seiner Meinung nach. Deshalb fuhr er ja so früh los. Um diesen Platz zu bekommen!
Es war sein Platz. Schon das fünfte Jahr, seit er sich von Claire getrennt hatte, oder sie sich von ihm. Genau war er sich darüber immer noch nicht mit sich einig geworden. Jedenfalls fuhr er immer hierher. Er hatte andere Liegeplätze ausprobiert. Aber nur zwei, drei Mal. Dann hatte er ihn endlich gefunden. Sie fand ihn offenbar gleich beim ersten Mal.
Er hatte sie noch nie hier gesehen. Sie ging an ihm vorbei und streifte dabei durch die Brille hindurch kurz seinen Blick. Das Kleid lag an ihrer Figur an. Natürlich hat sie auch einen festen Hintern, stellte er fest. Die Haare sind blondiert oder mindestens aufgehellt. Er überlegte, wie alt sie sein könnte, während sie sich keine zehn Meter von ihm entfernt, nahe einer jungen Lärche, ihr Lager einrichtete. Sie sieht jünger aus, als sie ist, orakelte er. Jedenfalls ist sie nur wenig älter als Brian, könnte also gut seine Tochter sein.
Er drehte sich leicht von ihr weg, um nicht nochmal ihrem Blick zu begegnen und um sein Desinteresse zu signalisieren. Schon merkwürdig, dass sie sich fast neben ihn legte. Es waren noch nicht allzu viele Badegäste da, überall wäre noch frei gewesen. Sie hatte wohl einen Instinkt für den besten Platz, wie er, dachte er. Er schloss die Augen und konzentrierte sich wieder auf seinen Mozart.
Dann war er eingeschlafen. Bei lauter Musik im Ohr konnte er wunderbar abschalten und fest schlafen. Die Musik stellte nichts Bemerkenswertes mit ihm an, während er schlief. Jedenfalls hatte er noch nichts dergleichen bemerkt. Aber von der Hitze erwachte er. Die Sonne war höher gewandert, leuchtete schräg durch die Lärchen und brannte ihm genau auf den Pelz.
Er sah wieder hinüber zu ihr. Sie lag ihm zugewandt auf der Seite. Die langen blonden Haare hingen jetzt offen über ihre Schulter auf die Decke hinab, auf der sie lag. Sie hatte einen blauen Bikini an und ihre Haut war gut gebräunt. Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen und las in einem Buch. Jedenfalls sah es so aus. Ihre wohlgeformten Beine lugten zu ihm herüber. Die Farbe ihrer Augen konnte er immer noch nicht ausmachen. Der Bikini drückte auf den Ansatz ihres nicht großen Busens.
Sie ist gut gewachsen, nicht direkt schön, aber unglaublich apart. Gut, dass man ruhiger geworden ist, dachte er bedauernd. Aber doch irgendwie schade, dass man alt geworden ist und nicht mehr mitmischen kann. Ein leichter Lufthauch bewegte die Bäume. Ein goldener Lichtstrahl schoss über das Lager der Blonden, tauchte ihren Kopf und ihren Körper einen kurzen Moment lang in einen magischen Schlagschatten. Dieser winzige Augenblick genügte, um ihn zu verändern.
Während dieses Unvermeidliche in ihm vorging, drehte er sich weg von ihr. Er hörte den Mozart nicht in seinem Ohr und sah auch nicht die herrliche, in die Mittagssonne getauchte Landschaft. Er sah im Geiste sich und sie, in der Oper in Salzburg, auf einer Berghütte, auf seiner Liege, überall. Und war sich gleichzeitig darüber im Klaren, dass sein Gehirn gerade eine blödsinnige Illusion erzeugte. Der Zombie in ihm war munter geworden. In seinem Cerebrum hatte etwas eingeschlagen, das das Unterbewusstsein im Erwachenden geweckt hatte. Der Teufel arbeitete ab sofort gegen ihn. Und der hatte gerade seine Gefühle und Instinkte hochgepeitscht. Der wollte ihn aus seiner Ruhe bringen! Er würde sie nicht ansprechen, dachte er dagegen an. Sein Handeln würde der nicht unter Kontrolle bekommen.
