Читать книгу Der Pfau im Honigbaum - Christian Frössler - Страница 6

Оглавление

Indien

Der Zug hatte das Rheintal verlassen. Ernst dachte daran zurück, mit welcher Leichtfüßigkeit sie damals nach Indien aufgebrochen waren.

Sie hatten sich zwei Tickets Frankfurt – Neu-Delhi von Kuwait-Airways, Traveller-Schecks von Thomas Cook und einen Lonely-Planet-Reiseführer besorgt und sich ein Visum in der indischen Botschaft in Bonn ausstellen lassen. In der Nacht vor der Abreise feierten sie bis morgens um sechs mit Krankenschwesterschülerinnen Abschied, mit denen Ernst sich während seines Zivildienstes angefreundet hatte. Um zehn ging ihr Flieger. Im Flugzeug nach Kuwait schliefen sie, nach dem Umsteigen in den Flieger nach Delhi schaute Ernst das erste Mal in den Reiseführer, um ein Hostel auszuwählen.

Für Reiseimpfungen, Klima, Kultur, Flora, Fauna, Essen oder Geographie von Indien hatten sie sich überhaupt nicht interessiert. Aus der Autobiographie eines Yogis ging für sie hervor, dass ihr Guru sie automatisch finden würde. Sie mussten nur offen sein, dem Schicksal Raum lassen, jede Planung hätte diesen Raum eingeschränkt.

Sie hatten wirklich keine Ahnung gehabt: Tuk-Tuks, Kühe, Hunde, Affen, Fahrradrikschas, bunte Busse und LKWs teilten sich chaotisch die Straßen, die Gerüche, die Abgase, der Gestank von den kleinen Feuern der Garküchen, von alten Dieselmotoren, Exkrementen und Zweitaktmotoren, die Menschenmengen, das Klima, das Essen. Das Essen!

Sie hatten in ihrem Leben noch nie indisch gegessen. Die erste Mahlzeit hatten sie darum für einen bösen Spaß gehalten, den sich der Mann am Straßenstand mit Touristen machen wollte. Von zu Hause waren sie allenfalls eine Priese schlechten Pfeffers gewohnt. Die Schärfe der Soßen hatte ihre Zungen und Rachen verätzt. Sie hatten versucht, die Schärfe mit Wasser zu löschen, das auf dem Tisch in einem Krug bereitstand und waren verärgert ohne zu zahlen aufgestanden. Das Tischwasser hatte natürlich Durchfall zur Folge.

Erst 14 Monate später hatte Marcus nach Antibiosen und Darmkuren wieder eine richtige deutsche Kackwurst zustande gebracht. Er hatte Ernst stolz ein Foto davon mit einem Brief geschickt, in dem er sich für diese Unappetitlichkeit entschuldigte, aber erklärte, dass er seine Freude darüber unbedingt mit jemandem teilen wollte und vermutete, Ernst wäre der Einzige, der sie nachvollziehen könnte.

In Delhi schliefen sie im Schlafsaal eines Hostels um Geld zu sparen, popelten sich permanent die schwarzen an ihren Schleimhäuten klebenden Abgasreste aus den Nasen, fühlten sich durch den Lärm, den Durchfall und die Hitze ungesund. Auf ihrer Haut klebte ständig ein Film aus Schmutz und Schweiß. Die Hocktoiletten ekelten sie an, obwohl ihnen klar war, dass Sitztoiletten noch viel unhygienischer gewesen wären. Es gab kein Klopapier, man nutzte Wasser, Seife und die linke Hand. In den Ecken und Gassen mischten sich Exkremente von Tier und Mensch. Die vielen Bettler, vor allem die Kinder, schockten sie.

Wo sie als große, langhaarige, blonde Männer auch hinkamen, wurden sie umringt von einer Traube aufdringlicher Menschen, die sie neugierig ansprachen und anfassten. Die permanente Unterschreitung ihrer Nahzonen löste Stress in ihnen aus. Sie hatten sich der Hölle noch nie so nah gefühlt. Statt sich spirituell zu öffnen, fuhren sie die Schotten hoch und schalteten in den Überlebensmodus. Wie sollte sie hier Erleuchtung finden?

Vielleicht bewirkte ihr Guru diesen Horror, damit sie rasch zu ihm weiterzogen, versuchten sie sich die Lage schön zu reden. Also brachen sie nach Rishikesh auf, einem nahegelegen heiligen Ort. Rishikesh liegt an den Ausläufern des Himalayas, wo der Ganges noch klar ist. Hier hatten die Beatles ihren Guru gefunden, ein starkes Argument für Marcus.

