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Kapitel II

Im letzten Moment wich Malvana zur Seite aus. Die Axt wirbelte wenige Fingerbreit an ihrem Gesicht vorbei und traf einen Krieger, der hinter ihr gestanden hatte, in die Brust. Noch bevor der Aak, der sie geschleudert hatte, begriff, was geschehen war, verschwand Malvana hinter zwei Kriegern, die verbissen mit den Äxten aufeinander einschlugen. Sie musste dringend hier weg!

Sie hatte damit gerechnet, dass die Allianz zwischen den Karuvarra und den Aak zerfallen würde, sobald Tenakard tot war. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass der Hüter der Karuvarra vor Hunderten betrunkener Krieger die Aak für die Bluttat verantwortlich machen würde. Dieser Mann war selbst für die Verhältnisse seines Volkes ein Narr! Natürlich war sogleich zu den Waffen gegriffen worden, als den Kriegern die Bedeutung von Eiturs Anschuldigungen klar geworden war. Aus dem Augenwinkel sah Malvana, wie Kammarda, der Hüter der Aak, umringt von seinen Leibwächtern versuchte, einen der Ausgänge zu erreichen. Er kämpfte jedoch auf verlorenem Posten. Tenakards Leibwache sowie Dutzende von Kriegern seines Clans drangen gegen sie vor und würden ihnen bald jeglichen Fluchtweg abschneiden. Kammarda, da war sich Malvana sicher, würde diesen Ort nicht lebend verlassen.

Dabei waren die Aak vollkommen unschuldig an Tenakards Tod. Malvana hatte es einige Stunden gekostet, unauffällig in die Nähe seines Mundschenks zu kommen. Schließlich war es ihr jedoch gelungen, einige Tropfen Gift in Tenakards persönliches Metfass zu geben. Das Gift war geschmacksneutral und absolut tödlich, benötigte jedoch einige Stunden, bis es seine Wirkung entfaltete. So war sichergestellt, dass niemand Malvana mit dem Mord in Verbindung bringen würde und sie unerkannt in die Nacht hinaus verschwinden konnte. Sie hatte nicht ahnen können, dass Tenakard ausgerechnet dann sterben würde, nachdem er das Blut eines ehemaligen Feindes getrunken hatte. Zwar würde ein neu aufflammender Krieg zwischen den Karuvarra und den Aak die Position der Republik auf lange Sicht massiv stärken, doch für Malvana hatte sich die Lage durch den Ausbruch des Getümmels nun verkompliziert.

Sie rannte zu einer der großen Flügeltüren am Rande des Saals. Sie musste Hisarkull so schnell wie möglich verlassen. Um sie herum herrschten Wahnsinn und Tod. Männer schrien, Frauen kreischten und Waffen klirrten. Die Nevhon hackten, schlugen und stachen wie wild aufeinander ein und bereits waren die Wände und der Boden blutbesudelt. Die Aak waren hoffnungslos in der Unterzahl, obschon sie die zweitgrößte Fraktion bei diesem Gelage gestellt hatten. Doch die anderen Clans waren ausnahmslos auf der Seite der Karuvarra und ihre Krieger töteten jeden Aak, den sie sahen.

Diese verkauften ihre Leben allerdings so teuer wie möglich. Es gab einen Grund, warum die Aak unter den Clans in Nevemaa als Außenseiter galten. Ihre Blutrünstigkeit war legendär und was ihnen an Kampfkunst fehlte, machten sie durch puren Fanatismus wieder wett.

Als Malvana einem geworfenen Steinkrug auswich, sah sie einen riesigen Aak auf einem der Tische stehen. Wie ein Berserker schreiend schwang er eine langstielige Axt wie der Bauer seine Sense und tötete alles, was sich um ihn herumbewegte. Zwischen zahlreichen Kriegern sah Malvana auch die Leiche einer jungen Frau am Fuße des Tisches liegen. Ihr Kopf lag ein Stück von ihrem Körper entfernt. Der Schleier verdeckte noch immer ihr Gesicht.

Malvana wandte sich ab. Ein gezielter Wurf mit dem Dolch hätte den Kerl sicherlich getötet, doch sie durfte ihre Tarnung nicht aufgeben. Die Nevhon mussten sie auch weiterhin für ein verängstigtes Mädchen halten, das nichts weiter wollte, als den Kämpfen zu entkommen.

Beinahe hatte sie die Türen erreicht. Viele Frauen flohen bereits auf diesem Weg vor dem Chaos und rannten in Richtung der Frauengemächer. Plötzlich kreuzte ein untersetzter Krieger ihren Weg. Der Mann blutete aus einer tiefen Wunde an seiner Hüfte und sein Blick war unstet. Offensichtlich war er betrunken. Malvana erkannte an seinem Szentarr, dass er zu den Aak gehörte, und fluchte innerlich. Nun erwies sich ihr Gesichtsschleier als Nachteil, denn jeder Nevhon erkannte daran sofort, zu welchem Clan eine Frau gehörte.

Der Mann fixierte sie aus blutunterlaufenen Augen und stapfte mit erhobener Axt auf sie zu. Malvana warf einen raschen Blick über ihre Schulter. Das Gedränge hinter ihr war zu groß und der nächste Ausgang zu weit entfernt. Sich an dem Aak vorbeizudrängen, würde nicht möglich sein. Ihr blieb nur eine Möglichkeit, wenn sie nicht unnötig Zeit verlieren wollte.

Entschlossen rannte sie auf den Mann zu. Der Krieger riss verwundert die Augen auf; offensichtlich war er von ihrer Reaktion überrumpelt. Doch schnell fing er sich wieder, schwang seine Axt und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ohne innezuhalten, hielt Malvana weiter auf ihn zu. Erst den Bruchteil einer Sekunde, bevor seine Axt ihr den Schädel gespaltet hätte, beugte sie den Oberkörper nach hinten und unterlief seinen Schlag. Sie nutzte ihren Schwung, drehte sich halb um die eigene Achse und trat dem Mann aus der Drehung heraus mit voller Wucht gegen die Kehle.

Röchelnd ließ der Krieger die Axt fallen und brach auf die Knie. Malvana hatte ihm den Kehlkopf zerquetscht und er würde elendig ersticken, wenn ihm die Klinge eines Feindes nicht bereits vorher den Garaus machte.