Es war zu blöd! Er brauchte sich nur anzusehen. Mühsam hielt er sein Gewicht. Sein Körper hatte sich verändert, seit er nicht mehr mit den „Alten Herren“ wenigstens einmal pro Woche Fußball spielen konnte, weil es seine Bandscheibe erwischt hatte. Die Muskeln zeigten deutliche Anzeichen von Erschlaffung. Seine Haut drohte, knitterig zu werden. Es gab schon einige braune Flecken auf den Händen. Nur wenige seiner Haare waren noch dunkel wie früher. Gut, er hatte die berühmten graumelierten Schläfen der älteren Herren. Aber er neigte zur Korpulenz und versuchte verzweifelt, mit Fahrradfahren und Bergwandern, im Sommer, an solchen warmen Tagen, mit etwas Schwimmen, seine Veranlagung zur Übergewichtigkeit zu bekämpfen. Aber sein Hang zu Rotwein und gutem Kochen hielt ständig dagegen. Er drehte sich wieder zu ihr herum. Er würde dem Instinktmeister zeigen, dass sein Wille und seine Vernunft stärker waren als er.
Sie sprach ihn an, nachdem sie ihn kurz angelächelt hatte. Es hatte ein bisschen ausgesehen, als ob sie sich amüsierte.
„Können sie mit Musik im Ohr sooo fest schlafen?“, fragte sie herüber. Sie hatte ihn also beobachtet.
„Habe ich etwa geschnarcht?“, fragte er zurück, ziemlich erschrocken darüber, dass sie ihn so geradezu angesprochen hatte. Er wusste, dass er schnarchte, wenn er es selbst auch noch nie gehört hatte.
„Ich hatte mich nur gefragt, bei welcher Art von Musik man so selig schlafen kann“, sagte sie. „Ich finde das beeindruckend.“
„Na ja, es ist Mozart, aber es ist egal. Es geht bei jeder Musik“, sagte er, versuchte ein Lächeln und ärgerte sich, dass er dabei etwas verlegen wirkte.
„Würden sie mich mal reinhören lassen?“
„Nur wenn sie mir dafür ihr Buch zeigen“, erwiderte er knurrig. Er gab sich Mühe, es abweisend klingen zu lassen.
„Gut, darf ich rüber kommen?“
Sie nahm ein Badetuch und ihr Buch und kam zu ihm herüber. Sie war mit Pumps wahrscheinlich einen halben Kopf größer als er. Sie hatte blaue Augen, fast dieselbe Farbe, wie er selbst.
„Ich bin Oskar“, sagte er, indem er sich halb aufrichtete und ihr die Hand hinreichte.
„Ich bin Sue“, erwiderte sie und ignorierte seine Hand. Sie legte ihr Frottiertuch an seine Decke und gab ihm das Buch. 'Geliebtes, dunkles Land' las er. Er erklärte ihr die Funktionsweise seines MP3-Players. Sie bugsierte den linken und den rechten Ohrhörer wie angewiesen in ihre Ohrmuscheln. Sie hat zierlich anliegende Öhrchen, konnte er dabei feststellen. Der Zombie freute sich und röhrte. Winzige Ohrstecker, Brillianten?, glänzten an ihren Ohrläppchen. Sie hatte sich schon auf ihr Tuch gelegt und mit dieser unnachahmlichen Bewegung, die das andere Geschlecht ausmacht, ihre langen, blondierten Haare in den Nacken geworfen. Sie schloss die Augen. Es sah aus, als ignorierte sie ihn.
Sie gibt dir Zeit, sie in Ruhe zu betrachten, flüsterte der Zombie.
Ihre Haut war im Gegensatz zu seiner glatt und sportlich gebräunt. Sie hatte feste, nicht große Brüste und einen flachen Bauch. Sie hatte schöne Füße. Sie hatte wunderschöne gepflegte Hände. Lippen, Finger- und Fußnägel waren mit einem kaum merklichen Rouge belegt. Er schätze sie Anfang dreißig, halb so alt wie er. Er drehte sich weg von diesem Bild und nahm sich ihr Buch vor. Zwei Reporter, eine Frau und ein Mann, waren durch Afghanistan gereist, um der Leserschaft einen Eindruck von diesem Land am Hindukusch, in welchem gerade die westliche Kultur verteidigt wurde, zu vermitteln. Sie interessiert sich also für sowas, dachte er erstaunt.