Obwohl sich die Reise nur über etwas mehr als 200 Kilometer erstreckte, dauerte die Busfahrt sechs Stunden. Der Fahrstil der Verkehrsteilnehmer auf der zweieinhalbspurigen Straße war angsteinflößend, eine Achterbahnfahrt ohne Anschnallgurte.

Auf der halben mittleren Spur, die in beide Fahrtrichtungen zum Überholen genutzt wurde, hielten die Fahrer mit Vollgas hupend auf entgegenkommende Autos, Tiere, Menschen, LKWs und Busse drauf. Einer wich dann einer geheimen Logik folgend in letzter Sekunde aus. Der Versuch sich selbst damit zu beruhigen, dass das schon irgendwie kontrolliert war, wurde durch den Anblick der unzähligen Unfallwracks am Straßenrand erheblich gestört.

Die nicht gepolsterten Metallsitze waren viel zu klein für ihre 1,90m. Ihre Oberschenkel waren wie in Schraubstöcken zwischen den Metallgestängen der Sitze eingeklemmt und jede Vibration und jeder Schlag übertrug sich auf ihre Knochen.

In den Gängen drängten sich die Menschen, einige hingen aus den Türen, auf vielen Bussen saßen Passagiere neben ihrem gebündelten Gepäck auf dem Dach. Als ein Kleinkind nicht mehr in den Bus passte, wurde es ihnen durch das Fenster reingereicht und auf den Schoß gesetzt. Erschrocken blickte es in die Gesichter der beiden andersartig aussehenden Männer.

Und dann dieser Lärm! Die Fensterscheiben waren in Stahlrahmen gefasst, schlugen zitternd, ohrenbetäubend in der gummilosen Stahlkarosserie der Tata-Busse hin und her. Der Busfahrer, der sich einen kleinen Altar im Führerhaus eingerichtet hatte, in dem Sandelholzstäbchen brannten, Heiligenbilder an der Scheibe klebten und Glühbirnen blinkten, die man sich lieber in den nicht funktionierenden Scheinwerfern gewünscht hätte, versuchte mit in ihren Ohren schief klingender indischer Musik aus scheppernden Boxen den Fahrtlärm zu übertönen.

Nur für kraterartige Schlaglöcher wurde das Tempo kurz gedrosselt, kleinere schlugen aufgrund der schlechten Federung voll durch, so dass sie immer wieder vom Sitz bis unter die Decke abhoben. Was der Busfahrer an Minuten durch den geisteskranken Fahrstil herausgeholt hatte, investierte er dann in unnötig lange Pausen, in denen er ruhig ausstieg, sich an einem Straßenstand Chai und Kat servieren ließ und in aller Ruhe beobachtete, wie Verkäufer um und im Bus auf und ab gingen um Chai, Nüsse oder Samosas anzubieten. Verlumpte, unterernährte Kinder kehrten mit kaputten Handfegern den Bus aus und hielten für ein Abendbrot die Hände auf. Nachdem ein Mindestumsatz bei einem Stopp erreicht worden war, schrie der Ticketverkäufer hektisch, als ginge es plötzlich wieder um jede Sekunde. Der Busfahrer stopfte bedächtig sein Hemd in die Hose, stand langsam auf, nahm mit einer geschickt versteckten Handbewegung Geldscheine an und schritt majestätisch an tief um ein Feuer herum auf dem Boden hockenden, zahnlosen Alten vorbei zum Steuer. Heizdeckenverkäufer in einem sich wandelnden Kastensystem, befand Ernst.

Rishikesh war schöner und ruhiger. Sie bezogen ein Zimmer in einem sauberen Hostel am Ganges, das zu einem Ashram gehörte, in dem jeden Abend ein über siebzigjähriger, blinder Guru namens Yukteshvar Satsang hielt. Das Hostel wurde von der Schweizerin Shantala geführt, die Mitte vierzig war und mit Yukteshvar zwei Kinder hatte, den Zehnjährigen Manua und die sechszehnjährige Smulia. Es gab europäisches Essen, das nicht gut, aber für sie überhaupt essbar war. Der Boden war weiß gefliest, die Toiletten blitzsauber und europäisch. Dankbar wieder Boden unter den Füßen zu haben, beschlossen sie gleich am ersten Abend zum Satsang zu gehen.

Satsang, wussten sie, bedeutete etwa „Zusammenkunft in Wahrheit“, das war jetzt das Richtige für sie. Dort fanden sich allabendlich etwa zwanzig Westler ein, die meisten Europäerinnen zwischen 35 und 60 Jahren. Es wurde gemeinsam meditiert, Mantras wurden rezitiert und Lieder gesungen, dann hielt Yukteshvar eine freie Ansprache und beantwortete die Fragen der versammelten Schüler, bevor er alle mit einem Segen entließ. In dem einfachen Raum saß man dabei auf Mediationskissen, der Satsang war kostenlos.

