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Kapitel 2: Gott sucht den Menschen
ОглавлениеDie Sonne versank, die Nacht brach herein und aus dem Fenster sah Abid, wie sich der Horizont in ein Farbenmeer aus Violett und Rot verwandelte. Ein weiterer Tag neigte sich seinem Ende, und gleichzeitig wurde aus dem Sommer langsam der Herbst. Bald müsste er eine Lampe entzünden, falls er abends weiter an seinem Schreibpult arbeiten wollte.
Wie sehr brauchte der Mensch doch das Licht, um zu leben und zu arbeiten! Erst im Licht wurden die Dinge sichtbar, nur durch diese Strahlen, die nicht einzufangen und selbst nicht zu sehen waren, traten die Elemente aus ihrer Verborgenheit hervor.
Neben Abids Bibel lagen mehrere beschriebene Blätter, die seine Erinnerungen und die Erlebnisse seines Lebens enthielten. In vielem glich sein Leben dem seiner Nachbarn. In dem kleinen Stall hinter seinem Haus lag eine Ziege mit ihren Jungen auf einem Strohbett, außerdem besaß Abid einige Kühe und sogar Pferde. Aber im Gegensatz zu vielen anderen war er auch ein Reisender gewesen. Anfangs hatten die Leute ihm gesagt, dass er arm würde, wenn er immerzu durch die Welt reiste. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Sein Leben wurde reicher, und die kostbaren Dinge, die er von seinen Reisen mitbrachte, hatten ihn sogar zu einem wohlhabenden Mann gemacht.
Als er über die Zeit seiner Wanderschaft nachdachte, kam ihm wieder seine erste Reise nach Kut al-Amara in den Sinn. Er hatte sich in seinem Leben nach Gott und einem Sinn gesehnt, aber es waren die verschiedenen Begegnungen und Erfahrungen des Lebens gewesen, die ihn zu Gott geführt hatten. Er war auf der Suche gewesen, doch Gott hatte ihn gefunden. Beides gehörte zusammen – so beschrieb es schon die Bibel.
Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass Abid eine Öllampe entzündete. Im flackernden Schein des Lichts senkte er seine Schreibfeder auf das Pergament. Die Spitze berührte die rechte obere Ecke, und aus etwas bis dahin Schlichtem wurde nun etwas Besonderes. Genau das Gleiche geschah doch auch, wenn der Schöpfer das Leben eines Geschöpfes berührte und wieder das Recht erhielt, ein Leben zu formen und zu gestalten. Davon war Abid überzeugt und hatte es im eigenen Leben erfahren.
Wie die Beziehung zwischen Gott und den Menschen zerbrochen war, hatte Abid verstanden. Aber wie konnten diese wieder zusammenfinden? Nachdem die Sünde in die Welt gekommen war, lag die Beziehung zwischen Gott und den Menschen in Scherben. Adam und Eva mussten das Paradies verlassen und die Lasten und Schmerzen des Lebens nun am eigenen Leib spüren und tragen.
Abid kannte die schwere Feldarbeit, wie sie schon Adam erlebt haben musste. In endlosen Stunden hatte Abid seine Äcker bearbeitet und dabei immer wieder über jenen Ruf Gottes nach dem Sündenfall nachgedacht. „Adam, wo bist du?“, hatte es damals durch den Garten Eden geschallt. Wieso hatte Gott nach Adam gerufen? Gott war doch allmächtig, allgegenwärtig und allwissend. Er musste Adam und seine Frau gesehen haben, aber warum rief er ihn dann?
Immer und immer wieder beschäftigte Abid diese Frage. Brauchte Gott den Menschen, um vollkommen zu sein? Aber wenn Gott den Menschen brauchte, dann wäre er doch kein vollkommener Gott. Dann wäre er jämmerlich. Jemand, der zwar etwas schaffen konnte, dies aber nur tat, um nicht einsam zu sein. Das traf aber sicherlich nicht zu.
Der Gedanke an das verlorene Paradies schmerzte, und gleichzeitig wusste Abid genau: Gott war vollkommen. Er war drei und doch eins. Er brauchte niemanden sonst. Sein Geist schwebte bei der Schöpfung über dem Wasser, und durch und für seinen Sohn Jesus Christus war alles geschaffen. Die Welt, der Kosmos und der Mensch existierten zur Ehre Gottes und nicht, weil Gott das Geschaffene zwingend gebraucht hätte.