Ungerührt rannte Malvana an dem sterbenden Mann vorbei und gelangte gemeinsam mit einer Gruppe junger Frauen nach draußen auf den Gang. Während die Dienerinnen zu den Frauengemächern flohen, schlug Malvana die entgegengesetzte Richtung ein. Sie hatte ihre Flucht aus Hisarkull bereits vor Tagen vorbereitet. Zwar waren die Feindseligkeiten zwischen den Clans an diesem Abend stärker eskaliert, als sie es vorausgesehen hatte, doch das Ergebnis war nichtsdestotrotz mehr als zufriedenstellend. Tenakard war tot und die Allianz zwischen seinen Clans und den Aak zerschlagen. Nun war es Zeit, diesen Ort endlich zu verlassen.

Malvana rannte eine der Treppen hinauf, die direkt auf die Ostseite der höchsten Ebene der Festung führten. Auf dem Weg kamen ihr zwei junge Männer entgegen, die offenbar vom Kampflärm angelockt wurden, möglicherweise aber auch bereits von ihren Rudelführern mobilisiert worden waren. Sie mochten etwa sechzehn Jahre alt sein, ihre Bärte war noch kurz und dünn. Sie warfen Malvana im Rennen leicht irritierte Blicke zu, hielten sie aber nicht auf. Alles, was sie sahen, war ein verwirrtes Mädchen, das vor den Kämpfen flüchtete und dabei augenscheinlich den falschen Weg eingeschlagen hatte.

Malvana erreichte die oberste Ebene Hisarkulls. Auf der Westseite war hier zu jeder Zeit ein halbes Dutzend Krieger postiert, die den Zugang zum großen Wachturm auf dem Dach bewachten. Doch auf der Ostseite lagen nur einige kaum benutzte Lagerräume sowie ein großer Schlafsaal, der allerdings während des Festes kaum belegt gewesen sein dürfte. Malvana lief rasch an den Türen des Schlafsaals vorbei, die weit offenstanden. Sie gestattete sich einen kurzen Blick hinein und fand den großen Raum wie erwartet verlassen vor. Auch der Rest des Flügels schien völlig menschenleer zu sein, was Malvana nicht überraschte. Tenakard hatte den Großteil der Krieger, die er in Hisarkull zusammengezogen hatte, zum Festmahl geladen, damit alle die Beschließung des neuen Bündnisses würden bezeugen können.

Sie eilte auf einen der hinteren Lagerräume zu und riss die schwere Holztür auf. Überrascht blieb sie im Türrahmen stehen. Die schweren Holzkisten, die den Raum völlig verstopft hatten, waren teilweise fortgeschafft worden, offenbar, um einen freien Platz in der Mitte zu schaffen. Dort lagen zerwühlte Wolldecken auf einer Lage Stroh, als hätte hier noch vor Kurzem jemand gelegen, und es roch stark nach Schweiß und körperlicher Liebe.

Malvana dachte an die zwei Jungen, die ihr auf der Treppe entgegengekommen waren. Für Männer, die sich zu anderen Männern hingezogen fühlten, gab es in der Kultur der Nevhon keinen Platz. Häufig wurden sie einfach in die eisige Wildnis verbannt, damit sie zumindest als wahre Männer sterben konnten, wenn sie schon nicht als solche hatten leben wollen – ein weiterer Grund, warum Malvana diese Barbaren verachtete. Sie nahm an, dass sich die Jungen hier heimlich getroffen hatten, während alle anderen unten beim Fest gewesen waren.

Malvana schlüpfte in den Lagerraum und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment fürchtete sie, dass die beiden Liebenden auf die Utensilien gestoßen waren, die sie für ihre Flucht benötigen würde, doch zu ihrer Erleichterung fand sie den Leinensack genau dort wieder, wo sie ihn versteckt hatte. Darin befand sich neben dem Fluchtwerkzeug eine fein gearbeitete Tasche. Aus dieser holte Malvana ihre Lederkluft hervor, die ihr bei ihrem Vorhaben deutlich bessere Dienste leisten würde als der schwere Walrossmantel, den sie zur Tarnung trug. Rasch streifte sie sich Mantel und Schleier ab und entledigte sich auch ihres Untergewandes. Dann legte sie ihre enganliegende Lederrüstung an, befestigte ihre verschiedenen Messer und Dolche an den dafür vorgesehenen Halterungen und streifte dann den Walrossmantel wieder über; so kurz vor ihrer Flucht durfte sie sich keine Nachlässigkeiten erlauben.

Sie nahm ihr Werkzeug an sich, öffnete die Tür, trat hinaus in den Gang und erstarrte. Eine junge Frau kam mit schnellen Schritten auf sie zugerannt. Ihr Schleier war ihr vom Gesicht gerissen worden und ihr Gewand hing in Fetzen und blutdurchtränkt an ihr herunter. Ihr Blick war fahrig und als sie Malvana erreichte, klammerte sie sich an ihr fest wie eine Ertrinkende.

»Nicht da entlang! Wir müssen uns verstecken. Dort drin! Dort drin!«

Panisch zog das Mädchen Malvana zum Lagerraum zurück. Es zitterte am ganzen Leib und Malvana benötigte nicht lange, um zu begreifen, dass es bereits vergewaltigt worden war. Ihren Gesichtsschleier hatte die junge Frau zwar verloren, doch das Szentarr um ihre Augen wies sie überdeutlich als eine Aak aus. Was immer sie bisher hatte erdulden müssen – sobald die wenigen Krieger, die zur Delegation der Aak gehört hatten, besiegt waren, würde ihr das schlimmste Martyrium bevorstehen und sie schien dies zu wissen. Dutzende Krieger würden sich in den nächsten Tagen und Wochen an ihr vergehen und sie dann vermutlich mit durchtrennter Kehle einfach irgendeine eisige Klippe hinunterwerfen.

Malvana ließ sich von der panischen jungen Frau zurück in den Lagerraum zerren. Dort angelangt kauerte sich diese sogleich zwischen zwei großen Kisten zusammen. Sie zitterte am ganzen Leib und Tränen rannen ihr über das blasse Gesicht. Malvana schloss die Tür und ging langsam auf das Mädchen zu. Sie schätzte es auf etwa dreizehn Jahre. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine linke Gesichtshälfte rot und geschwollen und es blutete aus einer Wunde an der Stirn. Unter diesen Blessuren jedoch war sein Gesicht von auffallender Schönheit, wie Malvana fand. Vermutlich hätte es, zur Feier des Bündnisses, an einen Rudelführer oder gar an Tenakard selbst verheiratet werden sollen.