Sie hatten erwartet, direkt am ersten Abend von Yukteshvar als besonders fortgeschrittene Schüler erkannt und angesprochen zu werden. Offensichtlich wichen sie doch schon durch Alter, Geschlecht und Ausstrahlung von den anderen ab, deren Blicke auf Frustration als Triebfeder für diese Weltflucht schließen ließen.

Da Yukteshvar ihnen auch nach einigen Tagen trotz leutseligen Lächelns keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, beschlossen sie eines Abends, etwas nachzuhelfen, er war ja schließlich blind.

Nach dem abschließenden Segen blieben sie sitzen, als die anderen Schüler aufstanden. Die Letzten, die den Raum verließen, schielten angesichts ihrer Protokollverletzung missbilligend auf sie zurück. Manua, der Sohn, kam wie immer in den Raum, um seinen Vater aufzuhelfen und aus dem Raum zu führen.

„Will one day your son be your diciple too?“, ergriff Marcus die Initiative. Yukteshvar blieb stehen und wandte den Kopf in ihre Richtung.

„He is already receiving lessons from me.“

„And how about your daughter?“, fragte Ernst.

„She is not appropriate for the Yoga-way, she will marry“, antwortete er in indisch gefärbtem Englisch und deutete seinem Sohn durch einen Ruck weiterzugehen.

„Where are you from?“, wollte Manua neugierig strahlend wissen.

„From Germany“, antwortete Ernst.

„Meine Mutter kommt aus der Schweiz, da werde ich auch eines Tages mal hinreisen. Wie heißt ihr?“, wechselte Manua in Hochdeutsch mit einem schweizerdeutschen Singsang. Ihre Antwort hörte er kaum noch, weil sein Vater ihn weiterdrängte.

Sie waren enttäuscht von dem Gespräch, machten tagsüber jetzt lange Spaziergänge am Ganges, in die Berge, den angrenzenden Dschungel und schauten sich andere Ashrams und Gurus an.

Die weißen Sandstrände mit riesigen Felsen boten vor den mit Urwald bewachsenen Hängen eine wunderschöne Kulisse. Sie begegneten Giftschlangen, lasen Fährten im Sand, von Tieren, die nachts an den Fluss zum Trinken kamen, sogar vom Tiger. Sie wurden gewarnt, spürten aber keinerlei Angst, weil sie sich mit der Natur verbunden und vom Schicksal geschützt und geleitet fühlten. Sie sprangen von Felsen in den reißenden Ganges, sonnten sich, übten Yoga am Strand und meditierten auf den Felsen. Die Natur schenkte ihnen Schönheit und Verbundensein.

Abends gingen sie weiterhin zum Satsang, obwohl sie sich mittlerweile sicher waren, dass Yukteshvar nicht ihr Guru war, und begannen es weniger ernst zu nehmen und überlegten, wohin sie weiterziehen sollten. Während der Ansprachen und anschließenden Antworten begannen sie heimlich wie pubertierende Schüler mit Manua zu kommunizieren und durch Zeichen und Grimassen zu albern, in dem sicheren Gefühl, dass der blinde Vater davon nichts mitbekam.

In seinen Ausführungen, denen sie beim Blödeln nicht aufmerksam gefolgt waren, wollte Yukteshvar eines Abends einen Vergleich anstellen: Früher, fing er an, hätten die Menschen Blitze für Strafen Gottes gehalten, bis… und dann suchte er den Namen des Amerikaners, der den Blitzableiter erfunden und dessen Wirkung mit Hilfe eines Drachen den Menschen demonstriert hatte. Er sprach nicht weiter, wollte unbedingt erst auf den Namen des Entdeckers kommen. Die Hilflosigkeit des Gurus erzeugte eine peinliche Stille. Keiner der Schüler, die es so gerne getan hätten, konnte ihm auf die Sprünge helfen.

„Maybe he knows it, he looks so intelligent, like a scientist“, schlug einer der wenigen Männer mit italienischem Akzent vor und deutete auf Ernst, dem jetzt auch auffiel, dass er der einzige Brillenträger war, einer gandhiartigen Nickelbrille zudem.