Abid konnte sich noch gut daran erinnern, wie er einmal bei der Feldarbeit den Blick von der Erde gehoben, zum Himmel geschaut und sich gefragt hatte, welchen Klang die Stimme Gottes wohl damals im Garten Eden gehabt hatte. Er hatte die Frage fast hören können: „Adam, Mensch, wo bist du?“
„Adam, Mensch, du, der du meine Stimme hörst – ja, ich rufe nach dir: Wo bist du?“ Die Stimme im Garten klang bestimmt weder emotionslos noch gelangweilt. In ihr schwang sicher der Schmerz eines Vaters mit, der sein Kind sucht. Gott tat das Herz weh, und vermutlich waren seine Worte voller Schmerz und Trauer. Gleichzeitig war Gott fest entschlossen, den Menschen, der sich von ihm abgewandt hatte, zu finden.
Denn der dreieinige Gott ist nicht nur ein gerechter und barmherziger Gott, dachte Abid, er ist auch die Liebe selbst. Er ist die reinste Form der Liebe und er liebt seine Menschen. Das war es! Das war der Grund, weshalb Gott nicht wollte, dass der Mensch in der Gottesferne lebte. Gott rang und kämpfte, denn nur Gott selbst konnte einen Weg finden, der seiner Gerechtigkeit entsprach und das Geschehene aus der Welt schaffen würde.
Gott hatte tatsächlich die ganze Zeit gewusst, wo sich seine Kinder befanden. Nachdem er Adam und Eva gerufen hatte, trat er auf sie zu und sprach mit ihnen. In einem Akt der Liebe stellte er ihnen Kleider zur Verfügung, damit sie sich anziehen konnten und sich nicht weiter voreinander und vor ihm schämen mussten. Gott wollte dem Menschen seine Ehre zurückgeben, die er verloren hatte. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Liebe – an all diese Dinge musste Abid denken, wenn er sich die Ereignisse im Garten Eden vor Augen malte.
Eine seiner Reisen hatte Abid in die Sixtinische Kapelle nach Rom geführt. Er wusste, dass er bei Weitem nicht in der Lage war, wie ein Michelangelo zu malen. Aber ein ähnliches Bild formte sich nun auf seinem Blatt.
Gott und Mensch waren getrennt. Doch wenn es dem Menschen gelang, sich von seiner Arbeit, der Last des Lebens oder dieser Welt abzuwenden, dann konnte er genau das erleben, was dieser große Künstler der Renaissance an die Decke des Apostolischen Palastes gemalt hatte: Gott war auf der Suche nach ihm, dem Verlorenen. Der Ruf des Schöpfers schallte immer noch durch diese Welt, Gott streckte jedem seine Hand entgegen.
Gott war so anders, so viel reiner und schöner, als die Menschen heute über ihn dachten. Das Gottesbild in dieser Welt war von vielen falschen Bildern gekennzeichnet und der Begriff „Gott“ hatte einen negativen Klang erhalten. Ein Gott, für den Menschen töteten, in dessen Namen Kirchen grausame Dinge taten, dessen Lehre anscheinend nur aus Verboten bestand – an einen solchen Gott wollten und konnten die Menschen nicht glauben.
Viele verbanden mit „Gott“ etwas Negatives oder auch Widersprüchliches, da jeder den Begriff so füllte, wie es ihm beliebte: Philosophen, Religionsgemeinschaften, Historiker – jeder verpasste „Gott“ einen anderen Inhalt.
Doch der Gott, dem Abid begegnet war und den die Bibel beschrieb, war aus seiner Sicht ein liebender, ein sich sehnender Gott. Einer, der für die Menschen das Glück und nicht das Unglück wollte. Ein Gott voller Güte, Gnade und Barmherzigkeit. Diese Eigenschaften waren die Eckpfeiler des Wesen Gottes, wie ihm Abid begegnet war.