Im Blick, den das Mädchen ihr nun zuwarf, lagen blankes Entsetzen und Verzweiflung.

»Bitte hilf mir!«, flehte es mit dünner Stimme. »Ich … Ich hab’ doch nichts getan! Ich weiß nicht, was los ist. Auf einmal sind alle aufeinander losgegangen. Die haben alle umgebracht … meinen Vater und meinen Bruder. Sie …« Die junge Frau brach in ein lautes Schluchzen aus und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Malvana sank auf die Knie und nahm sie sanft in den Arm. Sofort krallten sich ihre Hände in den Saum von Malvanas Umhang. Sie presste den Kopf an ihre Brust und weinte bitterlich.

»Wie ist dein Name?«, fragte Malvana sanft in der primitiven Sprache der Nevhon, während sie den Rücken des Mädchens streichelte.

»Su… Suavi«, brachte die junge Frau unter Schluchzern hervor. »Wir sind vor einer Woche zusammen mit dem Hüter angekommen. Vater hat gesagt, dass ich bald heiraten würde. Dass ich dann hierbleiben muss. Aber es sollte doch alles so schön werden mit uns und den Karuvarra. Und nun ist Vater tot. Und Knaapi und Onkel Barba und …«

»Schhhh«, machte Malvana und wiegte das Mädchen ein wenig hin und her. »Es wird alles gut werden. Ich helfe dir hier heraus. Du wirst sehen, alles wird gut!«

Malvanas Worte schienen Suavi tatsächlich etwas zu beruhigen. Zumindest weinte sie nicht mehr, auch wenn sie noch immer am ganzen Leib zitterte. Es war offensichtlich, dass sie sich nach Schutz und Geborgenheit sehnte. Sich danach sehnte, dass ihre Welt wieder normal wurde. Doch in ihrer Zukunft lagen nur noch Schmerz und Tod. Und Geborgenheit hatte Malvana nicht zu vergeben. Sie konnte nur noch eines für das Mädchen tun.

Suavis Körper verkrampfte sich, als Malvana ihr den Dolch ins Herz stieß. Sie keuchte noch einmal vor Schmerz auf, dann erschlaffte sie in Malvanas Armen.

Sanft ließ Malvana Suavis Körper zu Boden gleiten. Die Augen des toten Mädchens blickten zu ihr empor. Aus seinem letzten Blick sprachen Enttäuschung und Furcht.

Malvana wusste, dass sie dem Mädchen durch einen schnellen Tod Tage der Qualen und der Folter erspart hatte. Dennoch verspürte sie Bedauern über seinen Tod. Normalerweise tötete Malvana mit kaltblütiger Entschlossenheit. Nie zweifelte sie auch nur eine Sekunde an der Notwendigkeit ihres Handelns. Der Orden der Acamorta war der stille Wächter der Republik. Auf seinen Befehl hin hatte Malvana bereits Dutzenden Männern und Frauen das Leben genommen. Sie alle hatten eine Bedrohung für die Ordnung der Republik dargestellt. Sie alle hatten vernichtet werden müssen.

Doch Suavi war für niemanden eine Bedrohung gewesen. Wäre sie in der Republik geboren worden, würde sie jetzt noch leben. Sie würde ein produktives Mitglied der Gemeinschaft sein und in der Sicherheit, die das Sonnenbanner versprach, Kinder gebären und alt werden. Doch die barbarische Kultur ihres Volkes hatte sie zu einem Leben in Knechtschaft verdammt. Einem Leben, das nun sein Ende gefunden hatte.

Malvana wandte sich ab, erhob sich und griff nach dem Sack mit ihren Fluchtutensilien. Ohne sich einen weiteren Blick auf Suavis Leiche zu erlauben, verließ sie den Lagerraum und schloss die Tür hinter sich.

Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Gang, bis sie auf die Nordwand der Festung stieß. Sie hörte den Kampflärm von unten, der immer lauter zu werden schien. Offensichtlich hatten sich die Kampfhandlungen auch auf andere Ebenen ausgeweitet. Vermutlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie auch diesen Flügel erreichen würden. Malvana musste sich beeilen, wenn sie unerkannt entkommen wollte.

An dieser Stelle der Nordwand fanden sich nur vereinzelt einige schmale Fenster. Doch mehr benötigte Malvana nicht. Sie trat an eines der Fenster heran und legte den Leinensack auf den Boden. Daraus holte sie ein langes Seil hervor, an dessen Ende ein großer Enterhaken befestigt war. Den Haken befestigte sie am unteren Rand des Fensters, dann ließ sie das Seil an der Außenwand nach unten gleiten.

Draußen herrschte eine tiefe Schwärze; keine Fackel erleuchtete diesen Teil der Festung. Zu Malvanas Glück war auch der Mond von dichten Wolken verdeckt, so würde niemand ihre Flucht bemerken. In wenigen Stunden würde es allerdings langsam zu dämmern beginnen und dann wollte sie so weit wie möglich von Hisarkull entfernt sein.

Sie warf einen letzten Blick in den Gang hinter sich. Noch war er menschenleer, doch der Kampflärm schien immer näher zu kommen. Sie musste rasch handeln!

So schnell sie konnte entledigte Malvana sich des schweren Walrossmantels. Sie riss sich den Schleier vom Gesicht und streifte die Kapuze ab. Dann stopfte sie Mantel und Schleier in den Sack. Die Reise zurück zum Legionslager würde lang und beschwerlich werden. Die Kleidungsstücke würden ihr sowohl als Schutz gegen die Kälte als auch als Tarnung weiterhin gute Dienste leisten, sobald sie die Festung einmal hinter sich gelassen hatte. Doch während des Abstiegs würden sie nur hinderlich sein.

Malvana band sich die Tasche um, damit sie sie beim Abstieg nicht behinderte. Dann zwängte sie sich geschickt durch die enge Öffnung in der Wand und ergriff das Seil. Zu ihrer Erleichterung hielt der Enterhaken ihr Gewicht problemlos und Malvana warf einen letzten Blick in den leeren Gang. Dann stieß sie sich von der Wand ab und trat ihren Abstieg an. Ein weiterer Auftrag war erfüllt.