Es war inzwischen hoher Mittag geworden. Sie lag mit geschlossen Augen da und hörte seinen Mozart. Er packte seine Brote und seine umfunktionierte Colaflasche aus. Sie bemerkte es.
„Ich hab auch was mit. Wollen wir picknicken?“, fragte sie.
„Haben sie ein Trinkgefäß, ich gebe ihnen was ab“, sagte er.
„Also, Cola trinke ich bestimmt nicht“, entgegnete sie. Sie ging zu ihrem Platz und kam mit zwei Brötchen, verschiedenem Obst, einer Flasche Mineralwasser und einem Plastikbecher zurück.
„Kosten sie mal!“, sagte er und goss ihr den Becher halb voll mit seinem Rotwein. „Schmeckt bestimmt gut zu ´ner Käsesemmel.“
„Ziemlich früh am Tag“, sagte sie, nachdem sie festgestellt hatte, dass es sich nicht um Cola handelte.
„Rotwein geht immer. Beim südlichen Nachbarn bekommt man ihn schon früh am Morgen“, erwiderte er ohne jegliches Schuldbewusstsein.
„Ist schon gut“, sagte sie und stieß mit ihm an. „Ist ja ein guter.“
„Verstehen sie was davon?“, fragte er.
„Eigentlich nicht, aber trockenen Rotwein trinke ich auch ganz gern.“
Er sagte ihr nicht, wo er ihn her hatte und wie preiswert er war. Teuren leistete er sich eher selten. Sie trank den Becher ziemlich schnell aus und legte sich, mit seinem Mozart im Ohr und geschlossenen Augen, wieder hin. Ihre Wimpern waren gepflegt und die Lider leicht grünlich getönt. Er blätterte in ihrem Buch und las das erste Kapitel. War schon merkwürdig, dass sie sich für sowas interessierte. Dann schaute er wieder in die Berge.
Sein Gleichgewicht war im Arsch. Soweit er sich erinnerte, war es das erste Mal in seinem Leben, dass ihn eine Frau so direkt angesprochen hatte. Welchen Wahn sein Zombie aber auch erzeugen mochte, es war offensichtlich, dass sie nicht zusammen passten. Was mochte sie angetrieben haben, auf seine Decke, also - genauer gesagt, an seine Decke, zu kommen und ihm seinen Mozart abzuluchsen? Wahrscheinlich wollte sie nur seinen Platz. Es war der Beste.
„Also, ich kann nicht einschlafen bei solcher Musik. Ist einfach zu schön“, sagte sie nach vielleicht einer dreiviertel Stunde und richtete sich dabei halb auf. Sie gab ihm den Player zurück. Er schaltete ihn aus, packte ihn in die Hülle und steckte ihn in seinen Rucksack.
„Ich muss jetzt los. Ich bin auf ´ne Feuerwehrparty in Steinbach eingeladen. Wollen sie nicht vielleicht auch hinkommen. Ist ja nicht weit von hier“, sagte sie. Das Dorf war ungefähr fünfzehn Kilometer von Unterbach, wo er wohnte, entfernt, und gehörte zur Verwaltungsgemeinschaft.
Er sagte: „Glaub nicht, dass mich Feuerwehrfeste interessieren.“
„Na ja, ist schon klar. Kann ich aber ihre Nummer haben? Sie könnten mich ja mal durch die Gegend fahren. Ich bin noch nicht sehr lange hier. Sie sehen so aus, als ob sie sich auskennen.“
„Ich hab kein Auto, ich fahre Fahrrad oder wandere“, knurrte er.
„Mountainbike und Bergwandern sind okay, mache ich auch manchmal“, sagte sie. „Kriege ich nun ihre Nummer?“
„Nur, wenn sie mir ihre auch geben“, sagte er.