„Verehrter Vater, willst du dich nicht langsam schlafen legen? Es ist schon spät.“
Die Worte von Hamide rissen Abid aus seinen Gedanken. Abid wusste, dass es Hamide nur gut mit ihm meinte. Und je älter er wurde, umso mehr verließen ihn die Kräfte und er brauchte die Erholung der Nacht. Doch jetzt konnte er sich noch nicht schlafen legen. „Nein, meine Gute, lass mich noch einen Moment. Ich will kurz hinausgehen, und dann werde ich noch ein wenig arbeiten.“
Hamide wusste, dass es zwecklos war. Es gab Dinge, von denen nichts auf der Welt ihren Vater abbringen konnte. Und wenn er sich vorgenommen hatte, die Schreibfeder noch nicht zur Seite zu legen, dann würde er sein Vorhaben auch zu Ende führen. So ging sie in ihr Schlafgemach, und ihr Vater trat aus dem Haus ins Freie.
Endlos erstreckte sich der Sternenhimmel über Abid. Auch wenn die Gestirne in dieser Nacht hell leuchteten, war es einfach unmöglich, ihre Menge zu zählen. Welch eine Weite, welch eine Größe!
Er selbst hatte in seinem Leben viele kleine und große Wunder mit seinem Herrn erlebt, immer wieder sanft die Hand des Schöpfers gespürt und vernommen, wie dieser zu ihm sprach. Abid wusste jedoch, dass Gott sich im Lauf der Weltgeschichte den Menschen nicht immer auf diese Weise gezeigt hatte. Die Menschheit hatte den Kontakt zum Schöpfer verloren. Nach der Vertreibung aus dem Paradies verblasste die Erinnerung an diese Zeit mit ihm zusehends. Sein wahres Wesen kannten die Menschen kaum noch.
Wenn Gott den Menschen suchte und wieder in Verbindung mit ihm treten wollte, dann musste er einen Weg wählen, bei dem er sich Stück für Stück offenbaren konnte. Alles andere würde den Menschen überfordern und würde auch dem Wesen Gottes nicht gerecht. Wie sollten sie lernen, ihm, dem Herrn der Welt, zu vertrauen und zu glauben? Abid wusste, dass Gottes Suche immer von Liebe geprägt war und dass er die Menschen nie überfordern wollte. Dennoch war Gott mit aller Macht in die dunkle Welt eingetreten.
Abids Blick in den Sternenhimmel verriet ihm, wo er fündig würde, um das Suchen Gottes weiter zu beschreiben. So ging er zurück in sein Haus und öffnete eine große Truhe, in der er einige ganz besondere Schmuckstücke seiner Antiquitätensammlung aufbewahrte. Vorsichtig hob Abid einen siebenarmigen Leuchter heraus, den die Juden „Menora“ nannten. Dann entzündete er eine einzelne Kerze und betrachtete das flackernde Licht.
Ganz langsam und behutsam war Gott vorgegangen, um aus der Dunkelheit zu treten und den Weg für das Licht der Welt zu ebnen. So wie Abid nur eine einzelne Kerze an diesem Leuchter entflammt hatte, so ähnlich hatte sich auch Gott verhalten. Sein erstes Rufen wurde von einem Mann in Ur im Land der Chaldäer gehört. Er war ein Mann, der anscheinend selbst nach Gott suchte und den dieser dann fand. Gefunden von dem suchenden Gott, verließ der Mann mit Namen Abraham seine Heimat und zog in ein fremdes Land namens Kanaan – damit begann die Geschichte der Verheißung.
Gott hatte Abraham erwählt, weil er durch seine Familie und seine Nachkommen eines Tages die ganze Menschheit segnen wollte. Aber bis dahin sollten noch viele Jahrhunderte vergehen. Denn Gott wollte dieser Welt seinen Weg zur Rettung nicht aufzwingen.
Abid griff nach seiner Bibel und fuhr mit seinem Finger über das Leder und die abgegriffenen Seiten. Wahllos blätterte er durch das Alte Testament: Geschichtsbücher, Weisheitsliteratur und Propheten. Die Geschichte eines Volkes mit seinem Gott, festgehalten in einem Buch. Er begegnete ihnen in Träumen, er vollbrachte große Taten und Wunder. Als eine Hungersnot über das Land Kanaan hereinbrach, war Jakob, der Enkel Abrahams, gezwungen, seine Heimat zu verlassen, und fand mit seiner Sippe in Ägypten Zuflucht. In Ägypten wurden die Nachkommen Abrahams zu einem großen Volk. Viele Generation lebten dort friedlich und wurden geachtet, doch dann wurden sie zu zahlreich und der herrschende Pharao begann, das fremde Volk zu unterdrücken.