***

Arbon lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Es kam ihm manchmal so vor, als wären die zurückliegenden Stunden wieder nur ein Traum gewesen. Doch dann fühlte er den kleinen Kristall in seiner Hand und wusste, dass alles wirklich passiert war. Der Einsturz. Die verbrannten Toten. Necons zerschmettertes Bein. Die blauen Kristalle.

Er hob die Hände und betrachtete den Kristall. Er war schon seit Stunden kalt und von seinem blauen Leuchten war nur noch ein blasser Schimmer geblieben. Arbon hatte die Kerze in seinem Zimmer gelöscht, damit er es überhaupt noch wahrnehmen konnte. Auch das Pulsieren hatte aufgehört. Es wirkte fast so, als wäre der Kristall in einen tiefen Schlummer verfallen. Oder als läge er im Sterben.

Arbon strich über die Kanten des Kristalls und dachte zum gefühlt hundertsten Mal an die zurückliegenden Stunden.

Nachdem Escon und er es endlich geschafft hatten, Necon aus dem zerstörten Tunnel zu bekommen, hatte Clim bereits auf sie gewartet. Der alte Schütter hatte ihnen eine fürchterliche Standpauke gehalten, was für elende Schwachköpfe sie doch seien und dass sie froh sein könnten, nicht unter Tonnen von Gestein begraben zu liegen oder am Gas erstickt zu sein.

Dennoch hatte er bereits mit einer Trage auf sie gewartet – Arbon wusste nicht, wie er sie organisiert hatte – und ihnen geholfen, Necon abzutransportieren. Arbon hatte einen flüchtigen Blick auf die umstehenden Bergleute geworfen und geglaubt, in ihren Augen so etwas wie Anerkennung oder gar Respekt zu lesen. Sie hatten Necon zu den Luftschächten transportiert, wo bereits Heiler auf sie gewartet hatten.

Man hatte dort eine Art improvisierte Krankenstation geschaffen, die bei näherem Hinsehen jedoch eher eine Leichenhalle gewesen war. Die meisten Verletzten waren ihren Verbrennungen erlegen und die Heiler schienen keine Hoffnung gehabt zu haben, den Lebenden helfen zu können.

Necon war entsetzt gewesen, als er seine toten und bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Kameraden gesehen hatte.

Doch Arbon und Escon war keine Zeit geblieben, die Verstorbenen zu betrauern, denn sogleich war Kitis, ihr Vorarbeiter, erschienen und hatte sie angewiesen, an die Oberfläche zurückzukehren und im Minenbüro Bericht zu erstatten.

Also waren Escon und Arbon mit dem Förderturm wieder über Tage gefahren und hatten zum ersten Mal das Minenbüro betreten. Hier residierte Vekilon, der oberste Aufseher und Stellvertreter von Minenfürst Bras.

Arbon wusste, dass vor den Aufseher zitiert zu werden nie etwas Gutes bedeuten konnte, und entsprechend nervös war er gewesen. Doch Vekilon, ein untersetzter, glatzköpfiger Mann mit dünnem Schnurrbart, dessen Stirn stets vor Schweiß glänzte, war ihnen überaus freundlich begegnet. Er hatte sie für ihren Verdienst um das Leben eines Kameraden gelobt und ihnen den morgigen Tag freigegeben, um sich von den Strapazen zu erholen.

Als Arbon ihm von der Höhle mit den blau leuchtenden Kristallen erzählt hatte, hatte Vekilon ihm aufmerksam und konzentriert zugehört, war aber nicht weiter darauf eingegangen. Arbon wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass der Vorsteher weit interessierter an dieser Neuigkeit gewesen war, als er hatte erkennen lassen. Etwas in seinen kleinen, wässrigen Augen hatte zu glänzen angefangen, als Arbon über die leuchtenden Kristalle und den gefrorenen See berichtet hatte.

Dass er einen Kristall für sich selbst mitgenommen hatte, hatte Arbon vorsorglich verschwiegen. Er wusste nicht genau zu sagen, warum er dies getan hatte, nur, dass er den Kristall für sich selbst behalten wollte. Die Gesetze der Minenfürsten und der Republik würden den Rest seines Lebens bestimmen. Er besaß zwar Bücher, die es ihm erlaubten, zumindest für eine Weile aus dieser Welt zu entfliehen, jedoch verkaufte die Handelsgilde lediglich das, was die Minenfürsten ihren Untertanen zu lesen gestatteten. Generell besaß er nur das, was andere ihm zugestanden. Der Kristall war das Einzige, das wirklich ihm gehörte. Sein Geheimnis.

Arbon schaute aus dem Fenster. Es war bereits später Abend. Nur noch vereinzelt hörte man Stimmen auf den Straßen; wer keine Nachtschicht zu absolvieren hatte, lag längst in seinem Bett. Arbon war sich jedoch sicher, dass einige noch immer in Alis’ Wirtshaus beisammensaßen und sich tuschelnd über die Katastrophe vom Mittag unterhielten. Der Einsturz und all die verbrannten Toten waren natürlich sofort Stadtgespräch geworden – von der Höhle und den leuchtenden Kristallen hatte Arbon jedoch niemanden reden hören. Er hatte es auch nicht für nötig befunden, die anderen Bergleute auf seine Entdeckung aufmerksam zu machen. Die meisten von ihnen würden ihn wohl für einen Lügner und Aufschneider halten und selbst die, die ihm glauben würden, würden sich wie Necon wohl vor Djusas Fluch fürchten und ihn vermutlich deshalb meiden.

Wieder betrachtete Arbon den Kristall in seiner Hand. Er erinnerte sich an das sanfte Pulsieren, das von ihm ausgegangen war, als er ihn aus dem Fels gebrochen hatte. Wie leicht er sich gelöst hatte! Beinahe so, als wäre er freiwillig mit Arbon mitgekommen.

Wieder strich er mit dem Finger sanft über die Kanten des Kristalls. War er wärmer geworden? Verwundert hielt Arbon inne und nahm den Kristall prüfend in beide Hände. Kein Zweifel! Die glatte Oberfläche hatte sich erwärmt – nur leicht zwar, aber doch wahrnehmbar.

Gerade als Arbon zu dem Schluss gelangt war, dass er den Kristall wohl durch seine konstanten Berührungen erwärmt hatte, nahm er das schwache Leuchten wahr. Aufgeregtes Herzklopfen ergriff ihn. Er hatte sich eigentlich bereits damit abgefunden, dass der Kristall seine faszinierenden Eigenschaften eingebüßt hatte, als Arbon ihn aus dem Stein gebrochen hatte. Dass er tot war. Offensichtlich hatte er sich geirrt.