Sie schnappte sich ihr Badetuch und ihr Buch und ging zu ihrem Platz. Dann rannte sie runter zum See, tauchte kurz unter und schwamm eine Weile herum. Danach ging sie zu ihrem Platz, frottierte sich und zog sich an. Sie machte dabei wenig Umstände, stellte sich dicht an die junge Lärche und er sah sie kurz nackt von hinten. Der Zombie war zufrieden. Nachdem sie ihre Sachen in ihre Umhängetasche gepackt hatte, kam sie mit einem Zettel zu ihm herüber. Sie gab ihm das Papierstück mit der Telefonnummer und hielt ihm ein kleines Notizbuch hin, in das er seine hineinschrieb. Dann verabschiedete sie sich, ohne ihm die Hand zu geben.
„Na, dann tschüs, vielleicht kommen sie doch noch nach Steinbach, es ist im Saal des Bürgerhauses.“
Er steckte den Zettel in die Seitentasche seines Rucksacks. Als sie verschwunden war, ging er ohne Hast hinunter zum See, schwamm eine große Runde, bis ihm kalt wurde und setzte sich dann, nachdem er sich abgetrocknet und seine Shorts angezogen hatte, auf seine Decke. Wieder schaute er lange in die Berge, die inzwischen deutliche Schatten in die Schluchten warfen, und versuchte, den Zombie anzuketten, der in ihm rumorte. Was mochte diese Sue geritten haben, dass sie einfach so auf seine Decke - okay, es war nur bis an seine Decke gewesen – gekommen war?
Früh um drei wachte er auf. Er hatte geträumt, dass er mit Claire geschlafen hatte. Er hatte ins Bett ejakuliert und hatte immer noch einen Steifen. Das war ihm lange nicht mehr passiert. Im Allgemeinen masturbierte er, wenn er merkte, dass es notwendig wurde, seine Sexualhygiene zu steuern. Dabei half es ihm, wenn er an heiße Szenen dachte, die er mit einer seiner Verflossenen erlebt hatte. Oder er legte sich einen Porno in den Videoplayer.
Er konnte sich über sein vergangenes Liebesleben nicht beschweren. Es hatte wilde Zeiten gegeben! Und er hatte erfahren, dass die Frauen, mit denen er liiert gewesen war, stets auch selber ihre Höhepunkte gesucht hatten. Mit der Zeit hatte der Drang bei ihm aber nachgelassen. Ob das nun am zunehmenden Alter lag oder an abnehmender Neugier, konnte er sich nicht richtig beantworten. Bis zur zölibaten Enthaltsamkeit hatte er es freilich noch nicht geschafft. Aber er war gottseidank doch viel ruhiger geworden in den letzten Jahren. Die Leidenschaft hatte deutlich nachgelassen! Wie machten das die katholischen Würdenträger, die Eremiten und solche? Und nun das! Er säuberte sich und das Bett. Pheremone, die geheimen Düfte?, dachte er.
Am Montag erschien eine SMS auf seinem Handy: „schade dass du nicht da warst, wollen wir mal radfahren? lb gr sue.“ Der Zombie knallte aus der Kette. Oskar wusste, dass es nur Chemie war. Er hatte sich mit Neurologie beschäftigt. Er kannte einiges über die Zusammenhänge zwischen Bewusstsein, Instinkten, Trieben, Gefühl und Verstand. Und den noch unbewussteren Tiefen des Gehirns. Neuerdings fürchtete er sich vor diesen Gefühlen.
Er schrieb eine SMS zurück, in der er einen Treffpunkt vorschlug. Sie funkte Einverständnis zurück.
Er war mit dem Bus rüber nach Steinbach gefahren und hatte sein altes Fahrrad mitgenommen, mit dem er schon mit Lina, der Nachzüglertochter, die er mit Claire hatte, durch die Welt kutschiert war. Der Kindersattel befand sich immer noch auf der Querstange und die Fußrasten und Fußschützer zierten unbebutzt die Vorderradgabel. Nur eine bessere Gangschaltung hatte er sich einbauen lassen. Sue hatte ein ziemlich neues Mountainbike. Sie sah absolut geil aus auf diesem Teil in ihren engen Pantalons und mit der hellen Schirmmütze, aus der hinten ihr blonder Pferdeschwanz herauswehte.
