Читать книгу Das Flüstern der Kristalle - Christian Gemsa - Страница 8
ОглавлениеKapitel I
Malvana stand an der Glasfront der Kapitänskajüte und schaute auf die schneebedeckten Hügel hinab, die sich unter ihr erstreckten. Das Luftschiff flog so hoch, dass die wenigen Gehöfte, die in dieser weißen Einöde verstreut lagen, wie Spielzeug aussahen. Malvanas Blick glitt nur flüchtig über die kleinen Häuser, deren Bewohner man von hier oben nie zu Gesicht bekam. Die Bauern der Randgebiete zwischen Bryn und Nevemaa versteckten sich ängstlich, wenn sie die gewaltigen Luftschiffe der Republik am Himmel erspähten. Die Klügeren unter ihnen fürchteten die Brandbomben, mit denen diese monströsen Konstrukte ganze Städte dem Erdboden gleichmachen konnten. Die Abergläubischen hielten die Luftschiffe hingegen für gewaltige, todbringende Dämonen.
Malvana konnte es ihnen nicht verdenken. Als sie die Schattenbringer zum ersten Mal gesehen hatte – dieses grauschwarze Monstrum aus Stahl, majestätisch und schrecklich wie eine Gewitterwolke –, hatte es sie einige Überwindung gekostet, einen Fuß in das Gefährt zu setzen. Nach dreitägiger Reise hatte sie sich nun jedoch beinahe an die Tatsache gewöhnt, dass sie in einem Stahlkasten über der Welt dahinflog und dass ihr Leben davon abhing, dass die Außenhülle des Schiffes nichts von dem Gas entweichen ließ, welches es in der Luft hielt.
Quietschend öffnete sich die schwere Tür hinter ihr und Malvana drehte sich um. Herein trat General Davo. Der altgediente General trug wie stets seine makellose schwarz-rote Uniform. Eine rote Schärpe mit goldenen Stickereien verlief von seiner rechten Schulter zu seiner linken Hüfte und verriet seinen Rang. Wie alle Vasgali hatte er weiße Haare, die er etwa schulterlang trug und glatt nach hinten gebunden hatte. Eine lange Narbe zog sich über sein rechtes Auge. Malvana vermutete, dass ihm ein Schwertstreich in früheren Jahren den Schädel hatte spalten sollen, der Angreifer jedoch schlecht gezielt hatte. Der Schlag hätte Davo wohl dennoch das rechte Auge gekostet, wäre er mit etwas mehr Kraft ausgeführt worden.
Anders als in der Legion üblich salutierte Malvana nicht, neigte aber respektvoll das Haupt.
»General!«, sagte sie und verharrte einige Augenblicke lang mit gesenktem Kopf.
»Luscinia!«, erwiderte Davo knapp und trat einen Schritt in den Raum hinein. Er musterte sie einige Augenblicke lang mit den für sein Volk typischen gelben Augen, die Malvana in seinem Fall an die eines Falken erinnerten. Sein Blick verblieb dabei den Bruchteil einer Sekunde zu lange auf ihren Haaren. Der Grund dafür war offensichtlich. Malvana hatte die braune Haut und die kantigen Gesichtszüge einer Ri’ekka, ihre Haare jedoch waren weiß und ihre Augen gelb wie die einer Vasgali. So war sie sofort als Halbblut zu erkennen, was auch der General sogleich begriff.
Davo ließ sich jedoch nichts weiter anmerken und deutete auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch des Kapitäns stand. »Bitte, setzt Euch!«, sagte er in sachlichem Ton, während er selbst um den Schreibtisch herumging und sich dahinter niederließ. In seinem Rücken an der Wand hing das Banner der Republik: die goldene Sonne auf rotem Grund. Der Kapitän der Schattenbringer hatte dem General für den Zeitraum der Reise seine Räumlichkeiten überlassen und so kam es, dass Davo Malvana nun in dessen Kajüte empfing.
»Bitte verzeiht meine Verspätung, Luscinia, doch der Krieg lässt einem selbst in den Wolken keine ruhige Minute«, sagte er. Malvana deutete ein Lächeln an und neigte leicht den Kopf. Sie wusste sehr genau, dass der General sie absichtlich in seiner Kajüte hatte warten lassen. Er hatte ihr alle Zeit der Welt gelassen, sich gründlich umzusehen, und ihr so gezeigt, dass er sich weder vor ihr noch vor ihrem Orden fürchtete.
»Der Krieg verlangt uns allen unsere vollste Aufmerksamkeit ab, General«, sagte sie. »Auch dann, wenn er beinahe gewonnen ist.«
»Besonders dann, wenn er beinahe gewonnen ist«, korrigierte Davo. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute Malvana mit taktierendem Blick an.
»Man informierte mich«, er griff nach einem Blatt Papier und hielt es kurz in die Höhe, »dass die Acamorta Euch als Agentin ins nördliche Lager entsenden würden und hatte erwartet, Euch dort zu treffen. Da wir nun jedoch gemeinsam reisen, verschafft uns dies die Gelegenheit, miteinander zu sprechen, bevor sich Eure Anwesenheit unter den Soldaten herumspricht.«
Fragend zog Malvana eine Augenbraue nach oben und lächelte den General sanft an.
»Ihr glaubt, meine Anwesenheit könnte unter den Soldaten zu Problemen führen?«, fragte sie.
»Nun«, antwortete Davo und deutete ein leichtes Stirnrunzeln an, »Ihr müsst zugeben: Eine Acamorta an der Front zu haben, ist überaus ungewöhnlich. In der Regel geschieht dies nur, wenn intern ermittelt wird. Soldaten neigen dazu, solchen Dingen eine größere Bedeutung beizumessen, als der Moral der Truppe zuträglich ist.«
Der Blick des Generals war selbst für Malvana schwer zu deuten. Es schien ihr jedoch offensichtlich, dass er es nicht guthieß, wenn sich der Orden in die Angelegenheiten der Legion einmischte.
»Ich schätze Eure Sorge um das Wohlergehen der Männer und Frauen unter Eurem Kommando«, sagte sie, weiterhin lächelnd. »Seid jedoch versichert, dass sie gänzlich unbegründet ist. Die Soldaten werden von meiner Anwesenheit nichts erfahren und sie sind ohnehin nicht der Grund, aus dem ich nach Nevemaa entsandt wurde.« Davo zog milde überrascht eine Augenbraue nach oben.
»Tenakard«, schlussfolgerte er. Malvana nickte.
»Unsere Quellen haben uns seinen Aufenthaltsort verraten«, sagte sie. »Er hat sich hoch oben in der Bergfestung Hisarkull verschanzt. Zu hoch, um ihn aus der Luft zu erreichen, und eine Streitmacht könnte in den Eisschluchten oder auf den schmalen Felsgraten leicht in einen Hinterhalt geraten.«
Nachdenklich legte General Davo die Fingerspitzen aneinander.
»Sein Tod würde dem Widerstand einen schweren Schlag versetzen«, sagte er. »Doch seine Hauptleute werden sich nicht einfach ergeben, wenn er fällt. Wenn Eure Quellen vertrauenswürdig sind und Tenakard seine Armee tatsächlich nach Hisarkull geführt hat, kann sie dort monatelang ausharren – bis zu einem Jahr womöglich. In wenigen Monaten wird uns der Winter mit voller Wucht treffen. Unsere Befestigungen im nördlichen Nevemaa werden dann nur noch mit Luftschiffen erreichbar sein. Dies ist unser Zeitfenster. Wenn wir die aufständischen Stämme nicht bis zum Einbruch des Winters zerschlagen haben, werden sie den Norden für ein weiteres Jahr beherrschen.« Er schnaufte gereizt. »Freilich wären wir gar nicht erst in diese Situation geraten, wenn es der Orden vor sechs Monaten für nötig befunden hätte, uns seine Quellen zugänglich zu machen.« Seine Stimme bekam nun zum ersten Mal einen gereizten Unterton. »Hätte man dem Generalstab damals mitgeteilt, dass Tenakard die Hüter der nördlichen Stämme in Vulthomm zusammenruft, hätten wir rechtzeitig reagieren können. Der Aufstand wäre bereits im Keim erstickt worden!«
Davo räusperte sich und es war offensichtlich, dass er gern noch mehr zu diesem Thema gesagt hätte. Malvana schätzte Davo als einen sehr kühlen und strategisch denkenden Mann ein. Dass er soeben beinahe die Stimme erhoben hätte, zeigte ihr, wie sehr ihn das Verhältnis zwischen der Legion und dem Orden der Acamorta frustrierte. Sie speicherte diese Information über den General in den hinteren Winkeln ihres Gedächtnisses ab. Davo war ein mächtiger und gefährlicher Mann. Jede Information über sein Gefühlsleben könnte sich irgendwann einmal als nützlich erweisen.
»General«, sagte sie, noch immer lächelnd, »es steht mir nicht zu, das Handeln des Ordens zu diskutieren. Seid jedoch versichert, dass die Acamorta diesen Krieg ebenso schnell beendet sehen wollen wie Ihr. Tenakards Beseitigung wird ein entscheidender Schritt in diese Richtung sein. Die alten Blutfehden, die die nördlichen Stämme seit Generationen gegeneinander ins Feld ziehen lassen, werden ohne ihn wieder ausbrechen. Die Hüter werden ihre Stämme zurück in ihre eigenen Jagdgebiete führen, um diese zu verteidigen. Wenn es so weit ist, könnt Ihr sie ohne Schwierigkeiten vernichten.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute Davo unverwandt an. »Der Aufstand wird noch vor Einbruch des Winters zerschlagen sein.«
Davo erwiderte ihren Blick und für eine Sekunde hatte Malvana das Gefühl, dass er etwas entgegnen wollte. Doch dann nickte er kaum merklich, ohne jedoch eine Spur Freundlichkeit zu zeigen.
»Nun denn«, sagte er. »Ich nehme an, Ihr werdet Euch als unverheiratete Frau ausgeben?« Er spielte damit natürlich auf Malvanas Hautfarbe an. Ihre weißen Haare hätte sie im Zweifelsfall mit Asche grau färben können, um die Haarfarbe der Nevhon nachzuahmen. Doch eine Frau mit brauner Haut würde in einem Land, in dem alle Menschen so bleich waren wie der Schnee, der es bedeckte, sofort als eine Fremde auffallen. Malvana nickte.
»Das Lager der Barbaren beherbergt nicht nur Krieger. Die nördlichen Hüter haben auch die Frauen und Kinder nach Hisarkull geführt. Der Orden hat zu einem solchen Zweck bereits vor Monaten einige Jungfrauenschleier beschaffen lassen.« Davo zog für eine Sekunde eine Augenbraue nach oben.
»Natürlich hat er das«, sagte er in fast schon sarkastischem Ton. »Werdet Ihr für den restlichen Verlauf des Krieges zugegen sein, sobald Tenakard tot ist?« Malvana schüttelte den Kopf.
»Meine Aufgabe hier endet mit seiner Beseitigung. Ich werde nach Tahelia zurückkehren, sobald es getan ist.« Zumindest diese Aussicht sollte den General erfreuen, dachte Malvana, auch wenn seine Miene nichts dergleichen erkennen ließ.
»Ich verstehe«, sagte er nur und erhob sich. Auch Malvana stand auf und ließ sich von Davo zur Tür begleiten.
»Habt Dank für Eure Zeit, Luscinia. Ich werde Euch nun Euren Vorbereitungen überlassen. Möge Euer Vorhaben mit Erfolg gesegnet sein.« Er öffnete ihr die Kabinentür. »Zum Wohle der Republik!«, sagte er und nickte ihr zum Abschied zu.
»Zum Wohle der Republik!«, wiederholte sie und verneigte sich noch einmal respektvoll. Dann trat sie in den Gang hinaus.
Vor der Tür standen zwei Soldaten in den gold-roten Rüstungen der Hohen Garde. Die hochgewachsenen Männer musterten Malvana misstrauisch, doch sie würdigte die Leibwächter keines Blickes, sondern schritt den Gang entlang und stieg eine Metalltreppe hinunter auf das Truppendeck. Hier lagen die Soldatenquartiere und wie auf jedem Luftschiff, das zwischen Nevemaa und der Republik verkehrte, waren sie zum Bersten gefüllt. Die Truppen an der Front unterlagen einem regelmäßigen Rotationssystem, das verhindern sollte, dass einzelne Soldaten zu lange der Kälte und den Entbehrungen eines Krieges in eiskalter Tundra ausgesetzt waren.
Zwar waren die Luftschiffe auch für den Truppentransport ausgelegt worden, doch ihre Bauweise ließ nur wenige Kabinen an Bord zu. Damit zumindest eine Kohorte – also zweihundert Mann – auf einem Schiff Platz fanden, wurde jede Kabine von zehn Männern geteilt. Das Platzproblem wurde dadurch gelöst, dass immer nur eine Hälfte der Männer schlief, während die anderen ihren Pflichten nachgingen. Nur gab es für Legionäre auf einem Luftschiff nicht allzu viel zu tun. Einige standen in voller Rüstung vor besonders wichtigen Bereichen des Schiffes Wache, der Großteil lungerte jedoch in Alltagskleidung auf dem Quartiersdeck herum und vertrieb sich irgendwie die Zeit. So kam es, dass Malvana der Lärm von etwa einhundert Mann entgegenschlug, als sie das Truppendeck betrat. Zu dem Lärm gesellte sich alsbald der Geruch, denn Waschmöglichkeiten gab es an Bord nur wenige. Zu Malvanas Glück stand sie aber im Rang einer Luscinia der Acamorta. Als solche hatte sie eine der kleineren Offizierskabinen für sich in Beschlag genommen, was ihr zum einen den Luxus von Privatsphäre gewährte und ihr zum anderen die Möglichkeit bot, sich angemessen auf die vor ihr liegende Aufgabe vorzubereiten.
Die Legionäre machten ihr respektvoll Platz, als sie an ihnen vorbeischritt. Sie alle waren Vasgali und die Blicke, die sie Malvana aus ihren gelben Augen zuwarfen, waren allesamt misstrauisch und ablehnend. Doch alle schauten sie zu Boden, sobald Malvana an ihnen vorüberging. Sie wusste, was die Soldaten von ihr dachten. Sie wusste, dass die Acamorta in der Legion gefürchtet, von einigen sogar gehasst wurden. Doch es kümmerte sie nicht. Im Gegenteil: Die Legionäre waren gut beraten, den Orden zu fürchten. Die Acamorta waren die stillen Wächter der Ordnung. Sie wachten über alle Völker der Republik und stellten sicher, dass niemand seinen Platz vergaß. Dies galt auch für die Legion. Störfaktoren in den Reihen der Soldaten konnten nicht hingenommen werden. Sie wurden aufgespürt und beseitigt. Wenn die Legion Schwert und Schild der Republik war, dann war der Orden ihr Dolch – ungesehen, präzise und tödlich. Legionäre wie Offiziere taten gut daran, dies niemals zu vergessen.