Fasziniert schaute er das wundersame blaue Leuchten in seinen Händen an, welches sich mit jedem Augenblick noch zu steigern schien. Und dann kehrte auch das Pulsieren zurück. Es fühlte sich wie ein kleiner Herzschlag in Arbons Händen an und Arbon konnte sich erneut des Gedankens an ein lebendiges Wesen nicht erwehren.

Und dann geschah es. Für den Bruchteil eines Augenblickes blitzte ein Bild in Arbons Geist auf. Er sah eine gigantische Säule aus blauem Licht aus einer Bergspitze hervorbrechen wie Feuer aus einem Vulkan. Blitze zuckten aus der Lichtsäule hervor und schlugen zu allen Seiten in den Berg ein. Sowie er realisierte, was er da gerade sah, verschwand das Bild wieder aus seinem Kopf.

Panisch warf er den Kristall von sich weg und sprang vom Bett. Was war passiert? Dieses Bild war nicht seinen eigenen Gedanken entsprungen, da war sich Arbon absolut sicher. Doch was hatte er da gesehen? Und war es der Kristall gewesen, der ihm dieses Bild in den Kopf gesetzt hatte? Wie sollte dieses Ding dazu in der Lage sein?

Argwöhnisch belauerte Arbon den Kristall, der dort vor ihm auf dem Bett lag. Dieser gab nach wie vor ein schwaches blaues Leuchten von sich. Es schien beinahe so, als würde das Licht, das von ihm ausging, in einem steten Rhythmus pulsieren, so als wäre dem Kristall daran gelegen, Arbons Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Als ob diese Gefahr tatsächlich besteht!, dachte Arbon. Er würde dieses Ding so schnell ganz sicher nicht aus den Augen lassen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, diesen Kristall einfach so mit sich zu nehmen? Er war sich einfach sicher gewesen, dass noch niemand so etwas je gesehen hatte, und wollte zumindest ein Stück dieses unglaublichen Schatzes mit an die Oberfläche bringen.

Er sollte den Kristall einfach loswerden, dachte Arbon. Einfach aus dem Fenster werfen und die ganze Sache vergessen. Doch dann würde er nur von jemand anderem gefunden werden und dieser Gedanke behagte Arbon noch weniger als der Gedanke an das seltsame Bild in seinem Kopf. Er könnte ihn mit zur nächsten Schicht nehmen und irgendwo in den Tunneln zu Boden fallen lassen. Oder ihn einfach mitsamt all dem Schutt, den sie den ganzen Tag über schaufelten, in eine Lore werfen und auf die Halde verfrachten lassen. Dort würde er sicherlich sobald nicht mehr gefunden werden. Doch etwas in ihm sträubte sich auch gegen diese Möglichkeit. Er wollte den Kristall behalten. Und gleichzeitig wollte er ihn loswerden. Er machte ihm Angst. Und faszinierte ihn zugleich.

Langsam kehrte Arbon zu seinem Bett zurück. Der Kristall lag auf der dünnen Decke und sein pulsierendes Licht wurde von den Zimmerwänden zurückgeworfen. Zögerlich streckte Arbon die Hand aus und berührte den noch immer warmen Kristall. Es war unglaublich, wie lebendig sich das Ding anfühlte. Ein Schauer lief Arbon über den Rücken, als er sich dafür wappnete, das Bild wieder in seinem Kopf zu sehen. Doch nichts geschah. Lange Sekunden verstrichen, in denen Arbon mit angehaltenen Armen dasaß und wartete. Als weiterhin nichts geschah, nahm er all seinen Mut zusammen und nahm den Kristall fest in die Hand. Er spürte dessen Wärme und langsam verflog seine Angst. Der Kristall erschien Arbon nun immer weniger furchterregend. Wenn man es genau nahm, hatte er ihm ja auch nichts angetan.

Arbon dachte wieder an das Bild, das der Kristall ihn hatte sehen lassen. Eine gigantische Säule aus Licht, die aus der Spitze eines Berges geschossen kam. Was mochte das bedeuten? Arbon hatte zwar schon von einigen wundersamen Dingen gelesen und die Bergmänner und Fabrikarbeiter erzählten sich allerlei wilde Geschichten, doch von etwas Derartigem hatte er noch nie gehört. Doch durfte ihn das wirklich verwundern? Immerhin hatte er das Bild in seinem Kopf gesehen. Vielleicht gab es in Wirklichkeit weder den Berg noch die Säule aus Licht.

Plötzlich fühlte er etwas und erschrak bis ins Mark. Es erschien kein Bild in seinem Geist, doch er spürte etwas anderes. Es war, als wäre er nicht mehr länger allein in seinem Kopf. Als würde sich ein winziges Wesen sanft an seine Gedanken schmiegen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, doch er ließ den Kristall nicht los. Jetzt gab es für Arbon keinen Zweifel mehr. Der Kristall war lebendig. Es musste so sein.

Als es an der Tür klopfte, fuhr Arbon so heftig zusammen, dass er beinahe vom Bett gefallen wäre. Rasch ließ Arbon den Kristall in seiner Hosentasche verschwinden.

»Was ist?«, fragte er ein wenig zu barsch. Die Tür wurde geöffnet und er erkannte Leska, seine Mutter. Sie hatte sich bereits für die Nacht zurechtgemacht und trug ein schlichtes weißes Nachthemd. Das ergraute Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, wie sie es jeden Abend zu tun pflegte. Arbon erkannte die Sorge in ihrem Gesicht, das vom flackernden Schein der kleinen Kerze beleuchtet wurde, die sie in der Hand trug. Etwas stimmte nicht.

»Da sind einige … Herren an der Tür, mein Schatz«, sagte sie mit verunsicherter Stimme. »Sie wollen, dass du mit ihnen kommst. Sie sagen, der Vorsteher will dich noch einmal sprechen.« Sogleich war Arbon auf den Beinen. Die Sorge, die von seiner Mutter ausging, ergriff auch ihn. Warum wollte Vekilon ihn noch einmal sprechen? Und das auch noch so spät am Abend. Er ging auf seine Mutter zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Haben sie gesagt, was Vekilon von mir will?«, fragte er. »Ich hab’ ihm doch schon alles gesagt, was ich weiß.« Das war natürlich eine Lüge, doch das konnte der Vorsteher ja nicht wissen. Oder doch?