Er hängte sie auf dem neu angelegten, hoch ins Höllengebirge führenden Radweg locker ab und musste ab und zu auf sie warten. Es sah schön aus, wenn sie ein paar Minuten nach ihm ganz erhitzt den Weg hochkam. Ihre Kondition war schlecht. Wer weiß, wann sie das letzte Mal Rad gefahren war. Sie fuhr wahrscheinlich nur wegen ihm mit! Als sie am Hürtlerhof angekommen waren und er ihr gerade eine Stelle fürs Picknick vorschlagen wollte, klingelte ihr Handy.
„Ich bin mal mit dem Rad los. Nein, ohne Marc. Du fährst ja nie mit“, sagte sie. Nach einer kurzen Pause: „Okay, wir können uns in Steinbach an der Feuerwehr treffen, so in einer halben Stunde.“
„Ich muss weg“, sagte sie, nachdem sie das Handy wieder verstaut hatte. „Tut mir leid, ich erklär´s dir später. Ich melde mich. Sei nicht böse.“
Sie sagte kurz tschüs und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die linke Wange. Den Weg hinab würde es schnell und von alleine gehen. Das war am Mittwoch gewesen. Zum Reden waren sie nicht gekommen. Er würde sie nicht anrufen, schwor er sich. Er war sauer und das ärgerte ihn noch mehr. Aber wenn sie ein Abenteuer suchte, warum nicht. Wäre sogar einigermaßen ideal, eine verheiratete Frau, die ab und zu mit ihm schlief und ihn sonst nicht weiter beanspruchte. Am Freitag kam eine neue SMS an: „am sonnabend ist wieder schwof im bürgerhaus. würde mich wahnsinnig freuen, wenn du kämst. lb gr sue.“
Er war absichtlich erst gegen halb elf am Abend rübergefahren. Sein Fahrrad parkte er an der Sparkasse und ging dann die dreihundert Meter bis zum Bürgerhaus zu Fuß. Irgendein ältliches Schlagerduo trat auf, gut genug für die begeisterten Touristen. Er verhandelte mit dem Einlassdienst und bekam die Karte für die Hälfte. Für drei, vier Bier würde sein Geld noch reichen.
Er sah sie sofort, ging aber nicht hin. Sie stand an der Theke, bei einem braungebrannten Typ mit Halbglatze, nicht unsympathisch. Sie sah wieder phantastisch aus in ihren engen Jeans und dem leicht ausgeschnittenen Pulli. Sie sprach nur wenig mit dem Mann und schaute öfters zum Eingang. Er stand verdeckt, wollte noch warten und sie beobachten. Der Typ trank jetzt aus ihrem Glas. Er ging langsam zur anderen Seite der Theke und bestellte ein Bier. Es dauerte kaum eine weitere Minute und sie hatte ihn entdeckt. Sie sagte etwas zu ihrem Begleiter und kam zu ihm rüber.
„Tag Oskar, ist gut, dass du gekommen bist. Warum hast du nicht was gesmst?“
„Hi Sue, willst du ein Bier?“ Sie nickte, er bestellte ein kleines.
„Hatte nach unserer Fahrradtour keine Lust zum Smsen. Zum Telefonieren auch nicht.“ Er sah ihr in die Augen. Sie bekam ein paar Fältchen um die Augen. Konnte so eine Art getarntes, amüsiertes Lächeln sein.
„Hm“, sagte sie, „wollen wir tanzen?“
„Das sähe zu blöde aus, denke ich. Außerdem tanze ich nur noch im Liegen“, rutsche es aus ihm heraus. War er es oder der Zombie gewesen? Sie guckte erstaunt oder neugierig oder beides.
„Okay, wir können auch bisschen raus gehen. Warte mal einen Moment. Oder besser vor dem Eingang.“ Sie ging wieder rüber zu dem Typen.
Er trank sein Bier aus und verließ den Saal.