Ohne die Männer eines weiteren Blickes zu würdigen, betrat Malvana ihre Kabine. Der Raum war nur wenige Schritt lang, seine Wände bestanden gänzlich aus grauem Stahl. Die Pritsche war in die hinterste Wand eingelassen, sodass sie so wenig Platz wie möglich verbrauchte. An der Wand zu Malvanas Linken hing ein kleiner Tisch, der mithilfe eines Scharniers hochgeklappt und mit einem kleinen Hebel fixiert werden konnte. Zu ihrer Rechten befand sich ein Waschbecken mit einem Krug voll Wasser daneben und einem kleinen Spiegel darüber. Malvana hatte die Kabine dem Ersten Offizier abgenommen, der sich nun, genau wie der Kapitän, zum Rest der Besatzung in die Mannschaftsquartiere gesellen musste.
Neben der Pritsche war ein Regal in die Wand eingelassen, in dem Malvana einfache Kleidung für ihre Zeit an Bord des Luftschiffes sowie einige Artikel zur persönlichen Hygiene lagerte. Sie teilte die Gleichgültigkeit der Soldaten in dieser Hinsicht nicht und war stets um ein gepflegtes Äußeres bemüht. Natürlich hatte sie weder die Alltagskleidung aus Leinenstoff noch das Zubehör zur Körperpflege auf die Reise mitnehmen können. Ihr Blick wanderte zu der länglichen Truhe, die unter ihrer Pritsche verstaut war. Darin befand sich alles, was sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigte. Das wichtigste Utensil war sicherlich der lange Umhang aus grauem Robbenfell. In dessen Kapuze eingenäht war ein traditioneller Gesichtsschleier des Clans der Karuvarra – Tenakards Clan. Die Kultur der Barbaren, die es unverheirateten Frauen nicht gestattete, ihr Gesicht oder auch nur das kleinste bisschen Haut in der Öffentlichkeit zu zeigen, würde ihr als perfekte Tarnung dienen. Darüber hinaus würde es ihr den Zugang zum Kriegsführer erleichtern, wenn sie sich als Mitglied seines Clans ausgab.
Sobald ihr dies gelungen war, würden die anderen Werkzeuge zum Einsatz kommen. Eine Acamorta konnte auf vielerlei Arten töten. Auf welchem Wege auch immer – Tenakard würde sterben. Und Nevemaa würde endlich die Ordnung der Republik erfahren.
***
Mit einem Ruck setzte sich Arbon auf. Seine Bettdecke rutschte herunter; sie war nass von seinem Schweiß. Der Traum, eben noch so klar und wirklich, verblasste bereits. Die Bilder waren ihm so real erschienen, doch nun konnte er sich kaum mehr an sie erinnern. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte erschöpft den Kopf. Seit Tagen ging das nun schon so. Von schrecklichen Träumen geplagt schreckte er Nacht für Nacht aus dem Schlaf, ohne sich danach an etwas erinnern zu können. Frustriert musste er es auch diesmal aufgeben.
Arbon schaute aus dem kleinen Dachfenster direkt über ihm. Es war noch dunkel. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihm, dass es noch anderthalb Stunden bis zum Beginn seiner Schicht waren. Ein Gutes hatte sein unruhiger Schlaf der letzten Zeit: Er hatte sich bereits seit Tagen nicht mehr verspätet.
Müde schwang er die Beine aus dem Bett und stand auf. Er rieb sich die Augen und schaute sich in seinem Zimmer um. Seine wenigen Habseligkeiten lagen überall auf dem Boden der Dachkammer verstreut, die man allerdings ohnehin mit drei Schritten in der Länge und zweien in der Breite durchqueren konnte. An der Wand über seinem Bett hing ein kleines Regal, auf dem Arbons Kleidung, fein säuberlich gefaltet, ihren Platz hatte. Direkt neben dem Bett stand ein kleines Tischchen, auf dem nichts weiter stand als eine dicke, schwarze Kerze. Den Rest des Zimmers beanspruchten hauptsächlich Bücher für sich. In mehr oder weniger ordentlichen Stapeln bildeten sie eine Art Canyon, der dem abenteuerlichen Wanderer nur wenig Raum ließ, sich in seinen Schluchten aus gebundenem Papier zu bewegen. Die meisten dieser Bücher hatte seine Mutter ihm geschenkt. Als Tochter eines Hauptverwalters hatte sie in ihrer Jugend Zugang zu einem gewissen Luxus gehabt.
Arbon bückte sich und hob das Buch auf, welches neben sein Bett gefallen war, als ihn der Schlaf übermannt hatte. Auf dem Einband war eine junge Frau abgebildet, die aus ihrem Turmzimmer heraus einen stattlichen Recken in Rüstung anschmachtete, der hoch auf seinem Ross saß. Die Maid im grauen Turme war dann auch passend in roten Lettern über dem Bild zu lesen. Schund, zweifellos. Aber an einem Ort wie diesem musste man seine Ansprüche herunterschrauben, wenn man etwas anderes lesen wollte als den monatlichen Schichtplan.
Seufzend legte er die Maid zurück auf sein Bett. Dann bewegte er sich mit schlurfenden, aber sicheren Schritten durch sein Bücherlabyrinth und verließ sein kleines Reich. Er trat hinaus in den dunklen Flur und bewegte sich zielsicher auf das kleine Badezimmer am Ende des Ganges zu. Von unten hörte Arbon seine Mutter in der Küche werkeln, die mit Sicherheit bereits seit Längerem auf war, damit seinen Vater eine warme Mahlzeit erwartete, wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam.
Arbon betrat das Bad und wandte sich dem großen Holzeimer zu, den seine Mutter schon mit Wasser aus dem Brunnen gefüllt und für ihn bereitgestellt hatte. Er goss etwas von dem Wasser in ein kleines Becken und benetzte damit Gesicht, Nacken und Arme. Da es sich kaum lohnte, sich ausgiebig zu waschen, bevor man in die Minen hinabfuhr, beließ er es dabei und betrachtete sich stattdessen in dem kleinen Spiegel an der Wand.
Auch wenn sein Vater keine Gelegenheit ausließ zu betonen, wie weibisch sein Sohn aussah, fand Arbon, dass seine Züge seit seinem siebzehnten Geburtstag vor wenigen Wochen sehr viel kantiger geworden waren. Wie alle Brynei hatte er graue Haut und schwarze Haare. Er fuhr sich mit den Fingern über die nun kaum noch flaumartigen Stoppeln an seinem Kinn, schaute seinem Spiegelbild in die schwarzen Augen und befand, dass er in der Tat kein bisschen weibisch war.
Er trocknete sich das Gesicht mit einem Tuch ab und schlüpfte in seine Alltagskleidung. Die bestand aus einer grauen Hose, einem grauen Hemd und einer dünnen grauen Jacke aus Leinenstoff.
Arbon betrachtete sich noch einmal im Spiegel und seufzte. Sein Spiegelbild sagte im Grunde alles darüber aus, was es über seine Heimat zu wissen gab. Ein Besucher aus den anderen Provinzen würde feststellen, dass die vorherrschende Farbe in Bryn Grau war. Die Häuser, die Kleidung – alles bis hin zur Hautfarbe der Brynei war grau. Arbon fragte sich oft, ob dies schon immer so gewesen war. Hatte sein Volk inmitten einer Welt voller Wunder, von denen Arbon in seinen Büchern gelesen hatte, wirklich eine derart eintönige Kultur hervorbringen können? Eine Kultur, die sich letzten Endes um nichts anderes drehte, als der Erde ihre Schätze zu entreißen und diese entweder zu verkaufen oder in gigantischen Fabriken zu verarbeiten?
Erneut seufzend wandte er sich ab und verließ das Bad. Er stieg die Treppe hinab und traf in der Küche auf seine Mutter. Leska Carregin war eine kleine, schlanke Frau von siebenundvierzig Jahren. Ihr Haar, das sie stets hochgesteckt trug, war bereits größtenteils ergraut und sie bewegte sich längst nicht mehr so behände durch ihre Küche, wie sie es noch zu Arbons Kindheitstagen getan hatte. Die langen Jahre der Arbeit in der Fabrik und im Haushalt hatten ihr schwer zugesetzt. Doch als sie Arbon die Treppe herunterkommen sah, strahlten ihre Augen liebevoll und warm, wie jeden Morgen.
»Guten Morgen, mein Schatz!«, trällerte sie und schloss ihn kurz in die Arme.
»Guten Morgen, Mama!«, antwortete Arbon und küsste sie leicht auf die Stirn. Er setzte sich an den Holztisch in der Mitte des Raumes, wo bereits ein Teller mit zwei Scheiben Brot und etwas Käse auf ihn wartete. Während sich seine Mutter weiter am Herd zu schaffen machte, begann er zu essen.
»Dein Vater und Ian werden bald hier sein«, sagte seine Mutter hinter ihm. »Ihre Schicht müsste eigentlich gerade zu Ende gehen.«
Wenn sie nicht vorher noch einen kleinen Abstecher zu Alis machen, dachte Arbon spöttisch. Vor drei Wochen waren die Preise für Alkohol erneut gesenkt worden. Kurz darauf hatte man die Preise für Lebensmittel erhöht. Obwohl der Krieg im Norden bereits vor Wochen gewonnen worden war, schien die Versorgungslage der Bevölkerung immer prekärer zu werden. Der Minenfürst hatte so reagiert, wie er immer reagierte. Er hatte die Lebensmittel, die eine Familie pro Woche einkaufen konnte, durch Preiserhöhungen stark rationiert. Gleichzeitig hatte er sichergestellt, dass die Arbeiter auch weiterhin mit billigem Bier versorgt waren – eine Maßnahme, die die Bergmänner und Fabrikarbeiter zumindest so lange bei Laune hielt, bis sie nach Hause kamen und ihr wöchentlich kleiner werdendes Mittagessen vorgesetzt bekamen.
Doch heute hatte es Arbons Bruder Ian wohl fertiggebracht, ihren Vater davon zu überzeugen, dass seine Mahlzeiten nicht größer würden, wenn er einen signifikanten Teil des Haushaltsgeldes in die stinkende Brühe investierte, die der örtliche Wirt zuversichtlich Bier nannte.
Denn noch während Arbon dabei war, seine zweite Scheibe Brot mit Käse zu verspeisen, hörte er von draußen die tiefe Stimme seines Vaters, der sich offenbar wieder einmal tierisch über etwas zu ärgern schien.
»… dieser dämliche Schwachkopf!«, hörte ihn Arbon noch schimpfen, als die Haustür bereits unsanft aufgestoßen wurde und sein Vater in die Küche stapfte. Ferres Carregin war ein untersetzter Mann mit starken Armen und kräftigen, schwieligen Händen. Wie alle anderen Bergmänner trug er die graue Arbeitsuniform, in der auch Arbon nun am Tisch saß. Das graue Haar war kurz geschoren und ein ebenfalls ergrauter Schnurrbart zierte seine Oberlippe.
Hinter ihm erschien Ian. Sein Bruder machte einen recht erschöpften Eindruck und Arbon konnte nicht sagen, ob dies an der Schicht lag, die er hinter sich hatte, oder daran, dass ihr Vater den ganzen Weg von der Mine hierher wütend auf ihn eingeredet hatte.
»Tag, Ferre!«, fuhr Arbons Mutter seinen Vater an, während sie eine dampfende Schüssel mit Suppe auf den Tisch stellte. Arbon nahm die Reste seines Frühstücks auf die Hand und erhob sich rasch von seinem Stuhl. Da sie nur zwei Stühle in der Küche besaßen, waren die Plätze am Esstisch stets für die Mitglieder der Familie reserviert, die entweder gerade zur Schicht gingen oder von selbiger kamen.
Grummelnd ließ sich sein Vater auf den Stuhl fallen, auf dem Arbon eben noch gesessen hatte. Währenddessen wurde sein Bruder mit einer herzlichen Umarmung begrüßt.
»Hallo, mein Schatz!«, sagte seine Mutter und hauchte Ian einen Kuss auf die Stirn. »Schwere Schicht gehabt?«
Mit einem erschöpften Lächeln setzte sich sein Bruder an den Tisch.
»Zwei Einstürze heute«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Aber nichts Schlimmes – keine Ausfälle, wie’s aussieht.« Arbon konnte sich nicht erinnern, dass sein älterer Bruder jemals auch nur ansatzweise so erschöpft von einer Schicht gekommen war wie Arbon selbst. Ian war deutlich belastbarer als er, da machte sich Arbon keine Illusionen. Er hatte die kräftige Statur seines Vaters – ein Umstand, den Ferres Arbon nie vergessen ließ –, war dabei jedoch ein gutes Stück größer. Seine graue Haut wurde an den Armen und der Brust von massigen Muskeln gespannt und sein Gesicht zierte ein Dreitagebart, der ihm ein recht verwegenes Aussehen verlieh.
»Und worüber hast du dich wieder aufgeregt?«, fragte Arbons Mutter seinen Vater, während sie seinen Teller mit Suppe füllte. Dieser schnaubte verächtlich.
»Als ob man nich’ das Recht hätte, sich über dämliche Schwachköpfe aufzuregen – vor allem über so einen wie den!«, polterte er.
Seine Mutter warf Ian einen fragenden Blick zu, als erwarte sie von ihm eine Erklärung, wer dieser Schwachkopf nun genau sein sollte.
»Sie haben ’nen neuen Steiger in Paps’ Streb«, sagte sein Bruder mit einem weiteren Schulterzucken.
»Pah, Steiger! Dass ich nicht lache!«, fuhr Arbons Vater auf. »Der Kerl hat ungefähr so viel Gefühl für den Stein wie der Bursche!«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf Arbon. Diesem machten solche Sticheleien mittlerweile nichts mehr aus, dennoch legte ihm seine Mutter entschuldigend die Hand auf den Arm.
»Aber was is’ mit Volmas?«, fragte sie, wieder an Arbons Vater gewandt.
»Den haben sie nach Abudimia geholt. Schon der Dritte diese Woche!« Arbon horchte auf. Seit drei Monaten wurden immer wieder Arbeiter in die Minen von Abudimia geschickt. Weder hatte zuvor jemand etwas von einem Abbaugebiet mit diesem Namen gehört, noch kannte irgendwer den Namen des Minenfürsten, der dort das Sagen hatte. Alles, was man wusste, war, dass bisher kein Arbeiter von diesem Ort zurückgekehrt war. Auffällig war zudem, dass bisher nur unverheiratete Männer und Frauen nach Abudimia geschickt worden waren.
»Macht sich vermutlich ’nen faulen Lenz, der Scheißkerl. Und unsereins muss sich dann mit solchen Idioten rumschlagen!«
Innerlich seufzend verdrehte Arbon die Augen. Es war typisch für seinen Vater, davon auszugehen, dass Leute, die woanders schufteten als er selbst, auf der faulen Haut liegen mussten. Seiner Ansicht nach konnte es in keinem Streb, in keiner Mine in ganz Bryn, jemals so viel zu tun geben wie in Streb sieben von Brasmijn, wenn Ferres Carregin Schicht hatte.
