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Erleuchtung

Nach der Rückkehr aus Frankreich hatte sich Ernst wieder bei seinen Eltern eingenistet. Matthias war schon nach Cambridge abgereist, als Marcus ihn abends abholte. Sie fuhren zu einem Rheinstrand an die Düffel. Die einspurige Straße lief auf dem alten Deich. Marcus lenkte den selbst matt schwarz lackierten R4 durch die vertraute, flache und grenzenlose Landschaft. Pappelreihen und vereinzelt auf Poldern stehende alte Bauernhäuser in rotem Klinker unterbrachen die Horizontlinie. Kühe weideten zwischen Orten, deren Namen der passende Soundtrack zur Fahrt war: Rindern, Düffelward, Zyfflich, Nütterden, Schenkenschanz, Bimmen, Grieth oder Donsbrüggen. Der Himmel war hier meist hoch, weit und grau. Der kathedralenhafte Raum über den Köpfen hatte über die Jahrhunderte einen ängstlichen Katholizismus und Fatalismus sehr befördert.

Marcus war auf dem Bauernhof seiner Familie aufgewachsen, die hier seit Jahrhunderten lebte und schon größere Katastrophen als seinen Schulabbruch überstanden hatte.

Hinter der alten Ölmühle Spyck markiert der Rhein kurz die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland. Dort, in einem kleinen Naturschutzgebiet mit natürlichen Flussauen, karibikweißen Sandstränden, Wildpferden und gespensterhaft aussehenden Kopfweiden schlugen Flusswellen hochfrequent nervös ans Ufer, und in der Luft kreisten krächzend Kolkrabenschwärme um die alten Weiden. Wenn der Rhein, wie jetzt, wenig Wasser führte, rochen die freigelegten Flusssteine faulig. Der breite Strom erzeugte ein Feld, das gegenüberliegende Ufer war dunkel und Holland. Der Mond hatte begonnen abzunehmen, warf aber immer noch ein helles, kaltes Licht. Die Luft war sommerlich, der leichte Wind machte den Mücken das Landen schwer und am wolkenlosen Himmel standen die Sterne.

„Hast du schon „Liebes Tagebuch“ von Nanno Moretti gesehen?“, fragte Marcus, der eine Tüte baute, sie zudrehte, anzündete, zwei Züge nahm und sie Ernst weiterreichte. Ernst zog langsam, er musste vorsichtig sein, er war Nichtraucher, seine Lungen empfindlich. „Müssen wir uns unbedingt zusammen angucken. Er fährt auf einer Vespa durch Italien zu einem Hammersoundtrack, „Köln-Konzert“, „I´m your man“ und so“, fuhr Marcus fort.

„Klingt cool. Ist Sarah eigentlich in Kleve?“, wollte Ernst wissen. Schwindel und Schwere übermannte sie. Sie mussten sich gleichzeitig ablegen, stützten rücklings ihre Ellbogen in den Sand. Krampfartiges Grinsen spannte ihre Gesichtsmuskeln. Die Augen glühten und starrten abwechselnd auf den Rhein und in den Himmel.

„Ich finde es krass, sich vorzustellen, dass das Universum unendlich ist“, meinte Marcus den Kopf zu einem imaginären Rhythmus wippend.

„Ist es nicht, es breitet sich aus.“

„Dann hat es ein Ende?“

„Theoretisch schon, aber es breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus, der absolut höchsten Geschwindigkeit. Man kann also körperlich nie zum Ende des Universums reisen, ihm maximal mit gleichem Abstand nachreisen. Praktisch ist es also unendlich.“

Ein Schubschiff wühlte sich angestrengt stromaufwärts, das tiefe Brummen der Dieselmotoren ging in Resonanz mit ihren Körpern, und sie spürten ein angenehmes Vibrieren. Sie schwiegen eine Weile.

„In Gedanken können wir natürlich hinreisen, Gedanken sind ja schneller als das Licht, sie gehorchen nicht den Naturgesetzen“, ergänzte Ernst. Beide schwiegen wieder, eine angenehme pulsierende Wärme pumpte durch ihre Körper.

„Ist dir eigentlich klar, wie krass das ist, was du gerade gesagt hast?“, fragte Marcus.