Es dauerte keine fünf Minuten und sie kam heraus. Sie hatte ihre Jeansjacke übergezogen. Der Himmel war sternenklar und es war kalt.
„Wir können ein Stück den Berg hoch gehen“, sagte sie.
Sie verschwanden im Dunkeln.
„Willst du nicht lieber mit zu mir fahren?“, übernahm er die Initiative.
„Heute Abend geht es nicht. Marc ist alleine zu Hause und ich habe nichts organisiert. Ich kann morgen früh kommen. Marc ist mein Sohn. Er ist dreizehn.“
„Okay, dann kommst du zum Frühstück. Wir könnten schön miteinander frühstücken“, sagte er.
„Okay, so gegen zehn. Ich bringe frische Semmeln und Sekt mit. Muss ich sonst noch was mitbringen?“
„Nein, ich denke nicht. Trinkst du Kaffee oder Tee? - Was ist das für ein Typ, bei dem du vorhin warst?“
„Das ist ein Bekannter. Ich kannte ihn schon, bevor ich hierher gezogen bin. Er hat mir die Möglichkeit gegeben, hier mit meinem Jungen eine preiswerte Wohnung zu bekommen. Ich musste weg aus Salzburg.“
Warum hatte er das Gefühl, dass sie log?
Bevor sie den Rückweg antraten, küssten sie sich. Er hatte sie einfach rangezogen. Er wollte die Sache voran bringen. Als er ihr an die Brust fasste, drückte sie ihn zurück. Sie gingen den Weg wortlos hinunter ins Helle und verabschiedeten sich. Er sagte seine Adresse an. Sie ging wieder hinein. Als er zu Hause angekommen war, spürte er diese Schmerzen im Unterleib, die er aus früheren Zeiten kannte, wenn es mal nicht geklappt hatte. Er hatte gedacht, dass dies vorbei sei. Er war, verdammt nochmal, im vierundsechzigsten Lebensjahr! Da konnte man nicht reagieren wie ein Pennäler! Aber sein Organismus reagierte selbständig, egal was sein Wille wollte. Der Zombie lachte sich ins Fäustchen. Oskar, kicherte der, du hast keine Ahnung, wer du bist! Er schlief unruhig diese Nacht, mit diesen verfluchten Schmerzen in den Leisten.
Der Sonntagmorgen war diesig. Das Wetter schlug um in dieser ersten Septemberdekade. Sie erschien Viertel nach zehn. Sie hatte ein zartgrünes, ausgeschnittenes Sommerkleid an mit einer leichten, weißen Strickjacke drüber. Sie ließ ihre Brustansätze und ihre unendlichen Beine sehen. Die Haare hatte sie zu einer Art Dutt hochgebunden, Ihr Nacken regte ihn auf. Es war unwirklich. Was wollte sie von ihm? Es war ihm egal, er wollte sie nur ins Bett haben. Es war notwendig. Sonst wurde er krank. Inzwischen war er eins mit seinem Zombie. Es war ihm auch egal, dass der gesiegt hatte.
„Ich muss Mittag zurück sein“, sagte sie. „Ich muss dem Jungen was zu Essen machen und am Nachmittag irgendwas mit ihm unternehmen. In der Woche wird es ja meist nichts.“
Sie erklärte ihm, dass sie Krankenpflegerin sei und in Schichten im Seniorenheim in Weißenbach arbeite. Aufgewachsen sei sie in Salzburg. Nein, sie sei noch nie verheiratet gewesen. Ja, der Typ vom Sonnabend sei ziemlich hinter ihr her.
„Und warum triffst du dich mit mir?“, fragte er endlich.
„Ich komme, glaube ich, nur mit reiferen Männern klar“, war die Antwort. Er brachte sie runter zum Parkplatz. Der gelbe Fiesta gehörte ihr.
„Wollen wir das kommende Wochenende mal in Ruhe ´ne Fahrradtour machen?“, fragte er.
„Mal sehen. Vielleicht kriege ich Marc bei einem Schulfreund unter.“
Als er sie küssen wollte, wehrte sie ihn ab.