Abid kannte die Bilder und Zeichnungen, die diese Epoche des Volkes Israel zeigten. Die Israeliten mussten schwere Fronarbeiten verrichten, und als der Pharao um seine Macht fürchtete, befahl er, dass alle männlichen Kinder der Israeliten nach der Geburt getötet werden sollten. Es schnürte Abid den Hals zu, als er an dieses Grauen denken musste. Doch schon bald darauf sollte der Gott, der sich dieses Volk erwählt hatte, in die Geschichte eingreifen und sich der Willkür des Pharaos entgegenstellen. Und dazu würde er einen Mann berufen, der sein Volk anführen sollte.
Gedankenversunken blickte Abid durch den Raum und wendete seinen Blick zu der brennenden Kerze auf dem siebenarmigen Leuchter. Langsam bahnte sich das weiche Wachs seinen Weg über die silbernen Arme. Immer wieder zuckten die Flammen und versprühten ihr Licht im Raum. Doch eins passierte nicht: Die Flammen sprachen nicht mit ihm. Aber genau dies war eines der bedeutendsten Ereignisse für das jüdische Volk. Und der Prophet Mose, der im Auftrag Gottes das Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten führen sollte, hatte es erlebt. In einem Moment, in dem Mose nicht damit gerechnet hatte, begegnete ihm der Gott, der sich auch schon Abraham, Isaak und Jakob gezeigt hatte.
An einem gewöhnlichen Tag hütete Mose die Schafe, als er plötzlich einen brennenden Dornenbusch sah. Der Busch brannte, und doch verbrannte er nicht. So schenkte Gott Mose in seinem Alltag eine Begegnung mit ihm selbst. Und als Mose Gott nach seinem Namen fragte, antwortete dieser mit den Worten: „Ich bin, der ich bin.“ Mit dieser Beschreibung unterstrich der ewige Schöpfer seine Unwandelbarkeit: Ich war, bin und bleibe in Ewigkeit derselbe.
Von den brennenden Kerzen blickte Abid zu seiner Bibel und schlug diese erneut auf. Er musste noch einmal das Wort Gottes studieren und sich mit dem beschäftigen, was nach der Berufung von Mose am brennenden Dornenbusch geschehen war.
Gott hatte seinen Propheten Mose zum Pharao gesandt, um durch ihn das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten zu führen. Nachdenklich erhob sich Abid aus seinem Lesesessel und ging zu seinem Bücherschrank. Zielstrebig blätterte er in einem Buch über Herrschertitel und ihre Bedeutung. Denn das, was bei der Befreiung aus der Knechtschaft geschah, wirkte auf ihn wie das Aufeinanderprallen von Mächten. Der Gott Israels gegen den Herrscher der Welt, der sich selbst als Repräsentant der Götterwelt und als Gottheit betrachtete, denn das war das Selbstverständnis eines Pharaos.
Abid nahm wieder seine Bibel zur Hand und studierte die Geschichte aus dem zweiten Buch Mose, die von den Ereignissen am Nil erzählte. Mutig konfrontierte Mose mit seinem Bruder Aaron den Pharao mit den Worten Gottes und forderte ihn auf, den Israeliten die Freiheit zu schenken. Doch der Pharao wollte seine Sklaven nicht ziehen lassen, und so folgten die Plagen, die den Herrscher von Ägypten zum Einlenken bringen sollten. Blut, Frösche, Stechmücken, Fliegen, Viehpest, Geschwüre, Hagel und Heuschrecken – nichts konnte die Haltung des Herrschers verändern, denn der Gott Jahwe hatte das Herz des Pharaos verstockt, um der Welt seine Größe und Macht zu offenbaren (vgl. Römer 9,14 – 18). Dann kamen die neunte und die zehnte Plage: Finsternis und Tod.
Lautlos legte Abid seine Bibel zur Seite. Für einen Moment schloss er seine Augen und die Welt versank in völliger Dunkelheit. Kein Mond, der sein mattes Licht verstrahlte, und auch keine Sterne, die einem den Weg erhellten. Achtsam legte Abid seine Hände über seine Ohren, und sogleich verstummten auch die Zikaden und der leise Flügelschlag der Nachtvögel.