Sie starrten in den Himmel, und die Wärme, die ihre Körper durchströmte, wuchs aus ihnen heraus, und sie sahen bald sich selbst nebeneinander am Strand liegen. Aus ihren Körpern gelöst, fühlten sie sich miteinander und mit der belebten und unbelebten Welt verbunden und spürten und verstanden, wie alles miteinander verwoben ist. Dieses Gefühl war nicht traumhaft vernebelt, im Gegenteil, es schien wahrer, heller und klarer als Tageslicht, als wären sie aus einem langen Traum erwacht.

Sie versicherten sich gegenseitig voller Glück und leuchtend ihrer Gefühle und Gedanken, fanden sich in jedem Wort des anderen genauer wieder und besser verstanden, als sie es für sich selbst hätten ausdrücken können. Als der Morgen anbrach, fuhr Marcus ihn heim. Sie verabschiedeten sich vor der Haustür seiner Eltern, nicht ohne sich vorher einander zu versprechen, sich gleich nach dem Aufstehen wiederzutreffen.

Beim Versuch einzuschlafen, wurde Ernst klar, wie banal der auslösende Gedanke für dieses grandiose Erlebnis war. Er hätte Marcus von Phänomenen der Quantenmechanik berichten können, über die Quantenverschränkung und die daraus resultierenden Fernwirkungen, die auch mit Überlichtgeschwindigkeit wirken. Das wäre viel komplexer gewesen, hätte wahrscheinlich aber nicht den geringsten Eindruck bei Marcus hinterlassen. Physik war Marcus´ Sache nicht.

Es musste etwas anderes gewesen sein als der Inhalt seiner Worte, das eine Tür aufgestoßen hatte, durch die man, so hoffte er inständig, auch morgen noch gehen konnte, wenn der Substanzrausch vorüber war. Diese Erkenntnisse, dieses Glück durften nicht verloren gehen. Er fürchtete die bekannte Enttäuschung, wenn nächtliche Höhenflüge, bei nüchterner Betrachtung im Morgenlicht zu Staub zerfallen.

Ernst erwachte. Er war nüchtern. Das Glück war noch da, wie am Vortag. Er rief Marcus an, bei ihm war es auch noch da. Sie trafen sich sofort und erinnerten sich gegenseitig. Es steigerte sich in ihnen, und sie wussten nicht, wohin mit ihrer Energie. Sie mussten ihre Erfahrung mit jemandem teilen. Sie überlegten, wem sie als erstes das Privileg zuteil lassen sollten, eingeweiht zu werden und zu ihnen in diesen Glückszustand zu wechseln. Sarah fiel Ernst als Erste ein, Marcus war einverstanden.

Es würde wieder ein heißer Sommertag werden, sie verabredeten sich mit ihr an einem kleinen Baggersee. Baden war an der Kiesgrube verboten, es wurde aber fast nie kontrolliert.

Sarah wartete auf die Zusage für ihren Zahnmedizinstudienplatz. Sie war schön und rein. Das Empfinden von Schönheit und Reinheit, das sie bei Jungs auslöste, nervte sie. Bei der Abiparty war sie Ernst Gedanken zuvorgekommen, als er spät betrunken mit glasigen Augen vor ihr stand.

„Jetzt fehlt nur noch, dass du mir heute auch erzählst, dass du in der Siebten unsterblich in mich verliebt warst“, hatte sie gesagt.

„Hä? Nein, doch klar, bin ich doch noch immer! Willst du mich heiraten?“, hatte er versucht es ironisch zu wenden, ihre Hand genommen und war mit einem Augenzwinkern vor ihr auf die Knie gegangen.

„Na gut“, hatte sie lachend gerufen, ihn hoch und auf die Tanzfläche gezogen, und sie tanzten zu “What´s up“ von den „4-non-blondes“ zwischen leeren Bierflaschen und denen, die schon angefangen hatten aufzuräumen.

Sarah saß schon alleine am kleinen Strand versteckt hinter Büschen auf einem großen Badehandtuch in einem dunkelblauen Bikini. Ihr dichtes schulterlanges blondes Haar war offen. Sie setzten sich neben sie.

Ohne sich vorher darüber verabredet zu haben, kamen sie erst mal nicht auf ihr Erlebnis zu sprechen, sondern blickten innerlich strahlend aufs Wasser. Sie würde ihnen die innerliche Veränderung bestimmt ansehen und wissen wollen, was dieses Feuer entzündet hatte.