„Ähm, I don´t know, I´m not sure, I mean, I don´t think, that it´s really important to know the name. Anyway, we know what you mean, I think, his name was Benjamin Franklin“, stotterte Ernst, überrascht, im Zentrum der Runde zu stehen. Da hob Yukteshvar den Kopf und richtete seine halbleeren, schielend umherwandernden Augen in seine Richtung, sein mildes Lächeln war reiner konzentrierter Wut gewichen. Ernst wurde vom leeren Blick fixiert, der jede seiner Zellen zu erfassen schien, die Schwerkraft vervielfachte und ihn zu Boden drückte.

„Why do you travel to India, you idiot? Go home and learn all about your culture first! Not knowing the basics of your culture, why do you waste your time and come to India. Go home!“, beschwor Yukteshvar ihn aggressiv und eindringlich.

Ernst schämte sich wie ein Kind, fühlte sich klein und dumm. Er war in seine Magengrube geschrumpft, musste den Kopf senken, seinen Rücken krümmen. Was machte er überhaupt hier?, fragte er sich jetzt selbst. Er sah weder die mitleidigen Blicke der anderen Schüler noch das verschwörerische Grinsen von Manua. Yukteshvar ließ sich von Manua aufhelfen und verkündete beim Hinausgehen, dass es heute keinen Segen geben würde.

Die Gruppe versicherte Ernst, dass sie das echt heftig und ungerecht fand, dass es das in den letzten Jahren noch nie gegeben hatte und einem fiel dann auf, dass Franklin ja sogar stimmte. Man klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. Als Marcus und er im Zimmer waren, beschlossen sie, jetzt auf jeden Fall länger in diesem Ashram zu bleiben. In der Autobiographie eines Yogis gab es viele Anekdoten von verweichlichten Westlern, die bei der ersten Kritik aufgaben und nicht die fördernde Liebe darin erkannten. Also waren sie am nächsten Abend wieder beim Satsang, aber es wurde keinen Bezug mehr auf den Eklat genommen, und die folgenden Tage gingen ereignislos ins Land.

Ernst fragte sich, ob er die Kritik nicht einfach wörtlich nehmen sollte und nach Hause zum Studieren zurückkehren sollte. Marcus fühlte sich krank und wollte sich noch ein wenig stärken, bevor es weitergehen sollte. Also beschloss Ernst, alleine spazieren zu gehen.

Auf der spektakulären Fußgängerhängebrücke über den Ganges, Lakshman Jhula, schloss er zu Smulia auf, die er bisher nur aus der Ferne gesehen hatte. Sie half in der Küche und beim Reinigen des Hostels. Sie betrat, wie die Mutter, nie den Mediationsraum während des Satsangs. Sie humpelte mit dem rechten Bein. Als er an ihr vorbeiging, nickte er kurz mit dem Kopf und schielte aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber.

„Gehst du wieder am Ganges spazieren?“, sprach sie ihn mit einer schönen hellen Stimme auf Deutsch an.

„Was? Äh, ja“, antwortete er erschrocken und blieb stehen. Ein bettelnder Hutaffe erkannte seine Chance und sprang Ernst auf die rechte Schulter. Er erschrak, der Affe auch, biss ihn in die rechte Schulter und sprang zurück auf ein Stahlseil der Brücke. Sie mussten beide lachen.

„Tut es weh?“

„Nein überhaupt nicht.“

„Aber du blutest.“

„Es tut nicht weh, und er wird schon keine Tollwut haben. Alles ok. Er war bestimmt eifersüchtig.“ Sie lachten wieder und schauten verlegen aneinander vorbei.

„Ich habe dich beobachtet“, sagte sie verschämt und senkte ihre Augen. Er schaute sie jetzt erstmals richtig an. Sie trug einen klassisch gewickelten rot-gelb-gold bestickten Sari, der kunstvoll um ihren schlanken Körper gewickelt war. Ihr tiefschwarzes, ordentlich gescheiteltes, glattes, geöltes Haar glänzte in der Sonne und war zu einem großen Dutt im Nacken gebunden. Die hellbraune Haut war rein, ihr längliches Gesicht mit hoher Stirn wurde von einer feinen, schmalen Nase geziert, mit einem silbernen Nasenstecker im rechten Nasenflügel. Die Augen waren groß, tief braun, fast schwarz und glänzten sanftmütig und klug. Die weißen Augäpfel wurden durch lange Wimpern betont, die Lippen waren voll und natürlich rot. Beidseits reichten lange, mehrendige goldene Ohrringe fast bis zu ihren Schultern.

Sie erzeugten einen Stau, die Leute drängten an ihnen vorbei, eine Kuh neben ihnen verengte zusätzlich die Brücke. Die Rollerfahrer hupten. Sie stellten sich nebeneinander eng an das Brückengeländer und blickten tief hinab in den Ganges. Unten standen Forellenschwärme im Strom, die von Passanten mit Brot gefüttert wurden, wenn Affen es nicht vorher klauten.