Arbons Vater und Ian begannen ihre Suppe zu löffeln. Arbon brauchte nicht in die Töpfe zu schauen, um zu wissen, dass sie aus nicht viel mehr als Rüben und Lauch bestanden. Zu seiner Überraschung schien sein Vater diesmal jedoch nichts an der Fleischlosigkeit seiner Mahlzeit auszusetzen zu haben. Vermutlich nahm ihn der Ärger über den neuen Steiger heute so in Beschlag, dass er sich nicht auch noch darüber aufregen konnte, dass seine Frau auf dem Markt nicht wenigstens ein Huhn hatte erstehen können.
Den Rest der Mahlzeit nahmen er und Ian schweigend ein. Arbons älterer Bruder hatte ein ruhiges Gemüt – eine Tatsache, die Arbon sehr an ihm schätzte. Einen zweiten Mann vom Schlage ihres Vaters, da war sich Arbon sicher, würde ihre Familie nicht ertragen.
Die Mahlzeiten wurden mit jeder neuen Beschneidung der Lebensmittelbezüge kürzer und so war auch diese rasch beendet. Während Arbons Mutter den Tisch abräumte, verriet ihm ein Blick auf die Küchenuhr, dass es langsam Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. Gerade als er sich anschickte, die Küche zu verlassen, um in seine Arbeitsstiefel zu schlüpfen, rief sein Vater ihn zurück.
»Was glaubst du, wo du hingehst, Bursche?«, fuhr er Arbon an. »Wir haben doch gerade warm gegessen, oder nicht?« Seufzend drehte Arbon sich um. Es juckte ihn klarzustellen, dass er bisher nur eine kalte Mahlzeit zu sich genommen hatte, doch solche Argumente prallten an seinem Vater in der Regel ab.
Und so stellte sich Arbon unwillig, aber gehorsam zurück an den Tisch. Er tat es dem Rest seiner Familie nach, senkte pflichtschuldig das Haupt und lauschte seinem Vater, als dieser das rituelle Dankgebet sprach.
»Ehre sei dir, Vater Mjantyr, Herr der Erde, Herr des Steins. Wir danken dir für die Mahlzeit, die wir durch deinen Segen empfangen durften. Wir danken dir für die Glut, die unsere Herde erhitzt und unsere Glieder erwärmt. Wir danken dir für das Feuer, das du deinen Kindern einst zum Geschenk machtest, auf dass sie stark und sicher seien und deinen Segen niemals vergessen. Mögen wir uns an jedem Tag deiner Gnade erinnern und unser Leben auf die Weise führen, die du, Vater, uns gelehrt hast. Denn Kinder des Steins sind wir und zum Stein gehen wir.«
»Denn Kinder des Steins sind wir und zum Stein gehen wir«, wiederholten Arbon, Ian und ihre Mutter leise den Segensspruch. Innerlich rollte Arbon dabei mit den Augen. Die Ohrfeigen seines Vaters mochten ihm zwar die verschiedenen Gebete an Mjantyr eingebläut haben, einen Gläubigen hatte aber auch die strengste Erziehung nicht aus ihm machen können. In den Büchern, die er las, war von unzähligen Religionen die Rede. Die Ramali verehrten eine Göttin des Mondes, die Anak einen Gott des Windes und die Vasgali verehrten natürlich den Sonnengott Valys. Und wer wusste schon, wie viele Gottheiten es in der Welt noch geben mochte! Selbst die Barbaren im Norden beteten zu Geistern, denen sie in mondlosen Nächten blutige Menschenopfer darbrachten – das erzählte man sich zumindest.
Wie konnten sich also die Grauen Mönche bei derart vielen Göttern und Geistern so sicher sein, dass Mjantyr der einzig wahre Gott war? Und waren nicht die Vasgali die unumstrittenen Herrscher der Republik? War ihr Sieg über beinahe alle anderen Völker des Kontinents Lacra nicht ein Beleg dafür, dass ihr Gott mächtig war? Und hatten die Vasgali nicht auch Bryn erobert, obwohl die Brynei doch angeblich das auserwählte Volk Mjantyrs waren?
Als es Arbon einmal gewagt hatte, all diese Dinge zur Sprache zu bringen, war die Antwort eine derart heftige Tracht Prügel gewesen, dass er für einige Tage das Haus nicht hatte verlassen können. Seitdem hatte er seine Zweifel für sich behalten, war jedoch noch immer der Auffassung, dass die Geschichte, die die Grauen Mönche erzählten, nicht ganz stimmen konnte.
Auch heute behielt er derlei Gedanken lieber für sich und wandte sich stattdessen schweigend von seiner Familie ab. Er verließ die Küche und betrat den kleinen Flur, der in die Wohnstube führte. Dort an der Wand hing der dünne Mantel, den er bereits ettliche Male geflickt hatte und an dem er dennoch jede Woche neue Löcher fand. Wenn der Winter kam, war dieser Fetzen kaum zu gebrauchen, aber im Moment war er besser als nichts.
Arbon streifte sich das Kleidungsstück über und ging zurück in die Küche. Sein Vater war bereits aufgestanden und drückte sich nun unwirsch an Arbon vorbei in die Wohnstube. Arbon ging zu seiner Mutter, die gerade damit beschäftigt war, den Tisch zu putzen, und drückte sie kurz.
»Ich muss los, Ma«, sagte er und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
»Pass auf dich auf, mein Schatz!«, entgegnete sie und küsste ihn auf die Wange, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhr. Arbon verabschiedete sich auch von seinem Bruder, der ihm müde zulächelte, dann ging er zur Tür und schlüpfte in seine Stiefel, die dort bereitstanden. Er hielt sich nicht damit auf, seinem Vater Auf Wiedersehen zu sagen, winkte stattdessen noch einmal Mutter und Bruder und verließ das Haus.
Als er auf die Straße trat, wehte ihm ein kalter Wind um die Ohren. Der Winter nahte und würde die Versorgungslage der Bevölkerung noch verschlimmern. Arbon roch den vom Wind herangetragenen Rauch und die Asche der Fabriken auf den Hügeln. Dort arbeiteten in der Regel die unverheirateten Frauen und Mädchen, bis sie eines Tages die Erlaubnis zur Hochzeit bekamen und einen Bergmann oder Handwerker heirateten.
Arbons Elternhaus befand sich in einer Gasse etwas oberhalb der Minen. Die Häuser standen in großzügigem Abstand zueinander und sahen im Grunde alle gleich aus. In der Regel zweistöckig, waren sie alle aus graubraunen Holzbalken errichtet und stellenweise mit weißem Kalk verkleidet. Die meisten wurden von Familien bewohnt, in einigen hausten jedoch Gruppen von Junggesellen, die ihre Geburtsschulden noch nicht abbezahlt und sich somit noch nicht das Recht auf eine Heirat und ein eigenes Haus verdient hatten.
Arbon ging den schmutzigen Weg entlang und bog in die Hauptstraße des kleinen Ortes ein, den er sein Zuhause nannte. Dort gesellte er sich zu der Reihe von Arbeitern, die entweder gerade von ihrer Schicht nach Hause gingen oder, wie Arbon, einem weiteren langen Arbeitstag entgegensahen. Er überquerte die Brücke, die über den rauschenden Arrbach führte. Zu seiner Rechten drehten sich die Räder mehrerer Wassermühlen, zu seiner Linken fiel der Bach in ein kleines Tal hinab, in welchem sich vor allem kleinere Handwerksbetriebe befanden.
Brasmijn war ein Städtchen mit etwa viertausend Einwohnern. Arbon war noch nie in einem anderen Teil Bryns gewesen, bezweifelte jedoch, dass sich die anderen Städte der Provinz sonderlich von seiner Heimatstadt unterschieden.
»Arb!«, schallte es plötzlich von irgendwo hinter ihm. Arbon drehte sich um und spähte in die Menge der ihm entgegenkommenden Arbeiter. Es dauerte einen Moment, bis er die dürre Gestalt seines besten Freundes Escon bemerkte.
Escon zwängte sich an einem Mann vorbei, dem er etwa bis zu den Schultern reichte. Sein lockiges Haar – schwarz wie das eines jeden Brynei – fiel ihm wie immer ins Gesicht. Und wie immer grinste er.
»Schon wieder so früh auf den Beinen? Muss jetzt schon das vierte Mal in Folge sein, dass wir zusammen zur Schicht marschieren. Mach so weiter und die befördern dich noch!«
Die beiden begrüßten sich mit einem freundschaftlichen Handschlag. Escon war nur wenige Wochen jünger als Arbon und wie er ein Schütter, also jemand, dessen einzige Aufgabe darin bestand, den Schutt und die Kohle aus den Streben, also den Abbaugebieten unter Tage, in Loren zu schaufeln, die dann abtransportiert wurden. Eine besonders ehrenvolle Aufgabe war dies nicht, doch wo Arbons offensichtliches Desinteresse an seinem Beruf einer Beförderung im Wege stand, war es bei Escon seine schmächtige Statur.
»Hör mir bloß auf!«, antwortete Arbon lachend. »Als Nächstes stecken sie mich dann mit meinem Alten in einen Trupp. Nein, vielen Dank!«
»Tja, dann lass uns mal hoffen, dass dem Steiger nicht auffällt, wie pünktlich du in letzter Zeit immer bist«, sagte Escon und zwinkerte ihm grinsend zu. »Ich hätte allerdings nix gegen ’ne kleine Beförderung«, murmelte er dann, als er und Arbon sich dem hohen Förderturm des Bergwerks näherten.
»Seit sie die Bezugsscheine wieder gekürzt haben und Ma in der Fabrik runtergestuft wurde … – nun, ein bisschen was extra könnte da nicht schaden.«
»Wird nicht besser mit ihrer Trinkerei?«, fragte Arbon zögerlich und sah seinen Freund von der Seite an, der traurig den Kopf schüttelte. Escons Mutter hatte den Tod ihres Mannes im letzten Jahr nie wirklich verkraftet und war seitdem nur noch ein Schatten ihrer selbst. Er und Arbon sprachen nicht oft darüber und wenn doch, wechselte Escon meist schnell das Thema. Mit dem zusätzlichen Gehalt, das er dann verdienen würde, könnte seine Mutter es sich leisten, weniger Schichten in der Fabrik zu machen, was ihr sicherlich helfen würde, ihr Leben wieder ein wenig in den Griff zu kriegen.
Arbon fand die Aussicht auf eine Beförderung erfüllte Arbon allerdings mkit weit weniger Begeisterung als Escon. Eine Zukunft, in der er Tag für Tag auf eine Wand schwarzen Gesteins einschlug, nur um am Ende seines Lebens stolz auf die wenigen Meter zurückzublicken, die er der Erde abgetrotzt hatte, schien ihm nicht gerade verlockend. Andererseits würde dies bedeuten, dass er in eines der Junggesellenhäuser ziehen und der Gesellschaft seines Vaters entkommen könnte. Sein Bruder Ian, der bereits vor drei Jahren zum Schläger befördert worden war, würde in zwei Wochen einen Platz in einem dieser Häuser erhalten. Dann würde er die Hälfte seiner Geburtsschulden abbezahlt und sich somit das Recht erworben haben, das elterliche Heim zu verlassen.
Mit diesen Gedanken im Kopf erreichte Arbon gemeinsam mit Escon das Haupttor des Bergwerks von Brasmijn. Es handelte sich um einen großen, steinernen Torbogen, mit eisernen Gittern. Deren Ähnlichkeit mit Kerkertüren konnte kein Zufall sein, der Meinung war Arbon immer schon gewesen.
Sie reihten sich in die Schlange ein, die sich zu jedem Schichtwechsel vor dem Tor bildete. Die Männer um sie herum sahen allesamt mürrisch drein. Die meisten waren mittleren Alters oder jünger. In den letzten Jahren hatte Brasmijn immer wieder unter dem Ausbruch verschiedener Krankheiten gelitten, denen vor allem die Älteren zum Opfer gefallen waren. Escons Vater war unter denen gewesen, die die letzte Welle nicht überlebt hatten.
Gemeinsam mit den immer knapper werdenden Lebensmittelbezügen hatten die Krankheitsfälle und die vielen Toten dafür gesorgt, dass das Leben in Brasmijn, das ohnehin arm an Zerstreuung und Vergnügungen war, noch trostloser geworden war. Umso wütender machte es Arbon, wenn er an Leute wie seinen Vater dachte, die stur an der Überzeugung festhielten, der Minenfürst wisse schon, was er tue. Und wenn endgültig alles zum Teufel gehen sollte, dachte Arbon grimmig, dann würde sein Vater vermutlich immer noch behaupten, dass alles nach Mjantyrs Willen geschehe.
Während sie vor dem Tor warteten, um ihre Minenkarten, die sie als Arbeiter des Bergswerks auswiesen, von einem Bediensteten des Fürsten kontrollierebn zu lassen, schweiften Arbons Gedanken zu dem Albtraum ab, den er in dieser Nacht wieder gehabt hatte. Im Buch Die Maid im grauen Turme, das Arbon gerade mangels interessanter Alternativen las, war der Held ebenfalls von schrecklichen Albträumen geplagt gewesen. Doch dann hatte ihm ein Orakel die Bedeutung hinter den nächtlichen Schrecken offenbart und prophezeit, er sei der auserwählte Held, der die besagte Maid aus dem besagten Turme befreien würde.
Arbon nahm an, dass solcherlei Geschichten junge Männer in anderen Teilen Lacras zu Träumereien über eigene Ruhmestaten anregen mochten. Sie selbst, hoch zu Ross, in eine strahlende Rüstung gehüllt, mit einem glänzenden Schwert in der Hand.
Arbon versuchte manchmal, sich ähnliche Dinge vorzustellen. Hin und wieder gelang es ihm sogar, sich für einen Moment in eine solche …
»Karte!«
Die barsche Stimme riss Arbon brutal aus seinen Gedanken. Vor sich sah er einen mürrischen Mann in der braunen Beamtenuniform des Minenfürsten, der ihn mit ungeduldigem Blick ansah.
Durch seine abschweifenden Gedanken war es ihm entgangen, dass sich die Schlange überraschend zügig fortbewegt hatte und er nun vor dem Schalter mit dem schlecht gelaunten Beamten dahinter stand.
»Karte!«, wiederholte dieser nun mit zunehmend genervtem Gesichtsausdruck. Hastig zog Arbon die kleine Metallkarte, die ihn als Arbeiter der Mine auswies, aus seiner Hemdtasche und reichte sie dem Mann.
Grob nahm dieser ihm das Metallstück aus der Hand und warf einen Blick auf seinen Namen und seine Geburtsnummer. Dann zog er das große Stück Papier zurate, das vor ihm auf einem kleinen Schreibtisch ausgebreitet war. Routiniert fuhr er mit dem Finger die eng geschriebenen Zeilen entlang, bis er Arbons Nummer fand.
Mit einem kleinen, spitzen Stift vermerkte der Beamte, dass Arbon an diesem Tag zur Arbeit erschienen war. Dann reichte er ihm das Metallplättchen zurück und bedeutete ihm mit einem mürrischen Nicken, dass er sich entfernen durfte. Escon folgte ihm kurze Zeit später.