„Was ist denn los?“, fragte sie, als sie einige Zeit schweigend, stumpfsinnig lächelnd aufs Wasser geblickt hatten. Sie hatte es also bemerkt, interpretierten sie ihre Frage. Zufrieden legten sie los, erzählten möglichst wortgetreu den gestrigen Dialog nach, wechselten sich dabei ab, ergänzten einander, bestätigten sich und blickten sich wie ein verliebtes Paar immer wieder in die Augen.

„Habt ihr euch was geschmissen?“, fragte sie, nachdem der furios vorgetragene Bericht geendet hatte und die beiden sie gespannt beobachtet hatten, als hätten sie die Lunte eines Sylvesterböllers gezündet, der jede Sekunde hochgehen musste.

Sie ignorierten ihre Frage, ergänzten Details, steigerten die Adjektive, berichteten von ihrem Gedankenaustausch danach, aber auch das Nachzündeln blieb ohne Wirkung. Sarah blickte verlegen lächelnd auf den See.

Die Jungs hielten es nicht mehr aus, sprangen gleichzeitig auf, zogen sich aus und rannten ins Wasser, tauchten unter, verharrten reglos kauernd am schlammigen Grund des Sees, der sie wie eine Fruchtblase umschloss. Dann richteten sie sich abrupt synchron auf, standen bis zur Hüfte im Wasser, atmeten tief ein, fingen an zu lachen, machten schlagende Ruderbewegungen mit den Armen, planschten mit den Händen auf die Wasseroberfläche und tauchten durch tiefe Kniebeugen immer wieder auf und ab. Der trübe Baggersee erschien ihnen klar wie ein Bergsee. Sie begannen sich darin zu waschen, rieben sich ihre Körper ab, das ablaufende Wasser strömte reinigend an ihnen hinab, sie fühlten sich neu geboren.

Die unfreiwillige Taufzeugin Sarah lächelte weiter verlegen und versuchte locker zu wirken. Sie verabschiedeten sich.

Nach dem Fehlstart bei Sarah wollten sie es als nächstes bei ihren Brüdern versuchen. Sie waren zwar weniger attraktiv als Sarah, für die Einweihung aber geeigneter, da sie ihnen vom Kopf her ähnlicher waren. Sie würden sich einfacher entzünden lassen. Aber sie ließen sich weder entzünden noch infizieren. Sie waren besorgt und befürchteten eine drogeninduzierte Psychose oder meinten, die beiden wollten sie verarschen.

Die folgenden Tage fühlten die beiden sich fröhlich und hilflos, bis Marcus im Bücherschrank seiner Eltern die “Autobiographie eines Yogis“ entdeckte. Die Hilflosigkeit löste sich durch die Lektüre in Luft auf. Was ihnen passiert war, konnte man darin nachlesen, war in Indien nichts Außergewöhnliches. Es war ein typisches Erweckungserlebnis, der Anfang einer spirituellen Reise. Der nächste logische Schritt war, nach Indien zu reisen und einen Guru zu finden, der sie weiter auf ihrem Weg führte.

Bevor sie die Reise antreten konnten, musste Ernst seinen Zivi in Bonn ableisten. Es folgten Monate, in denen sie spirituelle Literatur lasen, meditierten, mit Yoga anfingen und versuchten selbst auf dem Weg voranzuschreiten. Das glückliche Grundgefühl war immer noch da, aber es wurde schwächer. Je schwächer es wurde, umso stärker wurde ihre Sehnsucht, noch einmal in den vollen Genuss des Entgrenzungsgefühls zu kommen.

Sie sahen sich an den Wochenenden in Kleve, zogen die spirituellen Zügel an, meditierten länger und öfter, übten härter Yoga und verzichteten auf Fleisch, Drogen, Alkohol, Sex und Masturbation.

Marcus gab sein Zimmer in Paris auf, wohnte wieder bei seinen Eltern und verdiente Geld am Fließband in der örtlichen Margarinefabrik. Ernst ernährte sich im Krankenhaus von übrig gebliebenen Patientenessen, so sparten beide so viel sie konnten von ihren Gehältern ab. Nach 14 Monaten konnten sie endlich nach Indien aufbrechen.

Der Pfau im Honigbaum

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