Seine Mutter schüttelte beklommen den Kopf. Es war offensichtlich, dass sie Angst um ihn hatte, aber mit der Situation auch nicht recht umzugehen wusste. Arbon atmete tief durch, dann stieg er die Treppe in den unteren Hausflur hinunter. Die Kerze, die seine Mutter ihm gegeben hatte, leuchtete ihm den Weg. Die Haustür stand weit offen und gewährte Arbon einen guten Blick auf die beiden Männer, die auf ihn warteten. Sie trugen die grauen Lederrüstungen der Arbeitswache und den smaragdgrünen Waffenrock, der sie als Leibwache des Minenfürsten auswies.

Arbons mulmiges Gefühl verstärkte sich schlagartig. Wenn Fürst Bras sich persönlich für einen interessierte, konnte dies eigentlich nichts Gutes bedeuten. Dass er Vekilon gestattet hatte, die fürstliche Leibwache nach einem kleinen Schütter wie Arbon auszuschicken, war mehr als seltsam.

Zögerlich näherte er sich der Tür und nahm die Soldaten in den Blick. Beide waren hochgewachsen und sahen ihn mit grimmiger Miene an. Anstelle von Helmen trugen sie Lederkappen auf dem Kopf und anstelle eines Speeres hielten sie einen langen Stab ohne Spitze in den Händen. Die Vasgali verboten den Minenfürsten, eine gerüstete und bewaffnete Streitmacht zu unterhalten. Die Fürsten hatten zwar noch nie versucht, sich gewaltsam von der Republik zu lösen – immerhin war es Vasgavor, welches ihnen ihren Status und ihren Reichtum verschaffte –, doch die Vasgali überließen nichts dem Zufall. Nur der Leibwache der Minenfürsten war es gestattet, ein Schwert zu führen, und so sah Arbon dann auch Klingen von den Gürteln der beiden Soldaten baumeln.

Nicht, dass sie diese gebraucht hätten, um einschüchternd zu wirken. Ihr grimmiger Blick und die Tatsache, dass sie mit der Autorität des Minenfürsten auftraten, waren wahrlich Einschüchterung genug.

»Arbon Carregin?«, fragte der ältere der beiden barsch.

»Der bin ich«, sagte Arbon zögerlich, jedoch ohne den Blick abzuwenden.

»Komm mit uns! Der Vorsteher will dich sehen.« Der Tonfall des Soldaten duldete keinen Widerspruch, dennoch verschränkte Arbon die Arme vor der Brust und bewegte sich nicht.

»Was will der Vorsteher von mir, was nicht bis morgen früh warten kann? Ich hab’ heute doch bereits mit ihm gesprochen.«

Es mochte nicht klug sein, einen derartigen Ton gegenüber der fürstlichen Wache anzuschlagen, doch Arbon war nicht in der Stimmung, sich hier einfach so abführen zu lassen.

»Pass auf, wie du mit mir redest, Bursche!«, knurrte der Soldat. »Jetzt zieh dich an und komm mit! Ich sag’s nicht noch mal!« Wie beiläufig legte der Mann eine Hand auf den Schwertknauf und Arbon verstand, dass ihm weiterer Widerstand nichts nützen würde. Seufzend drehte er sich zu seiner Mutter um.

»Besser, ich hör’ mir an, was Vekilon so spät noch von mir will«, sagte er zu ihr und schlüpfte rasch in seine Stiefel und seine dünne Jacke. Dann setzte er ein tapferes Lächeln auf, das so gar nicht zu der Unsicherheit in seinem Inneren passte, und ergriff kurz die Hand seiner Mutter.

»Mach dir keine Sorgen, Ma, es ist vermutlich nichts weiter. Wahrscheinlich will er mir nur sagen, dass ich morgen doch nicht freibekomme, weil sie wieder zu wenige Leute haben. Ich bin im Nullkommanichts wieder da, du wirst schon sehen.« An ihrem Gesichtsausdruck konnte Arbon ablesen, dass sie seine zur Schau gestellte Zuversicht nicht teilte, doch die Gegenwart der Soldaten hatte sie offenbar so sehr eingeschüchtert, dass sie es nicht wagte, ihre Sorge offen auszusprechen. Also nickte sie nur tapfer und hielt seine Hand so fest, dass es beinahe schmerzte. Arbon küsste sie noch einmal auf die Stirn, dann machte er sich von seiner Mutter los und folgte den beiden Soldaten hinaus in die Nacht.

Die Wachen nahmen ihn zwischen sich, wobei der Größere von ihnen voranging, während sich der andere hinter Arbon hielt. So sah Arbon, als er sich noch einmal umdrehte, nur das mürrische bärtige Gesicht des Soldaten hinter sich, der ihn anschnauzte, nicht zu trödeln. Doch da er die Haustür nicht zufallen hörte, war sich Arbon sicher, dass seine Mutter ihnen nachstarrte und wohl in der Tür stehen bleiben würde, bis er unversehrt zurückkam. So war es auch gewesen, als sein Bruder Ian vor einem Jahr zum Dienst in einem besonders einsturzgefährdeten Bereich der Schachtanlage eingeteilt worden war. Ihre Mutter war den ganzen Tag beinahe im Minutentakt zur Tür gelaufen, um nach Ian Ausschau zu halten, und hatte sich nicht einmal von den lauten Protesten ihres Vaters davon abhalten lassen, der sich sein Abendessen an diesem Tag selbst hatte zubereiten müssen.

Die Soldaten führten ihn nach Westen, die große Straße entlang, die hinab zur Mine führte.

»Wollt ihr mir jetzt vielleicht sagen, was der Vorsteher von mir will?«, fragte Arbon erneut in leicht rebellischem Ton.

»Das geht dich einen feuchten Scheißdreck an!«, erwiderte der Soldat hinter ihm barsch. »Und jetzt halt die Schnauze!«

Arbon seufzte und trottete weiter den Weg entlang. Aus diesen Kerlen würden keine Antworten herauszubringen sein, also konnte er nichts weiter tun, als sich selbst den Kopf darüber zu zerbrechen, warum Vekilon ihn noch einmal zu sich rufen ließ. Unwillkürlich wanderte seine Hand in seine Hosentasche und schloss sich um den Kristall, der noch immer warm war und noch immer leicht pulsierte. Arbon war dankbar dafür, dass seine Hose aus einem derart dicken Stoff genäht war, dass die Soldaten das Licht, das der Kristall zweifellos noch immer ausstrahlte, nicht bemerkten.