Hinter dem Stempelhaus mit seinen Schaltern erstreckte sich der breite Vorplatz der Mine. Der mit rauen Steinen gepflasterte Platz hatte einen Durchmesser von etwa zweihundert Fuß und lag gänzlich im Schatten des großen Hauptgebäudes des Bergwerks. Der riesige Quader war aus rotbraunen Ziegeln errichtet worden und mit Abstand das größte Gebäude in Brasmijn. Der Bau war vollkommen schmucklos. Er strahlte eine düstere Funktionalität aus und verhieß jedem Betrachter einen weiteren Arbeitstag voll knochenschindender Plackerei. Aus dem Dach des Haupthauses ragte eine Monstrosität aus Stahl und Rädern: der große Förderturm von Brasmijn.
Die Vasgali hatten diese Konstrukte vor etwa vierzig Jahren nach Bryn gebracht und den Bergbau in der Provinz damit revolutioniert. Arbon wusste nicht genau, wie die riesigen Räder in Bewegung gesetzt wurden, mit deren Hilfe man die schweren Stahlwaggons bewegte, die die Arbeiter in die Tiefe und die Kohle ans Tageslicht beförderten. Alles, was er wusste, war, dass ein Teil ebendieser Kohle für diesen Zweck verbrannt werden musste. Der dicke schwarze Rauch quoll aus den großen Schornsteinen am hinteren Ende des Minengeländes. An manchen Tagen hing er über Brasmijn wie eine Wolke aus schwarzer Tinte, die alles zu ersticken drohte, wenn ein günstiger Wind sie nicht zerstreute. Manche Bergmänner, deren Eltern oder Großeltern noch eine Zeit ohne Förderturm erlebt hatten, priesen dieses Wunderwerk vasgalischer Technik in höchsten Tönen. Auch Arbon konnte nicht umhin zuzugestehen, dass das gewaltige Konstrukt beeindruckend war. Ähnliches galt für die flammenlosen Grubenlampen, die die Vasgali aus ihrer Heimat eingeführt hatten.
»Na, wen ha’m wir denn da?«, erklang plötzlich eine vertraute Stimme hinter Arbon. Seufzend drehte er sich um und sah wie erwartet Necon Kloss auf sich zuschlendern. Necon war etwa im selben Alter wie Arbon und Escon, doch er war bereits vor drei Monaten zum Schläger befördert worden. Außerdem war er etwa so breit wie Arbon und Escon zusammen und so kräftig wie ein Grubengaul. Wie üblich war er von den vier plumpen Kerlen umgeben, deren Namen sich Arbon nie merken konnte, auch wenn sie ihn als Kind etwa wöchentlich verprügelt hatten.
»Schon wieder so früh hier, Carregin? Willst wohl, dass dein Alter endlich mal zugibt, dass er mit dir verwandt ist.« Seine Kumpane lachten stumpfsinnig, wie sie es immer taten, wenn Necon seine Scherze mit anderen trieb.
»Und du, Pugior,
Arbon schaute dem bulligen Mann unbeeindruckt ins Gesicht. Als sie beide noch Kinder gewesen waren, hatte er einige Male versucht, Necons Witze mit Fäusten zu quittieren. Doch er hatte schnell gelernt, dass er weder Necon noch seinen Komplizen auch nur im Ansatz gewachsen war, und die Sticheleien und die gelegentlichen Schläge seither über sich ergehen lassen.
Zu seinem Glück verbot das Gesetz den Arbeitern, sich gegenseitig derart zu verletzen, dass sie arbeitsunfähig wurden; daher war Arbon seit seinem vierzehnten Lebensjahr von ernsthafteren Prügeln verschont geblieben. Ertragen musste er nun nur noch die regelmäßigen Witze auf seine Kosten. Zumindest meistens.
»Verpiss dich!«, schnauzte Escon, noch bevor Arbon etwas erwidern konnte. Escons vorschnelles Mundwerk hatte sie beide schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht und Arbon hoffte, dass sein Freund sich zurückhalten würde. Necons Beleidigungen mit eigenen Witzen zu kontern, war selten eine gute Idee.
»Oho, hört euch den an!« Necon lachte höhnisch und seine Freunde fielen wie selbstverständlich mit ein.
»Schämt sich deine Mutter immer noch so sehr für dich, Pugior, oder säuft sie nur, weil es ihr seit nem Jahr niemand mehr besorgt hat?«
Escon wollte sich auf Necon stürtzen, doch Arbon hielt ihn zurück. Dabei starrte er Necon zornfunkelnd an, doch dieser grinste nur dreckig. Bevor Arbon etwas sagen oder Escon sich aus seinem Griff befreien und etwas wirklich Dummes tun konnte, ertönte eine tiefe Glocke, deren Klang in der ganzen Umgebung zu hören war. Die erste Dienstglocke rief die Arbeiter zur Schicht. Wer sich bis zum Klang der dritten Glocke nicht bei seinem Schichtleiter gemeldet hatte, galt als abtrünniger Arbeiter und wurde schwer bestraft.
»Gehen wir, Jungs!«, rief Necon seinen vier Freunden zu. Mit einem Grinsen ging er an Arbon vorbei, jedoch nicht, ohne ihn hart mit der Schulter anzurempeln. Arbon taumelte einige Schritte zur Seite und wäre wohl gestürzt, hätte ihn Escon nicht aufgefangen.
»Irgendwan …«, murmelte Escon und sah Necon mit wütendem Blick hinterher.
»Ja … irgendwann«, antwortete Arbon und klopfte Escon aufmunternd auf die Schulter. »Aber jetzt sollten wir uns erst mal beim Schichtleiter melden, bevor er uns doch noch zu den Latrinen abkommandiert.«
Escon stimmte murmelnd zu und gemeinsam betraten sie das düstere Minengebäude. Als der Eingang sie verschluckte überkam Arbon wie jeden Tag das Gefühl, einen weiteren Schritt auf dem endlosen und drögen Weg zu gehen, der den Rest seines Lebens bestimmen würde. Und wie jeden Tag sah er keine Möglichkeit, eine Abzweigung zu nehmen.
***
Arbon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit vier Stunden schaufelte er nun Schutt und Geröll in eine bereitstehende Lore. War die erforderliche Füllmenge erreicht, wurde die Lore mithilfe eines Grubenpferdes zum Förderturm transportiert und eine neue nahm ihren Platz ein. Dies würde noch zwei Stunden so weitergehen, bevor er eine Pause einlegen konnte, um eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen und die Latrinen aufzusuchen. Danach würde er weitere sechs Stunden Lore um Lore füllen. Er seufzte und drückte den schmerzenden Rücken durch.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Escon belustigt. Er stand nur wenige Schritte von Arbon entfernt und hielt in seiner Arbeit nicht inne, während er ihn schräg von der Seite ansah.
»Fragst du dich nicht auch manchmal«, fragte Arbon zögerlich, »ob wir das hier für den Rest unseres Lebens machen werden? Sechs Tage die Woche einfahren, Steine von hier nach dort schaufeln, bis irgendwann der Deckel zugeht?«
Nun ließ Escon die Schaufel doch ruhen, stützte sich auf den Stiel und schaute Arbon leicht verwirrt an.
»Naja, ich denk mal, das kommt ganz drauf an, wie der Deckel zugeht«, antwortete er. »Erinnerst du dich an den alten Mistran? Der vor kurzem im Schlaf gestorben ist? Wenn ich so abtrete, dann soll es mir recht sein. Kein Steinschlag, der mir den Schädel zerquetscht. Kein Gas, das mich elendig ersticken lässt. Ich geh einfach abends ins Bett und – zack!«, er schnippte mit den Fingern, »wach in der Gläsernen Halle wieder auf.«
Arbon hatte seine Zweifel, was den Glauben an die Gläserne Halle betraf. Die Grauen Mönche lehrten, dass ein Arbeiter, der seine Schuld bei Mjantyr getilgt hatte, nach dem Tod an dessen Tafel in der Gläsernen Halle sitzen und bis in alle Ewigkeit essen und trinken konnte. Genau wie die restlichen Aspekte des Glaubens an Mjantyr war Arbon auch diese – zugegeben sehr angenehme – Vorstellung suspekt. Da er jedoch gelernt hatte, dass es besser war, seine Zweifel für sich zu behalten, zuckte er auch jetzt nur mit den Schultern.
»Trotzdem«, sagte er, »hat Mistran fast sein ganzes Leben lang nichts anderes gesehen als das hier.« Er deutete mit der Hand auf den sie umgebenden Stein. »Ich jedenfalls kann mir Schöneres vorstellen, als Schutt zu schaufeln, und das für die nächsten vierzig, fünfundvierzig Jahre.«
Nun zwinkerte Escon ihm zu und begann wieder mit seiner Arbeit.
»Jetzt verstehen wir uns«, sagte er. »Glaub mir, in ein paar Jahren haben wir den Scheiß hier hinter uns. Dann gesellen wir uns zu den Jungs dahinten!« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Lärms, dessen Ursprung sich einige Meter vor ihnen am Ende des Tunnels befand. Dort waren die sogenannten Gräber zugange. Ihre Aufgabe bestand darin, neue Tunnel in den Stein zu treiben, um weitere Kohleschichten zu erschließen. Arbon seufzte innerlich und begann wieder zu schaufeln. Die Gräber verwandelten tagein, tagaus Wände aus Stein in Haufen aus Stein. Ihre Aufgabe war kaum spannender als die der Schaufler. Die Schläger erfuhren für ihre Arbeit zumindest ein wenig Anerkennung; immerhin bauten sie die Kohle ab, von der letztlich ganz Bryn lebte. Doch auch ihr Alltag war geprägt von eintöniger, stumpfsinniger Plackerei und alles, was ihnen am Ende des Tages blieb, war die Aussicht auf ein Bier bei Alis und einen Platz in der Gläsernen Halle, sobald ihre Arbeit unter der Erde getan war. Das beklemmende Gefühl, in der Falle zu sitzen, breitete sich plötzlich in seiner Brust aus. Am liebsten hätte Arbon laut geschrien, doch er hielt den Mund und schaufelte einfach weiter. Dabei beobachtete er einige Felswühler, die zwischen den Schutthaufen hin und her huschten. Diese possierlichen kleinen Eidechsen hatten ein komplett weißes Schuppenkleid und kleine schwarze Knopfaugen. Ihr Maul schien sich immer zu einem erbaulichen Lächeln zu verziehen, weshalb die Bergleute sie auch Grubenlacher nannten. Sie lebten überall in den Streben und Schächten in ganz Bryn. In älteren Stollen, die nicht mehr bearbeitet wurden, hausten sie angeblich zu Tausenden und bildeten riesige Kolonien. Niemand wusste so recht, was sie fraßen, schließlich gab es in dieser Tiefe keinerlei Pflanzen oder Insekten.
Mit einem Mal spürte Arbon ein starkes Vibrieren im Stein unter sich, das ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Das Beben verstärkte sich und erfasste auch die Wände um ihn herum. Ein tiefes, Unheil verkündendes Grollen donnerte durch den Stollen. Arbon und Escon sahen sich erschrocken an und kauerten sich auf dem Boden zusammen. Doch zu ihrer Erleichterung hielt die Decke über ihnen stand; lediglich Staub rieselte auf sie hinab. Dann hörte das Beben so plötzlich, wie es gekommen war, wieder auf und der donnernde Lärm erstarb.
Doch es kehrte keine Stille ein. Stattdessen klangen laute Schreie zu ihnen herüber. Zunächst dachte Arbon, dass die Arbeiter in dem Stollen vor ihnen verschüttet worden seien, doch tatsächlich kamen die Schreie aus einer Richtung weit hinter ihnen. Bergleute rannten an ihnen vorbei, auf die Quelle der Schreie zu. Arbon und Escon schauten sich noch einmal an, dann rannten sie ebenfalls los. Wenn es einen Einsturz gegeben hatte, wurde jede helfende Hand gebraucht. Sie rannten den Tunnel entlang und erreichten einige Weggabelungen später den Ort der Katastrophe. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens.
Sie standen vor dem Eingang von Streb vier – oder von dem, was davon übrig war. Ein gewaltiger Einsturz hatte offenbar den gesamten Tunnel getroffen. Riesige Gesteinsbrocken waren von der Decke herabgestürzt und hatten alles und jeden unter sich begraben. Doch den wahrhaft schrecklichen Anblick boten die etlichen menschlichen Körper, die um die Einsturzstelle herum verstreut lagen, als wären sie allesamt aus dem Tunnel geschleudert worden. Die meisten waren offensichtlich tot, ihre Haut, ihre Haare und ihre Kleidung bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie waren in einer Haltung am Boden erstarrt, die vermuten ließ, dass sie vor ihrem Tod schreckliche Qualen gelitten haben mussten. Doch noch schlimmer als der Anblick der verbrannten Leichen war der der noch Lebenden. Auch deren Körper waren größtenteils verbrannt; ihre Kleidung schien teilweise mit den Resten ihrer Haut verschmolzen zu sein. Und sie schrien.
Der Anblick der verbrannten Gestalten, die vor wenigen Minuten noch Menschen gewesen waren, war kaum zu ertragen. Ihre Schreie zu hören, war noch schlimmer. Als Arbon dann noch den Geruch von verbranntem Fleisch und Fett wahrnahm, übergab er sich an Ort und Stelle. Verschwommen nahm er wahr, dass es Escon neben ihm nicht besser erging. Die Arbeiter, die wie Arbon und Escon herbeigeeilt waren, sobald sie die Schreie der Verwundeten gehört hatten, prallten vor dem verstörenden Anblick zurück, als wären sie gegen eine Wand gelaufen. Einige übergaben sich, andere starrten mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf die grauenvolle Szenerie, die sich zu ihren Füßen abspielte.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Gruppe der herbeigeströmten Helfer in Bewegung setzte. Als der erste Schock dann jedoch überwunden war, brach panische Hektik aus. Die Männer stürzten zu den Verwundeten und begannen laut durcheinanderzurufen. Plötzlich spürte Arbon, wie ihn eine Hand an der Schulter packte.
»Komm schon, Junge, steh hier nicht so rum!«, schnauzte ihn eine bekannte Stimme an. Arbon drehte sich um und sah Atan Climden hinter sich. Clim, wie ihn alle nannten, hatte es in seinen über vierzig Jahren unter Tage nie aus den Reihen der Schürfer hinausgeschafft, da ihn ein angeborener Schaden am Knie plagte. Ihm stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, dennoch schob er Arbon entschlossen vor sich her. Er streckte die Hand aus und packte auch Escon am Ärmel seiner Arbeitsjacke.
»Du auch, Bursche! Je schneller wir diese armen Schweine hier rausgeschafft haben, desto weniger Zeit hat das verdammte Gas, uns alle zu ersticken!« Er bugsierte Arbon und Escon zu dem Verletzten, der ihnen am nächsten war.
»Gas?«, fragte Escon etwas verdutzt und blickte sich um.