„Wie alt bist du eigentlich?“, wollte sie zuletzt noch wissen.
„Das klären wir beim nächsten Mal“, wich er aus.
Am Freitag Mittag kam die nächste SMS: „kann am wochenende nicht, muss mit marc zu oma.“ Ob das stimmte?
Er antwortete ihr nicht. Die Zeit verging.
Die 38. Woche war es nochmal klar geworden. Der Herbst begann mit schönem Wetter. Er unternahm ein paar einsame Fahrradtouren in die Berge. Einmal fuhr er weiter weg. Es gab einen schönen neuen Fahrradweg um den See und dann von Weißenbach zum Traunsee hinüber. So an die fünfzig Kilometer. Zurück konnte er den Zug nehmen. Er telefonierte nicht. Der Zombie murrte nur noch selten. Fast hatte er sein Gleichgewicht wieder.
Ihre SMS erreichte ihn in Gmunden, an jenem Sonntag auf der Rückfahrt: „entschuldige dass ich mich nicht gemeldet habe, aber es gibt gründe. ruf bitte mal an heute abend. mlg sue.“
Er schwor sich, dass er auf keinen Fall anrufen würde.
So gegen zwanzig Uhr wählte er dann ihre Nummer. Sie war wahnsinnig freundlich.
„Kann ich morgen früh zum Frühstück zu dir kommen? - Vielleicht so gegen neun.“
Kurz nach halb zehn traf sie ein. Die Mittagsschicht finge zwölf Uhr an, sagte sie gleich. Dann ohne besonderen Übergang: „Ich bin schwanger. Ich musste ein paar Tage ins Krankenhaus. Er will, dass ich es wegmache. Es war schon die ganze Zeit so erniedrigend. Ich will es aber haben. Ich bin erst neununddreißig, das ist heutzutage noch nicht zu alt. Er macht mir die Hölle heiß. Es ist unerträglich.“
Er wusste, dass sie von dem Typen sprach, der aus ihrem Glas getrunken hatte.
„Ist okay, dass du es haben willst. Kinder werden sogar in Afghanistan groß. Ich bin übrigens ein guter Geburtshelfer“, sagte er. Er dachte an die Geburt von Lina, bei der er dabei gewesen war. Das war bei ihr möglich gewesen. Bei Brian hatten sie ihm noch die Tür vor der Nase zugemacht. Karen hätte es wohl auch keinesfalls gewollt.
„Ja, aber er lässt mich nicht in Ruhe. Ich werde wohl wegziehen müssen. Schon wieder“, jammerte sie.
Er schwieg. Es raste in seinem Kopf. Er war mindesten zwanzig Jahre zu alt und er hatte kein Geld. Die Rente, von der er gerade so überlebte, war lächerlich. Er sagte: „Ich bin zwanzig Jahre zu alt für dich und die Rente, von der ich lebe, reicht nicht mal für mich. Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwie helfen kann.“
Jetzt schwieg sie. „Geld spielt eigentlich keine Rolle“, sagte sie dann. „Lass uns mal darüber nachdenken.“
Ende Oktober kam ein Brief ohne Absender. Ein Wiener Stempel war drauf. Sie schrieb, es gehe ihr gut. Sie sei umgezogen und habe eine andere Nummer. Welche, schrieb sie nicht. Ihm war klar, dass sie sich verschätzt hatte, in doppelter Hinsicht: Er war zu alt für ein Zusammenleben. Und er hatte kein Geld. Aber er hatte sich schwer verliebt in sie. Das rätselhafte gewaltige Organ zwischen seinen Ohren wollte nicht wahrhaben, wie alt es bereits war. Mit Geld hätte sich manches überbrücken lassen, dachte er. Vielleicht wäre es ein heißer Herbst seines Lebens geworden.
Als er ein paar Wochen später mit einem Tee und einem Buch auf seinem Balkon saß und ihn aus der Baumgruppe gegenüber die bunten Blätter des Herbstes in der Nachmittagssonne anleuchteten, dachte er: "Hätte schlimmer kommen können. War doch nicht so schlecht gewesen, der letzte Sommer."