Die Wärme des Kristalls beruhigte ihn etwas, doch sie verstärkte auch das beklemmende Gefühl, dass Vekilon irgendwie von ihm erfahren hatte. Doch wie hätte das geschehen sollen? Außer ihm hatte nur Escon die wundersame Höhle gesehen und Escon hatte nicht sehen können, dass Arbon einen Kristall für sich selbst mitgenommen hatte. Und selbst wenn doch, war sich Arbon absolut sicher, dass sein Freund ihn niemals verraten würde. Konnte Vekilon auf anderem Wege von Arbons Geheimnis erfahren haben? Aber wie? Eines war sicher: Wenn der Vorsteher wusste, dass Arbon unerlaubterweise etwas aus der Mine an die Oberfläche gebracht hatte, würde die Strafe schrecklich sein. In besonders kalten Wintern geschah es hin und wieder, dass Bergleute ein klein wenig Kohle aus dem Bergwerk herausschmuggelten. Wurden sie erwischt, lag die Strafe bei dreißig Peitschenhieben. In besonders schweren Fällen wurden Arbeiter für ihre Tat sogar hingerichtet. Der Minenfürst duldete nicht, dass man ihn bestahl. Immerhin fußten seine gesamte Macht und sein gesamter Reichtum auf der Kohle, die sie hier förderten. Welche Strafe würde Arbon wohl blühen, wenn herauskam, dass er etwas aus der Mine gestohlen hatte, das viel seltener und viel wundersamer war als ein Stück Kohle? Arbon spürte, wie ihm die Knie weich wurden. In was war er da hineingeraten?

Arbons Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ihm etwas auffiel. Gerade waren sie nach Süden abgebogen. Die Soldaten führten ihn nicht zum Minengebäude, in welchem sich auch das Büro des Vorstehers befand, sondern gingen nun die Straße entlang, die an den äußeren Junggesellenhäusern entlangführte. Brachte man ihn etwa aus der Stadt heraus?

»Was soll das? Wohin …?«

»Schnauze!« Hart traf ihn der Stab des Soldaten hinter ihm in den Rücken. Arbon keuchte vor Schmerz auf und taumelte nach vorn. Beinahe wäre er gestürzt, doch er schaffte es gerade noch, sich an einer Hauswand abzustützen. Als er nicht gleich weiterging, brachte ihm dies einen schmerzhaften Schlag zwischen die Schulterblätter ein.

»Bewegung!«, blaffte es von hinten und Arbon taumelte vorwärts, wobei ihm vor Schmerz Tränen in den Augen standen.

Die Männer führten ihn weiter die Straße entlang – vorbei an den Junggesellenhäusern und den wenigen kleinen Werkstätten, die es am Stadtrand noch gab. Bald verschwanden die letzten Häuser hinter ihnen und karges Buschwerk säumte die Straße. Sie hatten Brasmijn tatsächlich verlassen, was Arbon seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Die Straße wand sich einen der sanften Hügel hinauf, von denen die Landschaft in Bryn geprägt war. Der Mond schien hell am Himmel, daher fiel Arbon erst jetzt auf, dass seine Begleiter keine Fackeln entzündet hatten. Es verstärkte allerdings seine ohnehin schon beträchtliche Unruhe.

Auf der Straße kamen sie schnell voran. Die Vasgali hatten die Straßen in Bryn gebaut und sorgten akribisch für ihre Instandhaltung. Die hellen Steine fügten sich nahtlos aneinander und ermöglichten es Reisenden und vor allem den Karren der Handelsgilde, problemlos zwischen den Städten hin- und herzureisen. Soweit Arbon wusste, war das gesamte Herrschaftsgebiet der Republik von solchen Straßen durchzogen. Die Vegetation hier draußen bestand hauptsächlich aus Sträuchern und einigen wenigen Bäumen, die alle längst ihre Blätter verloren hatten, was der Landschaft einen recht trostlosen Anblick verlieh.

Sie erreichten den Kamm des Hügels und Arbon betrachtete die mondbeschienene Ebene unter ihnen. Hier war noch bis vor etwa einhundert Jahren Landwirtschaft betrieben worden. Arbon wusste nicht, was genau geschehen war, doch beinahe sämtliche Farmen in Bryn hatten aufgegeben werden müssen. Nur in den Grenzländern im Norden gab es angeblich noch kleinere Gehöfte. Arbon erinnerte sich, dass er und Escon, als sie beide noch Kinder gewesen waren, öfter in der zerfallenen Scheune herumgelungert hatten, die man im hellen Mondlicht gerade noch so in der Ferne erkennen konnte.

Arbon wollte fragen, wie weit sie noch gehen würden, doch er war sich sicher, dass die Antwort nur ein weiterer Hieb zwischen die Schultern sein würde, und darauf konnte er getrost verzichten.

Die Soldaten führten ihn schweigend ins Tal hinab. Zwischen dornigen Sträuchern ragten hin und wieder alte Holzbalken hervor. Arbon vermutete, dass hier früher Zäune gestanden hatten, um die Felder zu begrenzen. Nun ragten sie faulig und morsch aus dem Gestrüpp hervor, wie die Knochen irgendeines riesigen Kadavers.

Sie durchquerten das kleine Tal und bald kam die alte Scheune in Sicht, die Arbon vom Hügelkamm aus hatte sehen können. Tatsächlich schienen die Soldaten darauf zuzuhalten, denn mit einem beiläufigen Stoß in die Rippen gab ihm der Soldat hinter ihm zu verstehen, von der Straße abzugehen und sich in Richtung Scheune zu bewegen.

Beklommen sah Arbon zu dem Gebäude auf, das einige Meter über ihnen auf einer kleinen Anhöhe thronte. Es wirkte deutlich kleiner, als er es in Erinnerung hatte, doch es kam ihm um einiges bedrohlicher vor als noch in seiner Kindheit. Damals war es einfach nur ein uralter, verfallener Haufen Bretter gewesen, in dem Escon und er gespielt oder einfach nur die Zeit totgeschlagen hatten. Jetzt, da er von zwei fürstlichen Wachen wie ein Verbrecher eskortiert wurde und völlig im Unklaren darüber war, was er hier sollte, kam das verfallene Scheunentor ihm vor wie das gierige Maul einer gefräßigen Bestie.