»Natürlich Gas!«, erwiderte Clim unwirsch. »Irgendwas hat es zur Explosion gebracht, verdammte Scheiße! Hat sich vielleicht auch selbst entzündet. Guck dir den armen Mistkerl doch an!« Er beugte sich zu dem Arbeiter zu seinen Füßen und Arbon und Escon taten es ihm gleich.
Der Mann schien etwa in Clims Alter zu sein. Sicher war sich Arbon jedoch nicht, weil die Hälfte seines Gesichts nur noch eine rot-schwarze Masse verbrannten Fleisches war. Wieder stieg Übelkeit in Arbon hoch, doch er kämpfte den Drang, sich zu übergeben, nieder und schaute Clim an.
»Was tun wir mit ihm?«, fragte er. Clim starrte den verbrannten Mann an. Dieser schrie nicht, sondern gab nur ein leises Röcheln von sich. Clim war an den Augen anzusehen, dass es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete. Arbon blickte sich um. Jeder Verletzte war umringt von mindestens drei oder vier Helfern, doch niemand schien so recht zu wissen, was zu tun war. Gemeinsam war allen, dass ihnen die Angst ins Gesicht geschrieben stand.
»Wir bringen ihn zu den Luftschächten! Sie alle!« Clims Stimme klang plötzlich um einiges gefestigter. »Hergehört!«, rief er mit überraschend lauter und tiefer Stimme. »Wir bringen sie alle zu den Luftschächten sieben und acht! Die sind hier ganz in der Nähe!« Die Arbeiter um sie herum packten ihre verbrannten Kameraden an den Schultern und Beinen und hoben sie vom Boden hoch. Die Schmerzensschreie wurden dadurch beinahe unerträglich, doch die Bergmänner trugen die Verletzten mit entschlossener Miene fort. Auch Arbon, Escon und Clim machten sich daran, ihren Verletzten von diesem Ort der Zerstörung fortzuschaffen.
Als sie ihn anhoben, lief ein heftiges Zucken durch den Körper des Mannes. Er riss das eine Auge, das ihm noch geblieben war, weit auf und starrte an die Tunneldecke. Ein lautes Röcheln stieg aus seiner Kehle und ein letztes krampfhaftes Zucken durchfuhr seine Glieder. Dann sackte er in sich zusammen. Er war tot.
»Scheiße!«, fluchte Clim und legte zwei Finger an den Hals des Mannes, um seinen Puls zu fühlen. Traurig schüttelte er den Kopf und sie ließen den Körper zu Boden sinken. Arbon bemerkte, dass auch einige der anderen Helfer ihre Verletzten wieder absetzten. Offenbar war für viele der bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Männer die Anstrengung, bewegt zu werden, einfach zu viel gewesen.
»Zum Nächsten!«, befahl Clim und sie rannten zu einem Körper, der vor wenigen Augenblicken noch laute Schreie von sich gegeben hatte. Nun jedoch lag auch er völlig still da und eine kurze Untersuchung reichte aus, um festzustellen, dass auch hier jedwede Hilfe zu spät kam. Clim fluchte laut und sie schauten sich um. Die meisten Verletzten, denen noch geholfen werden konnte, waren bereits von Arbeitern umringt, die sie rasch aufhoben und aus dem Tunnel trugen. Clim eilte zu einer Gruppe von Bergmännern, die Schwierigkeiten hatte, ihren Verletzten zu tragen, da dieser bewusstlos zusammengebrochen war und jegliche Körperspannung verloren hatte. Clim erteilte auch hier barsche Anweisungen und packte gleich selbst mit an. Arbon und Escon blieben zurück, unschlüssig, was sie nun tun sollten. Sie schauten sich um, doch niemand schien ihre Hilfe zu benötigen.
Und dann hörte Arbon einen leisen, aber doch wahrnehmbaren Hilferuf. Wären der Lärm und das Chaos der letzten Minuten nicht etwas abgeflaut, wäre er wohl in all der Aufregung untergegangen. Arbon drehte den Kopf in alle Richtungen. Woher kam die Stimme? Es hörte sich an, als wäre der Rufer weit entfernt.
»Hörst du das?«, fragte Arbon Escon, der neben ihm stand.
»Was?«, fragte dieser.
»Da ruft doch jemand!«, sagte Arbon. »Ganz leise, aber … von wo?« Hektisch schaute er sich um.
»Jetzt hör’ ich’s auch!«, rief Escon plötzlich. »Von da!« Er deutete mit dem Finger auf die Trümmer der eingestürzten Decke, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt aufragten. Arbon und Escon eilten dorthin. Sie mussten über einige der verbrannten Leichen steigen und Arbon unterdrückte den Drang, sich erneut zu übergeben. Als sie die Überreste der einst soliden Tunneldecke erreicht hatten, konnten sie die Stimme tatsächlich klar verstehen. Offenbar war einer der Bergmänner von dem Einsturz eingeschlossen worden.
»Hilfe!«, schrie er und Arbon fragte sich, wie sie ihn jemals hatten überhören können. »Verdammte Scheiße, hört mich denn keiner!?« Die Stimme kam Arbon vage bekannt vor, jedoch war der Halleffekt zu stark, als dass er genau hätte sagen können, woher.
»Wir hören dich!«, rief er so laut er konnte in eine der breiten Spalten zwischen den Trümmern. »Wir trommeln ein paar Leute zusammen, dann holen wir dich da raus!« Einige Sekunden lang herrschte nun Stille.
»Beim Stein, Carregin, bist du das?«, schallte es dann plötzlich von jenseits der Trümmer.
»Ja«, antwortete Arbon etwas verwirrt. »Warum? Wer … Moment mal! Necon?« Arbon stöhnte innerlich auf. Natürlich musste es ausgerechnet Necon sein, der hier eingeschlossen war. Arbon drehte sich zu Escon um und sah, dass dieser dasselbe zu denken schien.
»Was zum Henker treibt ihr da!?«, ertönte plötzlich Clims Stimme hinter ihnen. Arbon und Escon fuhren herum und sahen den alten Bergmann auf sie zumarschieren. »Geht gefälligst von der Einsturzstelle weg! Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, dass ihr zwei von irgendwelchen verspäteten Brocken zerquetscht werdet. Wenn ihr hier nicht mehr helfen könnt, dann verschwindet gefälligst!« Misstrauisch beäugte Clim die Tunneldecke und auch Arbon schaute nach diesen Worten kurz nach oben, bevor er Clim einen hektischen Blick zuwarf.
»Da ist noch jemand drin!«, rief er und deutete auf den Spalt, durch den er mit Necon kommuniziert hatte. Clim hatte sie inzwischen erreicht und in seinem Gesicht erkannte Arbon, wie hin- und hergerissen er war. Doch dann schüttelte Clim den Kopf.
»Das Risiko ist zu groß!«, sagte er. »Das Gas könnte uns jederzeit wieder erwischen. Entweder es erstickt uns oder es explodiert noch mal und begräbt uns alle unter Tonnen von Gestein. Wir schaffen die übrigen Verletzten raus und dann machen wir, dass wir hier wegkommen.« Er seufzte und sah Arbon traurig an. »Tut mir leid, Junge! Und nun Abmarsch!« Energisch wies Clim in Richtung des Tunnelausganges, durch den gerade die letzten Überlebenden dieser Katastrophe getragen wurden. Doch Arbons Blick fiel auf etwas anderes, das ihn an Clims Theorie von einer Gasexplosion zweifeln ließ. Neben dem Tunnelausgang an der Wand hing eine größere Version der Grubenlampen, von denen Arbon eine bei sich trug, und erleuchtete den Raum um sie herum. Früher waren Gaslampen verwendet worden. Dies hatte regelmäßig zu Explosionen geführt, wenn sich das unsichtbare und geruchlose Grubengas an den Flammen entzündet hatte. Doch die Grubenlampen waren kalt. Sie hatten keine Flamme. Gelegentlich kam es vor, dass sich das Gas von selbst entzündete. Doch diese Explosionen waren selten und Arbon hatte noch nie erlebt, dass eine solche vorgekommen war.
Arbon wandte den Blick wieder zur Einsturzstelle. Er wusste, dass eine Gasexplosion dennoch die wohl einzige Erklärung für die Katastrophe sein konnte, die sich hier abgespielt hatte. Nichtsdestotrotz kreisten Fragen in seinem Kopf. Hatte jemand gegen die höchsten Gesetze der Minenfürsten verstoßen und eine Fackel oder Kerze mit in den Streb gebracht? Doch konnte jemand so dumm sein? Nur eines war sicher: Wenn Necon dort unten gelassen wurde, würde das sein Ende sein. Die Minenfürsten würden diesen Streb versiegeln lassen und niemand würde es riskieren, selbst verschüttet zu werden, um einen einzelnen Bergmann zu retten. Arbon sah Escon an. Sein Freund wusste genau wie er, dass Necons Schicksal besiegelt war, wenn sie nichts unternehmen würden, doch gleichzeitig betrachtete er die Einsturzstelle mit beinahe ebenso großer Furcht wie Clim.
Arbon traf eine Entscheidung. Er schlug Escon auffordernd gegen die Schulter und deutete auf den großen Spalt vor ihnen.
»Komm schon!«, sagte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er auf den Spalt zu.
»Verdammte Scheiße noch mal, willst du dich umbringen?«, hörte er Clim hinter sich rufen, doch Arbon ignorierte ihn. Er zwängte sich zwischen den beiden riesigen Felsbrocken hindurch, während Clim hinter ihm fluchte und ihn einen Idioten schimpfte.
»Steinverfluchter Mist!«, hörte er Escon rufen, als sich dieser hinter Arbon in den Spalt zwängte. Einige Schritte musste Arbon sich seitwärts an den braunen Steinwänden entlangschieben, dann gelangte er in einen kleinen Hohlraum, in dem er sich etwas freier bewegen konnte. Vor ihm erstreckte sich ein breiterer Gang, der tiefer in den Streb hineinführte. Offenbar waren die Brocken, die von der Decke gestürzt waren, so groß, dass es nun einige Stellen gab, an denen man zwischen ihnen hindurchkriechen konnte. Arbon schaute sich rasch um und entdeckte zu seinem Grauen eine menschliche Hand, die aus einem der kleineren Risse hervorragte. Ihm schauderte bei dem Gedanken, wie viele tote und zermalmte Bergleute um ihn herum begraben sein mussten. Wie um diesen Gedanken zu verhöhnen, huschten einige Felswühler zwischen den Hohlräumen umher.
»Necon!«, rief Arbon laut. »Wo bist du?«
»Keine Ahnung!«, schallte es aus dem Spalt vor ihm zurück. »Hab’ mir mein beschissenes Bein eingeklemmt!« Arbon fluchte leise. Wenn sie Necon nicht bewegen konnten, würde er hier unten sterben. Arbon drehte sich um und sah Escon hinter sich aus dem Spalt kriechen.
»Hab’ ich das gerade richtig gehört?«, ächzte er. »Ich schwöre dir: Wenn wir das Ganze hier umsonst veranstalten …«
»Lass ihn uns erst mal finden!«, fiel Arbon ihm ins Wort. Er deutete auf eine der größeren Spalten vor ihnen. Sie lag recht niedrig, war jedoch breit genug, dass sie sich hindurchquetschen konnten.
»Hier lang!«, sagte er und ging auf alle viere hinunter. Er kroch zwischen den Gesteinsbrocken hindurch und hörte Escon leise vor sich hin fluchen, als dieser ihm folgte. Nach einigen Minuten erreichten sie schließlich einen beinahe unbeschädigten Abschnitt des Tunnels. Nur wenige mittelgroße Trümmerteile waren hier von der Decke gestürzt. Offenbar hatte die Explosion vor allem den vorderen Teil des Strebs getroffen.
Arbon ließ den Blick über das Trümmerfeld schweifen. Im spärlichen Licht ihrer Lampen war es schwierig, Genaueres zu erkennen, doch die Zerstörung in diesem Abschnitt schien sich tatsächlich in Grenzen zu halten. Arbon und Escon gingen weiter in den Streb hinein. Schnell erkannten sie, dass die unförmigen Haufen, die ihren Weg säumten, gar keine Felsbrocken, sondern verbrannte Leichen waren. Keiner dieser armen Kerle gab auch nur ein Röcheln von sich, also ging Arbon davon aus, dass sie längst tot waren. Schnell wandte er sich ab und hielt seinen Blick auf den Weg vor ihm gerichtet.
»Hierher!«, hörten sie plötzlich Necons Stimme. »Weiter hinten!« Arbon löste seine Lampe von seiner Jacke und hielt sie in die Höhe. Es dauerte einige Sekunden, dann hatte er Necon erspäht. Der Schläger lag am hintersten Ende des Strebs, dort, wo die Kohle abgebaut wurde. Ein großer Gesteinsbrocken lag halb auf ihm und es schien, als habe der Fels Necons linkes Bein unter sich begraben.
Arbon wollte die Lampe gerade wieder an seiner Jacke befestigen, als er plötzlich innehielt. Hinter Necon, wo eigentlich eine massive Wand aus Stein und Kohle hätte sein sollen, klaffte ein riesiges Loch nahe der Decke. Und dahinter – man musste schon sehr genau hinsehen, um es im Licht der Grubenlampen überhaupt zu bemerken – schimmerte ein sanftes blaues Licht.
»Komm schon!«, sagte Escon, der weder das riesige Loch noch den blauen Schimmer bemerkt zu haben schien. Er eilte auf Necon zu und Arbon folgte ihm. Beim Gehen hielt er jedoch den Blick auf das riesige Loch vor ihnen geheftet und fragte sich, wie es hatte entstehen können. Hatte es doch eine Gasexplosion gegeben, wie Clim dachte? Doch warum war der hintere Teil des Strebs dann weitestgehend verschont geblieben? Und wo zum Stein kam dieses blaue Licht her?
»Sieht verdammt schwer aus, Arb. Sollten wir aber hinkriegen«, hörte er Escons Stimme von weiter vorn. Arbon beeilte sich, zu seinem Freund aufzuschließen. Als er ihn und Necon erreichte, sah er, was Escon meinte. Necon sah mit einer Miene zu ihnen auf, als wüsste er nicht genau, was er von der ganzen Situation halten sollte.
»Scheiße, hätt’ nicht gedacht, dass ausgerechnet ihr zwei mich retten kommt!«, sagte er und stieß ein kurzes Lachen aus. Er bereute es allerdings sofort, denn scheinbar bereitete ihm das Lachen erhebliche Schmerzen.
»Wollte nur die Gelegenheit nicht verpassen, dich mal auf deinem Arsch zu sehen«, erwiderte Escon mürrisch und deutete mit dem Kopf auf den Felsbrocken. Er und Arbon packten den Brocken jeweils an einer Seite, stemmten sich mit der Schulter dagegen und drückten. Necon schrie vor Schmerzen auf, Arbon hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, doch dann merkte er, wie sich der Felsen tatsächlich einige Fingerbreit anhob.