„Darf ich dich mal begleiten?“

„Ich weiß nicht, ob das deinen Eltern recht wäre?“

„Mach dir darüber keine Gedanken.“

Sie gingen von diesem Tag an täglich nicht weit und langsamen Schrittes den Ganges flussaufwärts spazieren. Sie setzten sich ans Ufer, gingen in den Urwald, bestaunten Pflanzen und Tiere und führten lange Gespräche.

Er erzählte ihr von Deutschland, seinem Leben und seinem Erlebnis mit Marcus. Sie verstand sofort. Sie erzählte ihm, dass sie auf der rechten Seite einen angeborenen Hüftfehler habe, der verhinderte, dass sie im Lotussitz meditieren konnte. Yukteshvar hatte erklärt, dass dieser Geburtsfehler ein Zeichen der Natur sei, dass sie nicht meditieren und Yoga praktizieren solle, obwohl es sie sehr interessierte. Sie gestand, oft eifersüchtig auf Manua zu sein, der von ihrem Vater darin unterrichtet wurde, die Sache aber gar nicht ernst nahm. Sie hatte gehört, dass man ihre Hüfte in Europa operieren konnte. Für ihren Vater kam jedoch nicht in Frage, gegen das Karma zu handeln, sie sollte ihr Schicksal akzeptieren. Für sie sei vorherbestimmt, einem Mann zu dienen, der eine große spirituelle Mission habe und der dafür ihre volle Unterstützung brauche. Das sei eine wichtige und ehrenhafte Aufgabe für eine Frau.

„Und, kennst du den Auserwählten schon, dem du dienen darfst?“, fragte Ernst.

„Wir haben uns noch nicht getroffen, aber ich weiß, wer es sein wird, der Bruder meines Vaters.“

„Dein Onkel?“

„Ja, er ist viel älter als ich, aber er ist ein mächtiger und weiser Mann. Es ist eine große Ehre, wenn er mich zur Frau nehmen würde. Es würde auch unsere Familie absichern und für Manua eine große Hilfe sein.“

„Aber, was ist, wenn du ihn nicht leiden kannst?“

„Ich kenne ihn ja nicht, aber ich werde ihn lieben können. Meine Eltern würden nicht zustimmen, wenn ich ihn nicht lieben könnte.“

„Ich finde es selbst für indische Verhältnisse ziemlich krass, seinen Onkel zu heiraten. Was sagt denn deine Mutter dazu?“

„Sie meint auch, dass ich ihn heiraten soll. Sie dient meinem Vater ja auch und ist sehr glücklich damit. Sie hat mir versprochen, meinen Vater zu überreden, dass ich mir als Belohnung vor der Hochzeit in der Schweiz meine Hüfte operieren lassen darf.“

„Oh Mann, ich weiß nicht. Wir glauben in Europa ja an eine andere Liebe, die wirst du dann nie kennenlernen.“

„Du meinst verliebt sein?“

„Ja.“

„Das kenne ich auch, aber wegen dieses Gefühls werde ich nicht heiraten.“

„Du bist verliebt?“

„Ja“, sagte sie verschämt und blickte auf den Boden. Er fühlte sich sofort gemeint, die letzten Tage waren schön gewesen. Er griff, nachdem er sich kurz versichert hatte, dass niemand in der Nähe war, nach ihrer Hand und umschloss sie fest.

„Smulia, du bist noch jung, lass dir Zeit. Du solltest wirklich deinem Herzen folgen und dich nicht von deiner Familie erpressen lassen.“

„Also, ich bin nicht nach Indien gereist, um Urlaubsaffären zu haben, da hätte ich weiter Animateur im Club Med bleiben können“, polterte Marcus im Zimmer am selben Abend nach einem weiteren ereignislosen Satsang los.

„Ach komm, das ist keine Affäre, wir unterhalten uns nur“, sagte Ernst empört.

„Wie auch immer, Yukteshvar ist sicher nicht mein Guru. Ich bin in Indien, um meinen Guru zu finden, morgen reise ich ab.“

„Ich will doch auch vorankommen und meinen Lehrer finden. Ich glaube auch nicht, dass Yukteshvar unser Lehrer ist. Ich komme natürlich mit.“

Am nächsten Tag checkten sie bei Shantala aus. Ernst wollte sich noch von Smulia, verabschieden, aber sie war mit Manua und Yukteshvar in die Stadt gefahren.

Der Pfau im Honigbaum

Подняться наверх