Abid kniff seine Augen noch fester zusammen und die Hände drückte er so gut er nur konnte auf seine Ohren. Völlige Finsternis, völlige Abgeschiedenheit von dieser Welt und kein Gott, der irgendwo zu sehen oder zu hören war. Ein Zustand der Gottesferne, eine Welt ohne jede Hoffnung: die Finsternis, dachte Abid.
Er erinnerte sich daran, dass die Bibel diesen schlimmsten Moment von Gottes Zorn drei Mal beschreibt: bei der neunten Plage im Land Ägypten, an dem Tag, an dem Jesus auf Golgatha starb, und in Offenbarung 6, Vers 12. Drei Mal gab es die Beschreibung von Gottes Zorn, der sich in der Dunkelheit äußerte. Und alle Ereignisse stehen in einem Zusammenhang mit einer Befreiung, die Gott schenken möchte, dachte Abid.
Trotz der grausamen Dunkelheit war der Pharao nicht bereit, den Israeliten die Freiheit zu gewähren. So kam es zur zehnten und letzten Plage: der Tötung der Erstgeborenen und der Einsetzung des Passahfestes (vgl. 2. Mose 12,29 – 33). Jede israelitische Familie, die in jener denkwürdigen Nacht in Ägypten das Blut eines Lammes an die Türpfosten strich, wurde von der grausamen Plage Gottes verschont. Und wie von Gott im Vorfeld angekündigt, entließ der Pharao das Volk nun in die Freiheit.
In der Befreiung aus Ägypten zeigte sich der Gott Israels als der „wahre“ Gott; er war ganz anders als die Götter dieser Welt. Der Gott Israels war die Wahrheit, und der Glaube an ihn führte in die Freiheit – heraus aus der Knechtschaft. Abid wurde noch einmal klar: Den sichtbaren Göttern steht der unsichtbare Gott gegenüber. Der Zauber der Welt im Gegensatz zu dem Vertrauen in den, den wir nicht sehen und den wir doch in unserer Welt erfahren können.
Adam und Eva hatten im Garten Eden ihr Vertrauen in das Wort Gottes verloren, und beim Auszug aus Ägypten schenkte das Vertrauen in Gott die Freiheit und führte in die Beziehung mit ihm. Der Schlüssel für die Befreiung lag im Glauben. Der Glaube, der ausreichte, um dem Wort Gottes zu vertrauen, und der zur Erkenntnis führte, dass der Glaube wahr ist und rettet. Dieses Grundmuster sollte für alle Zeiten bestehen: Glaube. Vertrauen. Erkenntnis.
Nach der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten gelangte das Volk in die Wüste und zum Berg Sinai, wo Gott ihm die Zehn Gebote schenkte. Und wie im Garten Eden zeigte sich auch hier, dass Freiheit nicht ohne Ordnung existieren kann. Freiheit ohne ein Ziel und einen Rahmen führt in die Anarchie – in die Katastrophe. So schenkte Gott dem Volk nach der Befreiung als Erstes seine Gebote. Diese gaben Schutz, Rahmen und Richtung, in denen ein Leben in dieser Welt und in der Freiheit bei Gott gelingen konnte (vgl. 2. Mose 20,1 – 2). Es waren Gebote der Liebe und des Schutzes. Denn Gott liebte die Menschen so sehr, dass sich die Sünde nicht weiter ausbreiten sollte.
Und es waren nicht nur die lebensschenkenden Gebote, die die Zeit nach der Knechtschaft kennzeichneten, es war auch die permanente Gegenwart des rettenden Gottes. Tagsüber in der Wolkensäule und nachts in der Feuersäule führte er sein Volk. Er sprach mit Mose und versorgte das Volk mit Brot. Der Pharao quälte und knechtete die Israeliten, aber Gott, der auch uns aus der Sklaverei führen möchte, zeigte sich als gnädiger und liebender Gott (Lesetipp: 5. Mose 6,21 – 23).
Abid erhob sich und wollte schon die letzten Kerzen am Leuchter entzünden, als er von draußen das Blöken eines Schafes hörte. Sein ganzes Leben hatte Abid Tiere gehalten, und es gab in seinem Ort niemanden, der nicht eine Ziege oder ein Schaf besaß. Gott hatte die Tiere geschaffen, und auch Tiere waren seine geliebte Schöpfung. Gleichzeitig musste Abid an die Opferriten und den Tempeldienst denken, denn ein großer Teil des Alten Testaments drehte sich um diese Praktiken.