»Jetzt!«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mit einem weiteren Schmerzensschrei zog sich Necon über den Boden. Das linke Bein schleifte er dabei wie ein Stück Holz hinter sich her.
»Alles klar!«, stöhnte Necon, als er sich etwa einen Fuß weit entfernt hatte. Ächzend ließen Arbon und Escon den Felsen wieder herunter. Arbon keuchte vor Anstrengung und hielt sich den schmerzenden Rücken. Doch zumindest hatten sie es geschafft. Necons linkes Bein war blutig und schien an einigen Stellen gebrochen. Wenigstens schien es nicht vollständig zerquetscht zu sein. Als Schläger würde Necon aber wohl nicht mehr arbeiten können. Ein kurzer Anfall von Genugtuung durchschoss Arbon, doch er verdrängte das Gefühl schnell wieder. Jetzt war nicht die Zeit, sich daran zu erfreuen, dass gerade Necon nun eine Zukunft am Waschband bevorstand.
»Kannst du stehen?«, fragte er ihn, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. Necon besah sich sein Bein und setzte eine skeptische Miene auf.
»Auf einem Bein … vielleicht. Wenn einer von euch mich stützt.« Arbon seufzte, nickte aber. Dann wandte er seinen Blick wieder zu dem klaffenden Loch hinter ihnen.
»Necon … was ist hier passiert?« Er deutete mit der einen Hand auf das Loch, mit der anderen auf die Zerstörung um sie herum. Und falls er geglaubt hatte, dass ihn am heutigen Tag nichts mehr würde überraschen können, wurde er nun eines Besseren belehrt. Denn zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, sah er Furcht in Necons Augen.
»Djusa!«, hauchte er und starrte mit angsterfüllten Augen zu dem Loch in der Wand empor. Escon folgte seinem Blick und riss erschrocken die Augen auf. Er schien das Loch und das blaue Licht tatsächlich erst jetzt wirklich wahrzunehmen. Auch in seiner Miene erkannte Arbon nun Furcht. Er jedoch blieb skeptisch.
»Du willst mir erzählen, Djusa persönlich hätte die Wand gesprengt?«, fragte er zweifelnd. Djusa war in gewisser Weise das bösartige Gegenstück zu Mjantyr. Sie war eine Dämonin, die von Mjantyr aus der Gläsernen Halle verbannt worden war und nun Rache an ihm nahm, indem sie seine Kinder verspeiste, wenn sich diese zu tief in die Erde vorwagten. Arbon, der sich ja ohnehin nicht durch tiefe Religiosität hervortat, hatte auch an dieser Legende seine Zweifel.
»Clim meinte, es sei eine Gasexplosion gewesen«, sagte Escon zweifelnd und schaute Necon an. Dieser schüttelte nur grimmig den Kopf.
»Kein Gas!«, sagte er. »Blitze! Hab’ so was noch nie gesehen! Ich und meine Jungs kloppen fröhlich auf den Fels ein, denken uns nix Böses, als plötzlich – bumm! – der ganze Streb zu beben anfängt. Dachte, irgendwo gibt’s ’nen Einsturz, und hab’ mich auf den Boden geschmissen. Genau in dem Moment explodiert die verdammte Wand! Und ich sag’s euch: So was habt ihr noch nicht erlebt! Blaue Blitze schießen aus der Wand. Als wär’ ein scheiß Gewitter im Stein eingeschlossen gewesen! Schießen in die Decke und in die Leute. Hab’ gesehen, wie Colb getroffen wurde. Hat ihn glatt durch den ganzen Streb geschleudert. Die Schreie!« Er schloss die Augen und erschauderte. »Hab’ noch nie jemanden so schreien gehört.« Arbon schaute wieder zum Loch in der Wand. Er wollte Necons Geschichte als kompletten Blödsinn abtun. Als Wichtigtuerei oder eine vom Gas hervorgerufene Halluzination. Doch etwas sagte ihm, dass es nicht so einfach war. Dieses blaue Licht …
»Hab’ Glück gehabt«, erzählte Necon weiter, ohne auf Arbon zu achten. »Lag genau unter dem Loch, aus dem die Blitze rausgeschossen kamen. Ham mich nicht getroffen. Nur der verschissene Brocken da!« Er deutete wütend auf den Felsbrocken, den Arbon und Escon gerade von seinem Bein gewuchtet hatten. »Ein paar andere haben’s auch geschafft, nich’ getroffen zu werden. Sind aber abgehauen, als keine Blitze mehr kamen. Und dann is’ der hintere Streb eingestürzt. Haben’s welche rausgeschafft?«
»Na ja«, sagte Escon zögerlich, »rausgekommen sind einige schon, aber … die meisten, die ich gesehen hab’, sahen nicht so aus, als würden sie’s schaffen. Waren alle völlig verbrannt. Deshalb dachten wir, es wäre ’ne Gasexplosion gewesen. Bist du sicher, dass …«
»’türlich bin ich mir sicher! Hab’ ich den Mist mit eigenen Augen gesehen, oder was? Ich sag’s euch: Das war keine Explosion. Das war Djusa!«
Sein Blick verriet, dass er fest an seine Geschichte glaubte. Arbon warf noch einmal einen Blick auf das Loch in der Felswand, dann traf er eine Entscheidung. Er wollte wissen, was hier geschehen war und was es mit diesem blauen Licht auf sich hatte. Necon hatte gesagt, dass die Blitze, die aus der Wand geschossen waren, blau gewesen seien. Wenn an seiner Geschichte etwas dran war, dann würde die Quelle dieses Lichts möglicherweise Antworten liefern.
»Wo zum Stein willst du hin, Arb?«, rief ihm Escon hinterher, als sich Arbon daranmachte, über den Schutt und die Felsbrocken zu klettern, um die Öffnung im Stein zu erreichen, die sich etwa sieben Fuß über ihnen befand.
»Ich will mir das mal ansehen«, keuchte er, während er sich einen Felsbrocken hinaufzog.
»Hast du sie noch alle?«, rief Escon entgeistert. »Wir sollten hier schleunigst verschwinden und der Sache nicht auch noch auf den Grund gehen!« Der Gedanke an Djusa machte Escon offensichtlich zu schaffen.
»Carregin, hast du mir eigentlich zugehört?«, rief Necon. »Pugior hat recht! Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!« Doch Arbon hörte nicht auf sie. Er hatte die Öffnung im Gestein erreicht und spähte hinein.
Vor ihm lag eine große Kaverne, wie sie manchmal durch den Bergbau freigelegt wurden. Zahllose Stalaktiten hingen von der Decke, darunter erstreckte sich ein großer See. Und er war gefroren.
Arbon starrte ungläubig auf die Eisfläche, die sich unter ihm erstreckte. Überall um ihn herum sprossen seltsame blaue Steine aus dem Fels. Nein, keine Steine, korrigierte Arbon sich selbst, es waren Kristalle. Sie sprossen aus dem Stein wie Pilze; einige waren so klein wie ein Finger, andere so groß wie ein ganzer Arm. Und sie leuchteten. Noch nie hatte Arbon etwas Schöneres gesehen. Das blaue Licht, das von diesen Kristallen ausging, erfüllte die Kaverne, glitzerte auf dem Eis und legte sich als sanfter blauer Schimmer auf die Stalaktiten an der Decke. Einige Kristalle schienen sich auch unter dem Eis zu befinden und brachten das gefrorene Wasser an diesen Stellen zum Leuchten.
Wie konnte etwas Derartiges existieren? Manchmal durchbrachen die Bergmänner eine Wand und fanden sich in einer Kaverne wie dieser wieder. Und auch unterirdische Seen und Flüsse waren in Bryn keine Seltenheit. Doch ein gefrorener See? Nicht einmal im tiefsten Winter wurde es unter Tage kalt. Im Gegenteil: In der Tiefe herrschten stets schwülwarme Temperaturen, die bei jungen und unerfahrenen Bergleuten häufig zu Schwindelanfällen führten. Als Arbon jedoch den Arm vorstreckte, bemerkte er, dass die Luft in der Kaverne deutlich kälter war als in dem Streb, in dem er stand. Wie war das möglich? Und diese Kristalle! Arbon hatte Necons Gerede über Djusa als abergläubischen Unsinn abgetan, nun jedoch war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Plötzlich packte ihn eine Hand grob an der Schulter. Arbon erschrak bis ins Mark, fuhr herum und blickte in Escons zorniges Gesicht.
»Bist du taub, Mann?«, schimpfte er. »Ich schrei’ mir hier die Kehle wund und du …«
Doch als Escons Blick in die Kaverne hineinglitt, sackte ihm die Kinnlade herunter und er verstummte.
»Unglaublich, nicht wahr? Hast du von so was schon mal gehört?«, fragte Arbon. Escon schüttelte stumm den Kopf, während er den Blick weiterhin ungläubig über die Kristalle und den gefrorenen See schweifen ließ.
»Was treibt ihr denn da oben?«, hörten sie Necon von unten rufen. Arbon drehte den Kopf und schaute zu ihm herab.
»Hier ist … eine Kaverne. Und Hunderte von kleinen und großen Kristallen, die aus dem Boden und den Wänden wachsen. Sie … leuchten. Sie erzeugen das blaue Licht, das man von unten sieht.« Necon schaute verständnislos zu ihnen hoch.
»Was für Kristalle? Hab’ noch nie von leuchtenden Kristallen gehört. Ich glaub’ nich’, dass …«
»Das ist noch nicht alles!«, unterbrach Arbon ihn. »Hier ist auch noch ein See. Aber er ist … nun ja … gefroren. Komplett zu Eis erstarrt.« Arbon hätte erwartet, dass Necon ihm nicht glauben, dass er ihn einen Lügner nennen oder einfach nur auslachen würde, aber der verletzte Schläger schaute ihn lediglich ängstlich an.
»Scheiße!«, fluchte er dann. »Hab’ doch gesagt, hier hat Djusa ihre Finger im Spiel!«
Nun drehte sich auch Escon wieder zu Arbon um.
»Da hat er nicht ganz unrecht, Arb«, sagte er. »Wir sollten wirklich machen, dass wir hier rauskommen!« Er warf noch einen letzten, unsicheren Blick auf den gefrorenen See, dann wandte er sich schaudernd ab. Escon kletterte behände die Felsen hinab und stellte sich neben Necon.
»Wir werden dich wohl den ganzen Weg stützen müssen, was?«, sagte er, während er sich Necons Bein noch einmal eingehend betrachtete. Necon schnaufte gereizt, verkniff sich aber eine Antwort.
Arbon sah wieder zurück zu dem See und den Kristallen.
»Ja«, sagte er langsam, »wir sollten verschwinden!« Er riss seinen Blick von dem Lichtspiel los und wollte gerade den Weg nach unten antreten, als ihn ein flüchtiger Gedanke zurückhielt. Dieser Eingebung folgend streckte er die Hand nach einem der kleinsten Kristalle aus, die sich in seiner Reichweite befanden, und brach ihn ohne Mühe aus dem Gestein. Der Kristall fühlte sich warm in seiner Hand an und Arbon spürte ein schwaches, aber regelmäßiges Pulsieren, wie bei einem Herzschlag.
Rasch ließ Arbon ihn in seiner Manteltasche verschwinden, dann kletterte er hinunter und gesellte sich zu Escon und Necon.
»Also gut«, sagte er, »wir packen dich an den Schultern. Versuch dein linkes Bein nicht zu belasten. Dahinten sind einige enge Stellen, wo wir kriechen müssen. Das wird nicht einfach, aber es wird schon gehen. Beiß einfach die Zähne zusammen!«
Arbon und Escon halfen Necon mit Mühe auf die Beine. Sie legten sich seine Arme über die Schultern, dann machten sie sich langsam auf den Weg zurück zu Clim und den anderen. Es würde eine verdammte Plackerei werden, Necon durch die engen Spalten zu bugsieren, doch sie würden es schaffen. Auch wenn es ausgerechnet Necon war – zumindest ein Bergmann würde diese Katastrophe überleben.
***
Der Mann sank tot zu Boden. Malvana fluchte innerlich. Tagelang hatte sie Hisarkull beobachtet und war als unverheiratete Frau verkleidet durch die Gänge der Bergfestung geschritten, ohne entdeckt zu werden. Sie hatte die Gewohnheiten von Kriegsführer Tenakard studiert, wusste nun, wo seine Gemächer lagen und wo seine Diener schliefen. Sie kannte die Namen und die Anzahl seiner Wachen und wusste auch, in welcher Abfolge der Wachwechsel stattfand. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, wie sie Tenakard töten würde. Und nun war die ganze Operation möglicherweise gefährdet, weil ein betrunkener Nevhon genau in dem Moment gegen die Tür gefallen war, als Malvana gerade über dem Abtritt hockte. Der dünne Holzriegel, mit dem die Tür verriegelt gewesen war, hatte dem Gewicht dieses fetten Kerls nicht standgehalten und die Tür war aufgeflogen.
Zu seinem Pech war der Mann noch nicht betrunken genug gewesen, um einfach am Boden liegen zu bleiben. Stattdessen hatte er sich rasch aufgerappelt und sie dabei angesehen. Malvana hatte ihre Röcke nicht schnell genug über die Beine ziehen können und er hatte ihre braune Haut gesehen. Glücklicherweise war der Gang vor dem Abort ansonsten leer gewesen und so hatte Malvana dem Mann ungesehen das Genick brechen können, noch bevor ihm bewusst geworden war, welches Geheimnis er da gerade entdeckt hatte.
Doch auch als Leiche blieb der Krieger ein Problem. Würde man Malvana nun entdecken und mit seinem Tod in Verbindung bringen, wäre ihre Tarnung dahin. Dann würde sie sich den Weg aus der gewaltigen Festung herauskämpfen müssen und ihr Vorhaben wäre gescheitert. Doch auch wenn sie sofort vom Ort des Geschehens verschwand, würde ein toter Krieger für großes Aufsehen unter den Nevhon sorgen. Tenakard hatte sämtliche Blutfehden für nichtig erklärt, während der Krieg noch tobte. Ein Mord würde als Bruch der Waffenruhe betrachtet werden und erhebliche Unruhe unter den Clans hervorrufen. Die Clanführer – selbst Tenakard – würden sich im schlimmsten Fall verbarrikadieren und Malvanas Plan wäre erledigt. Es gab nur eine Lösung: Sie musste den Körper beseitigen!
Doch wie sollte sie das anstellen? Hisarkull war keine Festung im eigentlichen Sinne. Es war ein befestigtes Labyrinth aus natürlich gewachsenen Gängen, Spalten und Klippen im Gebirge und im Eis. Die Nevhon hatten Höhlen und Räume hinzugefügt und an strategischen Orten Wachtürme errichtet. Es gab hier zwar Stellen, an denen sie die Leiche einfach eine Klippe hinunterwerfen könnte, wo sie dann für alle Zeiten in der Schwärze verschwinden würde; doch die meisten dieser Stellen waren von Wachtürmen aus einsehbar und selbst die, die es nicht waren, konnte Malvana unmöglich mit einer Leiche im Schlepptau erreichen, ohne gesehen zu werden. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben.