Um über die Opferriten der Israeliten zu sinnieren, wollte er seinen Schreibtisch verlassen. Grübelnd erhob er sich und ging hinaus. Hinter seinem Haus entdeckte er eine Axt, die in einem Hauklotz steckte, an dem er vor einigen Tag ein Huhn geschlachtet hatte.
„Wieso das Blut?“, fragte er sich, als er die Axt aus dem Holz zog und das vertrocknete Blut betrachtete. Für die modernen Menschen war der Opferkult im Alten Testament unbegreiflich. Doch im Kontext der damaligen Welt war er völlig einleuchtend. Wer den Vers aus 3. Mose 17,11 las, der konnte verstehen, wieso Gott dem Volk die Gebote und auch den Opferkult geschenkt hatte. Kaum ein anderer Vers zeigte deutlicher, dass in der antiken Welt das Blut als das Symbol für das Leben zu sehen war. Im Blut ist das Leben, und durch das Vergießen des Opfertierblutes geschah Sühne für die Schuld des Menschen. Eigentlich hätte der Mensch für seine Sünde gegenüber Gott den Tod verdient. Die Tieropfer symbolisierten Stellvertretung, Gnade und Gerechtigkeit. Gnade und Gerechtigkeit, die einem durch Glauben zuteilwurden. Derjenige, der die Opfer brachte, bezeugte damit, dass es eine sichtbare und eine unsichtbare Welt gibt. Er glaubte daran, dass Vergebung nötig ist. Das Blut des Tieres wurde vergossen, damit die Schuld den Sünder nicht traf.
Abid begriff immer mehr, dass die Menschen nur durch die Erzählungen, Gebote und Rituale des Alten Testaments Gottes Weg der Rettung begreifen können. Ihm war bewusst, dass diese Praktiken für manche verstörend und nicht nachvollziehbar waren, doch die Rettung aus Ägypten, die Zeit in der Wüste und auch der Opferkult des Alten Testaments waren die Grundlage für alle weiteren theologischen Gedanken (Lesetipp: 2. Korinther 3,4 – 4,6).
Zufrieden über seine bisherigen Erkenntnisse begab sich Abid wieder in seine Wohnung und zündete zwei weitere Kerzen an. Im Raum wurde es immer heller und der Schein der flackernden Dochte zog Abid in seinen Bann. Das zunehmende Licht erinnerte Abid an die Erzählungen der Bibel, die zeigten, wie Gott sich mehr und mehr den Menschen offenbarte und seinen Ruf „Adam, wo bist du?“ in die Weltgeschichte hineinwob.
Die Geschichte der Welt wirkte oft pessimistisch. Eine stetige Abwendung von Gott, ein Zerfall der Welt und der Werte. Eine Welt, die für viele hoffnungslos erschien. Doch gegen diese verkommene Welt stand die Geschichte Gottes mit seinem Volk – das hatte Abid in den letzten Jahren begriffen. Er griff nach einem Stift und zog seinen Notizblock zu sich heran. Es war an der Zeit, ein paar entscheidende Punkte festzuhalten, die er bei seinen Studien über das Volk Israel gelernt hatte:
Der Glaube im Alten Testament war immer ein Glaube der Hoffnung, dass Gott seine Verheißungen Wirklichkeit werden lässt. Ein Glaube, der ganz stark von der erwarteten und versprochenen Zukunft geprägt ist. Und gleichzeitig ein Leben mit Gott in der Gegenwart. Denn nicht durch Vernunft oder Wissen heilt die zerbrochene Beziehung zu Gott, sondern durch den Gott, der in der Geschichte erfahrbar wird: in der eigenen Lebensgeschichte. Dort, wo Menschen in der Bibel sich nach Gott ausstrecken, leise oder laut mit ihm reden, ihm Lieder singen, Gedichte schreiben oder ihn durch ihre Taten ehren, da berühren sich der Himmel und die Erde, da steht der Himmel offen. Es ist zwar immer nur ein Abglanz der verlorenen Beziehung aus dem Garten Eden, aber die Psalmen und Geschichten erzählen von den Momenten, in denen Gott und Mensch wieder zusammenfanden, weil Menschen anfingen, an Gott zu glauben (Lesetipp: Hebräer 11 – 12,3 und 2. Korinther 5,7).