Ihr Blick fiel auf den Abort hinter ihr. Die Nevhon waren keine großen Baumeister, doch die vielen kleineren und größeren Spalten in Hisarkull machten das Anlegen einer Kanalisation ohnehin überflüssig. Sämtlicher Unrat verschwand einfach irgendwo in der Tiefe.
Sie stieg über den Leichnam hinweg und schloss die Tür. Der Holzriegel, mit dem man sie verschließen konnte, war abgebrochen, also zückte sie stattdessen eines ihrer dünnen, nadelartigen Messer und schuf damit einen provisorischen Riegel. Dann ging sie zum Abort zurück und zog ihren langen Dolch. Sie rammte ihn zwischen den Holzkasten und den Aufsatz, auf den man sich setzen konnte, und hebelte das Brett nach oben. Mit einem lauten Knacken brach etwas im Holz, dann konnte sie das Brett entfernen. Nun war der Schacht, in dem all die menschlichen und andersartigen Abfälle verschwanden, freigelegt. Dadurch, dass sich alle Ausscheidungen in vielen hundert Fuß Tiefe sammelten, gab der Abtritt keinerlei Gestank von sich. Malvana war dankbar dafür, denn die Nevhon stanken ihrer Meinung nach auch so schon genug.
Malvana steckte den Dolch weg und ging zu dem Körper am Boden. Mit einem Ausdruck größter Überraschung in den Augen starrte der Tote zu ihr auf. Wie alle männlichen Nevhon hatte auch er sein von Geburt an graues Haar lang getragen. In seinem Gesicht wucherte ein wilder Bart. Er war noch recht jung gewesen; Malvana schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre. Gekleidet war er in eine einfache Pelzrüstung und den Tätowierungen um seine Augen herum, die die Nevhon Szentarre nannten, entnahm Malvana, dass er zum Clan der Warkar gehörte, einem der kleineren Stämme, die sich Tenakard angeschlossen hatten. Eigentlich hätte er gar nicht hier sein dürfen. Dieser Bereich der Bergfestung war den unverheirateten Frauen des Clans der Karuvarra vorbehalten. Malvana nahm an, dass der junge Krieger eine Geliebte unter den Mädchen gehabt hatte. Es war überaus töricht gewesen, sich hier mit ihr treffen zu wollen. Vermutlich hätte er diesen Fehler im nüchternen Zustand nicht begangen, doch so betrunken, wie er gewesen war, hatten wohl eher seine Triebe als sein Verstand seine Schritte gelenkt. Malvana schüttelte den Kopf. Und nun hatte ihm seine trunkene Torheit den Tod gebracht.
Sie beugte sich zu ihm hinab und packte seine Arme. Mit Mühe gelang es ihr, den Körper, der um einiges größer und schwerer war als der ihre, zum Abtritt zu schleifen. Sie wuchtete ihn mit dem Kopf voran über den Rand des Holzkastens. Wäre in diesem Moment jemand in den Raum geplatzt, hätte er wohl angenommen, dass der Krieger gerade dabei wäre, sich zu übergeben. Malvana packte seine Beine und schob. Langsam glitt sein massiger Oberkörper über den Rand des Schachts. Dann nahm ihr die Schwerkraft die Arbeit ab. Der Oberkörper stürzte ins Dunkel hinab und zog den Rest des Mannes mit sich. Niemand würde ihn jemals finden und seine Geliebte würde sich wohl für den Rest ihres Lebens fragen, was aus ihm geworden war.
Malvana ließ sich nicht die Zeit, seinen Tod zu bedauern; es gab wichtigere Dinge zu erledigen. Sie legte das Holzbrett wieder auf den Kasten. Dass dieser nun etwas locker war, würde kaum auffallen. Niemand würde erahnen, was hier gerade geschehen war. Malvana nahm ihr Messer wieder an sich und trat in den Gang hinaus. Er war noch immer verlassen und Malvana entfernte sich in gediegenem Tempo vom Ort des Geschehens.
Sie schritt durch die Gänge Hisarkulls, die auf dieser Ebene aus unbehauenem Stein bestanden. Öffnungen im Fels dienten als Fenster, spendeten Tageslicht und hätten einem wohl einen atemberaubenden Ausblick auf die unwirtliche Gebirgslandschaft des nördlichen Nevemaa gewährt, wäre da nicht der immerwährende Nebel gewesen, der die Festung wie ein weißes Meer umspülte und sich nur des Nachts für wenige Stunden verzog. Gerade dämmerte es jedoch und die untergehende Sonne ließ den Nebel in einem feurigen Rot erstrahlen, als stünde Hisarkull in einem See aus flüssigem Feuer.
Malvana beschleunigte ihre Schritte. In wenigen Stunden würde Tenakard ein Gelage zu Ehren der Aak abhalten. Die Aak waren nach Tenakards Karuvarra der zweitmächtigste unter den freien Clans. Sie galten selbst unter den kriegerischen Nevhon als blutrünstig und brutal. Mit beinahe jedem anderen Clan verbanden sie Dutzende von Blutfehden, doch niemanden hassten die Aak so sehr wie die Karuvarra. Seit Generationen hatten die beiden Clans um die besten Jagdgründe gekämpft. Oder der eine Clan hatte den anderen aus Rache für einen vorangegangenen Überfall angegriffen, der seinerseits ein Rachefeldzug gewesen war. Es war ein ewiger Kreislauf des Blutvergießens gewesen, der wohl niemals durchbrochen worden wäre. Doch dann war der Krieg gekommen. Die Republik hatte die südlichen Clans unterworfen und die besten Jagdgebiete Nevemaas unter ihre Kontrolle gebracht. Doch als Tenakard die nördlichen Stämme unter seiner Führung vereint hatte, waren die Aak dem Bündnis ferngeblieben. Erst jetzt, da ihre Bemühungen, den Krieg auf eigene Faust zu gewinnen, gescheitert waren, hatte Kammarda, der Hüter der Aak, sich auf Verhandlungen mit Tenakard eingelassen. Diese waren offensichtlich zu einem positiven Ergebnis gekommen, denn heute sollte der Eintritt der Aak in das Bündnis der nördlichen Clans gefeiert werden.
Und auf dieser Feier würde Malvana Tenakard töten. Sie würde sich unter die Dienerinnen mischen, die den Kriegern Speisen und Getränke brachten. Es würde nicht schwierig werden, einen der unbeliebten Posten als Serviererin zu ergattern. Die meisten unverheirateten Mädchen fürchteten die Behandlung durch die betrunkenen Krieger auf solchen Festen und buhlten stattdessen um einen Platz in der Küche. Dort waren nur Frauen erlaubt und die Mädchen konnten ihren Schleier ablegen, was ihnen ansonsten nur in ihren Gemächern gestattet war.
In der Küche hätte Malvana natürlich sehr viel mehr Gelegenheiten gehabt, Tenakard zu vergiften, doch daran, ihren Schleier abzulegen, war natürlich nicht zu denken und somit hatte diese Option für sie nie bestanden.
Malvana stieg eine breite, grob in den Stein gehauene Treppe hinauf und gelangte so auf eine der höher gelegenen Ebenen Hisarkulls. Hier ging es deutlich geschäftiger zu als im Flügel der unverheirateten Frauen. Ihr begegneten einige junge Krieger, die sie verschlagen angrinsten, als sie an ihnen vorüberging. Malvana wusste, dass sie es nicht wagen würden, sie anzusprechen. Sie hatte den Jungfrauenschleier der Karuvarra mit Bedacht gewählt. So einsam und frustriert die Männer in dieser Festung auch sein mochten, sie würden sich einer Jungfrau aus dem Clan des Kriegsführers nicht unsittlich nähern. Tenakard hatte Kriegern schon für weniger die Gedärme herausgerissen.
Malvana gelangte zu einer weiteren Treppe und betrat die Ebene, auf der das Gelage stattfinden sollte. Hier lag der sogenannte Saal der Könige, ein Name, der auf eine Zeit hinwies, in der die Clans Nevemaas noch deutlich geeinter gewesen waren als heute.
Dies war der älteste Teil Hisarkulls. Die alten Könige hatten nur die Ein- und Ausgänge der Felsspalten befestigt und sich ansonsten nicht weiter in den Berg vorgegraben. Die natürlich entstandenen Gräben waren hier so breit, dass eine ganze Kohorte der Legion durch sie hätte marschieren können, ohne die Wände zu berühren.
Hier herrschte eine rege Betriebsamkeit. Dienerinnen trugen Holzfässer mit Met, einem schwersüßen Honigwein, den Malvana zutiefst verabscheute. Andere schleppten tote Schweine und Ochsen an Spießen in die Küchen, wieder andere Körbe mit dunklem Brot oder riesige Käseräder.
Malvana staunte immer wieder über die Unvernunft der Nevhon. Zwar waren die Vorratslager Hisarkulls riesig und gut gefüllt, doch dieses Gelage allein würde die Zeit, die die Bevölkerung der Bergfestung von den angelegten Vorräten würde leben können, um mindestens zwei Wochen verkürzen. Im kommenden Winter würden die Hüter Jagdtrupps aussenden müssen, die dann an der Front fehlen würden. In Gedanken schüttelte Malvana den Kopf über die Kultur der Barbaren, die nicht einmal in Kriegszeiten und im Angesicht der eigenen Vernichtung auf übertriebene Völlerei und zur Schau gestellten Überfluss verzichteten.
Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und schloss sich einer Gruppe von Dienerinnen an, die gerade mit Brotkörben beladen auf dem Weg in die Küche waren. Gemeinsam schritten sie durch eines der riesigen Portale, die die einzelnen Bereiche dieser Ebene voneinander trennten. Dahinter lag eine Art Vorhalle, von der wiederum mehrere Flure abgingen. Die meisten führten in die riesigen Küchen, einige in die Lagerräume und wieder andere in die Gesindequartiere. Hier würde Malvana darauf warten, einen Platz unter den Serviererinnen zu bekommen. Dann würde Tenakard sterben und sie würde sein stinkendes Volk endlich hinter sich lassen können.
***
Zufrieden ließ Varisur den Blick durch den Saal der Könige schweifen. Dieser war so hoch wie vier Mammuts und so breit, dass das große Langhaus der Jagdführer dreimal hineingepasst hätte. Riesige Feuerschalen standen auf Sockeln im Raum verteilt und verbreiteten ein flackerndes Licht. Die Schatten der feiernden Krieger tanzten wie Dämonen auf den Wänden. Hunderte Männer waren hier an etlichen langen Tafeln versammelt, tranken, aßen und prügelten sich – und das alles zur Feier der Verbindung der beiden größten Clans des Nordens: der Karuvarra und der Aak. Es hatte lange gedauert, bis die Aak die Notwendigkeit dieses Schrittes eingesehen hatten. Und auch Tenakard war nicht leicht zu überzeugen gewesen. Doch Varisur hatte ihn immer und immer wieder bedrängt, hatte sich gegen die anderen Rudelführer gestellt, die Tenakard eindringlich davor gewarnt hatten, ihren Erzfeinden die Hand zu reichen, und sich damit einige Feinde gemacht. Varisur hatte lange an Tenakards Seite gekämpft, doch seinen Rang als Jagdführer hatte er vor allem seinen strategischen Fähigkeiten zu verdanken, was viele der anderen Jagdführer wenig zu schätzen wussten. Tenakard schätzte ihn jedoch genau für sein kühles Denken und schließlich hatte der Kriegsführer sich überzeugen lassen. Und nachdem Levruh, der langjährige Hüter der Aak, in der Schlacht auf den Östlichen Ebenen gefallen war, hatte sein Bruder und Nachfolger Kammarda Tenakards Angebot tatsächlich angenommen. Nun saß Kammarda zwei Schritt unterhalb von Varisur an Tenakards Seite. Varisur lächelte zufrieden, als beide Männer in polterndes Gelächter ausbrachen. Die beiden Anführer vertrugen sich – das war ein gutes Zeichen.
»Das ist unerhört!«, zischte Eitur neben ihm. Varisur seufzte leise und bat Udún, den Gott des Nebels, stumm um Geduld.
»Was erscheint dir unerhört?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Der Kriegsführer scherzt mit dem Feind und erzürnt die Götter! Wie kannst du das gutheißen?«, ereiferte sich der Hüter.
»Dem Feind?«, entgegnete Varisur und schaute Eitur mit hochgezogener Augenbraue an. »Der Feind sitzt nicht an diesem Tisch, Eitur. Er befindet sich noch nicht einmal in diesem Raum. Er lauert dort draußen! Und er ist zu mächtig, als dass wir ihn allein bezwingen könnten.«
Varisur wusste, wo Eiturs Verbitterung herrührte. Als Hüter der Karuvarra wäre es normalerweise sein Privileg gewesen, zur Rechten des Kriegsführers zu sitzen. Eigentlich stand er den Traditionen nach sogar über Tenakard. Doch als der Krieg ausgebrochen war, hatte Eitur Tenakard, dem damals mächtigsten Jagdführer, widerwillig das Feld überlassen. Die Hüter verstanden nichts vom Krieg. Ihre Aufgabe war es, den Willen der Götter zu lesen und die Traditionen des Clans zu wahren. Dies galt zumindest für die meisten Clans, berichtigte sich Varisur, als er den Hüter Kammarda betrachtete, der gerade mit den Zähnen ein rotes Stück Fleisch von einem Knochen abriss. Die Aak waren immer schon anders gewesen.
»Ich soll also einfach vergessen, was uns dieses Volk angetan hat?«, trieb ihn Eiturs unangenehm schnarrende Stimme wieder aus seinen Gedanken. »Ich soll die letzten zweihundert Jahre vergessen? Dein eigener Großvater ist bei einem Überfall dieser Feiglinge getötet worden! Genau wie mein Sohn!«
Varisur seufzte innerlich. Es stimmte, dass der Vater seines Vaters vor zwanzig Jahren ein Jagdrudel angeführt hatte, dessen Männer Wochen später von Aak-Pfeilen durchbohrt im Schnee gefunden worden waren. Niemand hatte überlebt. Auch Eiturs einziger Sohn war unter den Opfern gewesen. Zwei Tage darauf hatte ein Kriegstrupp unter der Führung von Varisurs Vater ein Dorf der Aak überfallen und einhundertsechzig Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt. Diese Spirale des Blutes musste aufhören!
»Wenn unser Volk überleben will, gibt es keinen anderen Weg!«, entgegnete er entschieden. Menschen wie Eitur gab es zu viele unter den Clans. Sie weigerten sich, die neue Welt als das zu sehen, was sie war. »Du warst bei der Schlacht von Jaakide nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie die Vasgali Feuer auf unsere Krieger hinabregnen ließen. Ihre Himmelskolosse sind mit nichts zu vergleichen, was unsere Männer jemals bekämpft haben!« Er beugte sich näher zu Eitur heran. Der Hüter hatte etwa siebzig Sommer gesehen. Er hatte dunkle Ringe um die Augen, als würde er nie genug Schlaf bekommen. Den Bart hatte er sich nach Art der Hüter glatt abrasiert; Varisur, der seinen eigenen Bart stets kunstvoll geflochten trug, war diese Sitte schon immer ungemein seltsam vorgekommen. Eiturs Haar war von dem Kopfschmuck verdeckt, der allein den Hütern vorbehalten war: einem Wolfskopf mit roten Steinen in den Augenhöhlen. Der graue Pelz des heiligen Tieres hing ihm als Umhang über die Schultern. Das Szentarr um seine Augen symbolisierte Elvúr, den Wolfsgott. Nur Hüter durften dieses heilige Motiv tragen.