Während Abid sich weiter einzelne Stichpunkte notierte, dachte er an die Feldarbeit, die er morgen noch zu erledigen hatte. Manche Dinge brauchten Zeit und sollten gut vorbereitet sein. Es war eine Vergeudung, den Samen für das nächste Jahr einfach so auf den Boden zu streuen. Der Boden musste vorher bearbeitet sein. In Gottes Geschichte mit dem Volk Israel hatte der Schöpfer den Boden der Welt für das Eigentliche vorbereitet und gleichzeitig alle Facetten der Glaubensreise und seines Wesens aufgezeigt.
Abid blätterte durch die Bibel und studierte in den Büchern der Könige und Chroniken die Geschichte des Volkes Israel. Nach der Befreiung aus Ägypten folgten die Zeit der Stiftshütte und dann die Einnahme des verheißenen Landes und der Bau des Tempels. Eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, die sich oft wie eine gescheiterte Liebegeschichte liest, in der Gott jedoch die Menschen, die er liebt, nie aufgibt, sondern durch sein Reden und Handeln immer wieder dazu einlädt, ihm zu vertrauen. Abid hatte gelernt, dass sich durch die Geschichte von Israel gleichzeitig die Perspektive für die Errettung der Welt eröffnete. Denn mit dem Beginn der Geschichte dieses einzigartigen Volkes sagte Gott zu Abraham: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde.“ Gott bereitete mit der Geschichte des Volkes Israel alles vor, um sich der ganzen Welt zuzuwenden, denn diese Geschichte wirkte unvollendet. Erst in der Verbindung mit dem Neuen Testament wird deutlich, was das Ziel von Gottes Heilsgeschichte ist, dachte Abid. Der allmächtige Gott, derjenige, der aus der Knechtschaft befreien kann und unabhängig aller Umstände anbetungswürdig ist, der bereitete alles dafür vor, in die Dunkelheit dieser Welt zu kommen und sich der Menschheit in seiner ganzen Art zu zeigen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen stand Abid auf und entzündete die zwei letzten Kerzen. Die sieben flammenden Dochte erhellten den ganzen Raum, und dort, wo das Licht hinfiel, musste die Dunkelheit weichen. Er griff nach der geöffneten Bibel. Dann stellte er sich neben den Leuchter und blätterte bis zum Johannesevangelium, das er schon fast auswendig kannte. Im tänzelnden Licht begann Abids Gesicht zu strahlen und er las wie schon so oft die ersten Kapitel.
Gott hatte den Menschen nicht nur gerufen. Wie viele riefen nach den Menschen und ließen sie dann doch in die Irre laufen! Gott war nicht wie diese Menschen. Er wurde zum Menschen – der Höhepunkt seiner Suchaktivitäten. Gott rief nicht nur, er lief dem Menschen hinterher. Er gab alles auf und wurde verletzlich und schwach, und das allein aus einem einzigen Grund: Der Mensch sollte ihn wiedererkennen und seinen Ruf verstehen. Gott streckte nicht nur seine Hand entgegen. Er verließ seine Herrlichkeit, er gab seinen Glanz auf, um in die Dunkelheit der Welt und zu den Menschen zu treten. Aus Liebe, Schmerz, Sehnsucht und der Trauer um die Verlorenheit seiner Geschöpfe hatte Gott sich Stück für Stück offenbart, bis er sich schließlich ganz zu erkennen gab und seinen Sohn in die Welt sandte.
Bevor Abid zu Bett ging, schrieb er noch einen letzten Satz unter seine Aufzeichnungen: Gott sucht uns, er ruft uns, er hat die Menschen nie aufgegeben. Er kam in unsere Verlorenheit, damit wir aus der Dunkelheit wieder ins Licht finden. Seine Liebe hört niemals auf und seine Güte währet ewiglich.
Was für ein guter Gott, der ihn, den Verlorenen, gefunden hatte! Doch jetzt musste Abid schlafen, denn er war müde und morgen wollte er von dem schreiben, was er beim Propheten Jeremia über die Suche Gottes entdeckt hatte.