»Dieser Krieg ist viel größer als jeder Zwist zwischen den Clans«, sagte Varisur entschieden. »Wenn wir versagen, werden wir zu einem geknechteten Volk, wie es die Stämme des Südens bereits sind!«
Eitur schnaubte verächtlich.
»Die Vasgali kämpfen ohne Ehre! Die Götter werden sie dafür richten. Und auch uns werden sie richten, wenn wir mit diesen blutrünstigen Monstern gemeinsame Sache machen!«
Varisur lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. Es war zwecklos. Eitur hatte die Welt sein Leben lang nur auf eine Weise gesehen. Die Bedrohung durch die vasgalischen Legionen passte nicht in diesen Blickwinkel und wurde deshalb einfach nicht ernst genommen. Es war ihrer aller Glück, dass Tenakard anders war.
Er war der Einzige unter den Jagdführern gewesen, der die Vasgali verstanden hatte. Er hatte begriffen, dass man ihre Legionen nicht wie den Kriegstrupp eines anderen Clans bekämpfen konnte. Aus diesem Grund war er auch der Einzige, der jemals Siege gegen die Eindringlinge errungen hatte. Deshalb waren die anderen Clans ihm gefolgt. Deshalb hatten sie ihn zum Kriegsführer ernannt. Und deshalb glaubte Varisur an ihn. Tenakard würde den Vormarsch der Legionen stoppen und sie am Ende zum Sieg führen.
Varisur richtete den Blick wieder auf den Kriegsführer. Dieser unterhielt sich noch immer ausgelassen mit Kammarda, während er mit den Händen große Stücke von einem Laib Brot abriss und in dunkle Bratensoßen tunkte. Ein leichter Anflug von Sorge beschlich Varisur, als er bemerkte, dass Tenakards Gesicht bereits anfing rot zu glühen, während Kammarda noch ziemlich nüchtern wirkte. Tenakard musste achtgeben, nicht zu viel zu trinken, dachte Varisur. Zwar wurde von einem Krieger auf solchen Festen durchaus erwartet, auch seine Trinkfestigkeit unter Beweis zu stellen, doch wenn Tenakard zu schnell zu betrunken werden sollte, würde ihm Kammarda Versprechungen abringen, die sich dann nicht mehr zurücknehmen ließen. Varisur hatte zwar dieses Bündnis eingefädelt, doch er traute den Aak im Grunde ebenso wenig über den Weg, wie Eitur es tat. Er hatte Tenakard eingeschärft, Kammarda keine Zugeständnisse zu machen, die über das bereits Vereinbarte hinausgingen.
»Wie viel hat der Kriegsführer getrunken?«, fragte Eitur neben ihm säuerlich. »Er sieht nicht gerade frisch aus.«
Ja, wie viel hatte Tenakard getrunken? Er schien immer größere Mühe zu haben, dem Gespräch mit Kammarda zu folgen. Varisur wollte Eitur gerade antworten, als ein lautes Hornsignal ertönte. Dies brachte Tenakards Aufmerksamkeit offenbar wieder etwas zurück, denn wie alle anderen im Saal blickte er nun zum großen Hauptportal.
Die Torflügel wurden aufgestoßen und zwei Dienerinnen schritten herein. Auf einem großen Tablett trugen sie den Schädel von Toirnesh. Ehrfürchtiges Schweigen erfüllte die Halle. Die Geschichten der Hüter erzählten, dass Toirnesh der König der Trolle gewesen war. Vor Generationen hatten er und sein Volk über Nevemaa geherrscht. Sie hatten die Herrschaft über das Land den Riesen abgetrotzt und die Menschen, die Kinder der Riesen, versklavt. Dann war Farkanat, der Sohn des Wolfsgottes Udún und einer Menschenfrau, gegen die Trolle in den Krieg gezogen. Er hatte Toirnesh getötet, dessen Volk vernichtet und die Menschen aus der Unterdrückung befreit. Zu Ehren seines Kampfes und zur Erinnerung an den Blutzoll, den die Befreiung der Nevhon einst gekostet hatte, würden Tenakard und Kammarda nun feierlich aus diesem Schädel trinken.
Varisur sah, wie sich Tenakard langsam von seinem Platz erhob. Eine Sekunde lang schien er leicht zu schwanken, doch da alle Augen auf den Schädel gerichtet waren, war Varisur zuversichtlich, dass es niemandem aufgefallen war.
»Seht!« Tenakards tiefe Stimme donnerte laut durch den Saal. Als erfahrener Kommandant war er es gewohnt, Befehle über das Schlachtfeld zu brüllen, und so hatte niemand im riesigen Saal der Könige Probleme, ihn zu verstehen.
»Der Schädel von Toirnesh! Das Symbol der Stärke und der Unbeugsamkeit aller Nevhon!« Tenakard reckte die Faust in die Höhe und ein lauter Jubelsturm brach unter den Kriegern los. Varisur hatte immer bewundert, wie Tenakard eine Menge für sich einnehmen konnte. Niemand vermochte es wie er, das Feuer des Krieges in den Herzen der Männer zu entfachen. Er war groß wie ein Baum. Ein Umhang aus Eisbärenfell lag ihm über den breiten Schultern. Sein volles Haar trug er lang und offen. Doch im Gegensatz zu den meisten Nevhon legte er großen Wert auf die Pflege seiner Haarpracht. Das Ergebnis war eine beeindruckende Mähne, die ihm das Aussehen eines Schneelöwen verlieh. Sein eingeölter Bart reichte ihm bis zur Hüfte. Er war der Inbegriff eines Kriegerkönigs, dachte Varisur. Ein Mann, dem jeder Krieger bereitwillig in die Schlacht folgte. Und seine Siege hatten ihn schon jetzt unsterblich gemacht.
»Denn wer tötete diesen schier unbesiegbaren Feind?«, stellte Tenakard die ritualisierte Frage.
»Farkanat!«, schlug es begeistert aus Hunderten Kehlen zurück.
»Farkanat!«, bestätigte der Kriegsführer. »Und genau wie einst Farkanat stehen auch wir heute einem übermächtigen Feind gegenüber. Die Legionen verwüsten unser Land! Nehmen sich unsere Frauen! Töten unsere Kinder! Wie einst Toirnesh wollen sie uns in Ketten sehen!« Zorniges Gebrüll folgte seinen Worten. »Doch wir sind Nevhon!« Trotziger Jubel breitete sich in der Halle aus. »Niemand kann uns vernichten, solange wir treu Seite an Seite stehen. Schild an Schild. Axt an Axt!« Unter noch lauterem Geschrei zog Tenakard seine schwere Axt aus dem Gürtel und ließ sie auf die Tafel niederfahren, an der er gesessen hatte. Dort blieb sie bebend stecken.
»Und zusammen stehen wir, meine Brüder. Karuvarra!« Die Krieger schlugen mit ihren Fäusten auf die Tische und brüllten bei der Nennung von Tenakards Clan. »Warkar! … Dardak! … Aludar! … Tovar!« Mit jedem Clan, den er nannte, wuchs der Jubel weiter an.
»Und nun endlich«, Tenakard legte Kammarda die Hand auf die Schulter, »Aak!« Nun schien der Saal förmlich zu explodieren. Die Männer schrien ihre Freude laut heraus und in diesem Moment schienen die alten Feindschaften tatsächlich vergessen zu sein.
Die Dienerinnen stellten den Schädel von Toirnesh direkt vor Tenakard ab. Die Schädeldecke war entfernt worden, dicke Knochenwülste umrahmten die Augen. Ober- und Unterkiefer waren länglich wie bei einem Raubtier und lange Reißzähne ragten daraus hervor. Toirnesh musste ein verdammt hässliches Biest gewesen sein, dachte Varisur bei sich, als Tenakard einen Dolch aus seinem Gürtel zog.
Varisur fiel auf, dass seine Hände dabei zitterten. Die Sorge, die in ihm hochgekrochen und kurzzeitig vom allgemeinen Sturm der Begeisterung verdrängt worden war, kehrte nun mit aller Macht zurück. Etwas stimmte nicht.
»Wie Farkanat einst sein Blut vergoss, um die Nevhon zu befreien, so wollen auch wir heute Blut vergießen, um unser Bündnis zu besiegeln.« Mit diesen feierlichen Worten hob Tenakard den Dolch und fügte sich langsam einen tiefen Schnitt in die Handfläche zu. Sogleich trat Blut aus der Wunde und Tenakard ließ es in den Schädel strömen. Es dauerte einige Momente, bis sich genug Blut angesammelt hatte. Während dieser Zeit sprach niemand im Saal ein Wort oder machte auch nur das leiseste Geräusch. Dies war ein heiliger Moment.
Schließlich zog der Kriegsführer seine Hand fort und reichte Kammarda den Dolch mit dem Griff voran. Der Hüter nahm die Klinge andächtig entgegen. Auch er hob die Hand und schnitt sich tief in die Handfläche. Dunkles Blut quoll aus der Wunde und auch er ließ es in den Schädel fließen. Nun trat Tenakard abermals vor.
»Auf dass unser Blut das Band zwischen uns für alle Zeiten festigen möge! Vom heutigen Tage an nenne ich dich Bruder!« Tenakard nahm den großen Schädel in die Hände und hob ihn hoch. Varisur blieb nicht verborgen, wie stark seine Hände zitterten. Und seine Stirn glänzte vor Schweiß.
Tenakard führte den Schädel an die Lippen und trank von dem Blut. Er setzte das knöcherne Gefäß wieder ab und trat einen Schritt zurück. Kammarda nahm den Schädel auf und reckte ihn andächtig in die Höhe.
»Vom heutigen Tage an nenne ich dich Bruder!«, wiederholte er die Worte mit volltönender Stimme. Dann setzte auch er den Schädel an die Lippen und trank.
Als Kammarda den Schädel wieder absetzte, war die Luft im Saal zum Zerreißen gespannt. Alle starrten zu den beiden Clanführern hinauf, niemand sprach ein Wort. Dann hob Tenakard feierlich die rechte Hand. Varisurs Blick hing jedoch an Tenakards linker Hand, mit der er sich zitternd an seiner Stuhllehne festklammerte.
»Im Blute sind wir nun vereint!«, rief er und seiner Stimme war nicht anzumerken, wie schlecht es ihm offenbar ging. »Karuvarra und Aa…« Ein Schwall roten Blutes ergoss sich plötzlich aus Tenakards Rachen. Die Speisen auf der Tafel vor ihm wurden von seinem Blut getränkt, als er röchelnd vornüberkippte und am ganzen Leib zu zittern begann.
Mit Entsetzen betrachtete Varisur, wie sein Kriegsführer – sein Freund – kraftlos auf dem Tisch zusammenbrach. Tenakard war nicht betrunken. Hier war etwas viel Schrecklicheres am Werk!
Laute Rufe schallten aus allen Richtungen durch den Saal und rissen Varisur aus seiner Schockstarre. Er sprang kurzerhand über seinen Tisch und landete direkt neben Tenakard. Der Kriegsführer lag mit dem Gesicht in einer stetig größer werdenden Lache seines eigenen Blutes. Varisur packte ihn am Umhang und drehte ihn rücklings auf den Tisch.
Panik überkam ihn. Tenakards Augen rasten ziellos hin und her, aus seinem Mund floss weiter Blut und verklebte seinen prächtigen Bart.
»Tenakard!«, rief Varisur entsetzt und schüttelte seinen Freund, in der Hoffnung, sein Blick möge sich klären. Doch Tenakards Augen rollten weiterhin wie die eines Wahnsinnigen. Nur am Rande nahm Varisur wahr, dass sie von Männern umringt waren. Alles schrie durcheinander, doch Varisur hörte nicht hin.
»Tenakard! Ten…! Bei Udún! Heiler! Wo bleibt der verdammte Heiler?«, schrie Varisur und wandte den Blick von Tenakard ab, um sich hektisch umzusehen.
»Kein Heiler könnte dem Kriegsführer jetzt noch helfen.« Beim Klang dieser kalten Stimme wandte Varisur sich um und erblickte Eitur, der Tenakard aus mitleidlosen Augen anstarrte. »Die Götter haben ihn gerichtet. Er hat das Blut des Feindes getrunken und den Preis dafür bezahlt.«
Die Kälte in Eiturs Worten jagte Varisur einen Schauer über den Rücken. Varisur öffnete den Mund, um noch einmal nach einem Heiler zu rufen, da schnellte plötzlich Tenakards Hand vor und packte ihn grob an den Bändern seines Lederwamses.
Tenakards schweißgebadetes Gesicht war rot und blau angelaufen und sein Bart war blutdurchtränkt. Blutrote Tränen quollen aus seinen Augen und liefen ihm über das Szentarr, doch sein Blick richtete sich starr auf Varisur. Tenakard zog ihn zu sich herab; Varisur meinte beinahe, bereits den Tod in seinem Atem riechen zu können.
»Rette … sie!« Tenakards Stimme, vor wenigen Minuten noch laut und donnernd, war nun ein krächzendes Flüstern.
»Rette … Lumiana! Lass nicht zu, dass Eitur … Lass ihn nicht … nicht … ni…« Tenakards Augen quollen hervor. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an Varisur fest. Dann versagte seine Kraft. Seine Finger lösten sich von Varisurs Wams und mit einem letzten, schmerzerfüllten Stöhnen sank er zurück. Sein Atem erstarb. Tenakard war tot.
Ungläubig starrte Varisur auf den blutbesudelten Körper seines Freundes. Tenakards graue Augen blickten stumpf und leblos ins Leere. Alles Feuer war daraus verschwunden.
Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Tenakard durfte nicht tot sein – nicht jetzt! Nicht, nachdem sie sich einen Funken Hoffnung in diesem Krieg geschaffen hatten. Nicht, nachdem die Fehde mit den Aak endlich überwunden war! Tenakard war der Schlüssel. Er musste leben! Er musste …
»Tenakard ist tot!«, donnerte plötzlich Eiturs Stimme durch den Saal. Varisur sah zu dem Hüter auf. Dieser sah ihn kurz aus kalten Augen an. Dann wandte er den Blick zu Kammarda, der, umringt von seinen Leibwächtern, mit geschockter Miene auf Tenakard hinabsah.
»Die Aak haben ihn vergiftet!« Ungläubig blickte Varisur erneut zu Eitur. Das konnte dieser Narr doch nicht wirklich gesagt haben! Dann vernahm er das ihm vertraute Geräusch, das entstand, wenn Tausende Krieger zugleich ihre Waffen zogen.