Kalter Schweiß rann Arbon den Rücken hinab, als die Soldaten ihn unsanft in die Scheune hineinstießen. Was war hier nur los? Arbon war sich inzwischen absolut sicher, dass hier nicht der Vorsteher auf ihn wartete. Etwas anderes ging hier vor und was immer es war, es würde nicht gut für ihn ausgehen, da war sich Arbon sicher.

Die Scheune war im Inneren nicht weniger verfallen als von außen. Das Stroh, das es hier einmal gegeben haben mochte, war längst verschwunden. Die Holzbalken schimmerten feucht, an vielen Stellen klafften große Löcher in den Wänden und das Dach fehlte gänzlich. Silbernes Mondlicht fiel in den uralten Bau und beleuchtete die Unmengen an teilweise zerbrochenen und zerfressenen Holzkisten, die hier gestapelt waren.

»Beim Stein, wo sind sie?«, fluchte einer der Soldaten und spuckte aus. »Sie hätten schon längst hier sein müssen!« Der Mann schaute seinen Kameraden an, der aber nur mit den Schultern zuckte.

»Vielleicht haben sie sie schon weggebracht?«, sagte er etwas gedehnt.

»Du kennst die Anweisung seiner Exzellenz!«, entgegnete sein Kumpan. »Wir schaffen alle drei zusammen weg. Je weniger hier draußen herumgelaufen wird, desto besser.«

Arbon merkte erneut, wie ihm die Knie weich wurden.

»Wen wollt ihr wohin …?« Der Handrücken traf ihn brutal ins Gesicht. Hart schlug Arbon auf dem Boden auf. In seinem Kopf dröhnte es und die Welt verschwamm vor seinen Augen.

»Ich hab’ dir gesagt, du sollst die Schnauze halten!«, keifte der Soldat, der ihn geschlagen hatte.

Arbon stützte sich mit den Armen auf und spuckte Blut. Offenbar hatte er sich, als der Mistkerl ihn geschlagen hatte, auf die Zunge gebissen. Zumindest schien er keinen Zahn verloren zu haben.

Sein Blick klärte sich und er sah nach oben. Die beiden Soldaten berieten sich, doch wegen des Dröhnens in seinen Ohren konnte er nicht verstehen, was sie sagten. Er schüttelte den Kopf und langsam nahm er seine Umgebung wieder besser wahr.

»… ich sage, wir erledigen den Kerl und warten auf die anderen«, hörte er den Soldaten reden, der ihn geschlagen hatte. »Die kommen schon noch.«

Arbon brach der Schweiß in Strömen aus. Die wollten ihn tatsächlich umbringen! Er verstand die Welt nicht mehr; nichts ergab einen Sinn. Er wollte etwas sagen, wollte schreien, die Soldaten fragen, was hier gespielt wurde, doch er brachte keinen Ton heraus. Man hatte ihn hierhergeführt, aus der Stadt heraus, um ihn klammheimlich abzustechen. Er würde hier sterben! Dieser Gedanke löschte alles andere in ihm aus. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht sprechen, nicht einmal atmen.

Plötzlich waren Geräusche von draußen zu hören. Es klang wie lautes Keuchen. Im nächsten Moment flog etwas in die Scheune und landete wenige Schritt von Arbon entfernt auf dem Boden. Es war ein Mensch, ein Mann, der Statur nach, wenn auch etwas dürr. Als er das Gesicht zu Arbon umdrehte, hätte dieser Escon fast nicht erkannt, so zerschlagen war es.

»Na endlich!«, hörte er einen der Soldaten rufen, als zwei andere Männer im Waffenrock der fürstlichen Wache in die Scheune traten.

»Wo, bei Mjantyrs steinernen Eiern, habt ihr gesteckt? Ihr hättet lange vor uns hier sein sollen!«

»Hat leider etwas gedauert«, antwortete einer der Neuankömmlinge. »Der Drecksack wollte auf halber Strecke ’nen kleinen Ausflug machen!« Bei diesen Worten trat er Escon heftig zwischen die Rippen. Escon stöhnte vor Schmerz auf und krümmte sich am Boden zusammen. »Hat ’ne Weile gedauert, ihn wiedereinzufangen – ist ’n verdammt flinkes Kerlchen. Aber zwei Jungs von der Stadtwache haben ihn flitzen sehen und ihn für uns geschnappt. Das kleine Wiesel rennt so schnell jedenfalls nirgendwo mehr hin. Nicht wahr, Arschloch?« Wieder trat er hart zu und traf Escon dieses Mal in die Magengrube.

Arbon wollte etwas tun, wollte seinem Freund helfen, doch seine Beine versagten ihm noch immer den Dienst. Hilflos sah er zu Escon, der Arbons Gegenwart noch nicht bemerkt zu haben schien. Sein rechtes Auge war gänzlich zugeschwollen, er blutete aus einer Platzwunde an der Stirn und seine Nase schien gebrochen zu sein.

Brennende Scham erfasste Arbon, als er seinen Freund derart zerschlagen dort liegen sah. All das war seine Schuld! Hätten sie einfach nur Necon gerettet, wäre alles in Ordnung gewesen. Man hätte sie zum ersten Mal mit Respekt behandelt. Möglicherweise wären sie sogar zur Belohnung zu den Schlägern versetzt worden. Arbon schien es unglaublich, dass ihm eine Zukunft als Schläger vor einigen Stunden noch als wenig erstrebenswert erschienen war. Nun sah es so aus, als gäbe es für Escon und ihn überhaupt keine Zukunft mehr. Arbon begriff noch immer nicht, wie die Dinge sich derart in die falsche Richtung hatten entwickeln können, doch es musste mit der Kristallhöhle zusammenhängen – eine andere Erklärung gab es nicht. Hätte Arbon nicht darauf bestanden, die Ursache für das seltsame blaue Licht zu ergründen, oder hätte er dem Vorsteher nie von seiner Entdeckung berichtet, dann wäre es nie so weit gekommen.

»Na, dann bringen wir es mal hinter uns!«, hörte er plötzlich den Soldaten sagen, der hinter ihm gelaufen war. Der Mann drehte sich zu Arbon um und zog das Schwert. Blank und kalt fuhr die Klinge aus der Scheide. Das Mondlicht spiegelte sich darin und Arbon war, als habe er noch nie etwas Schrecklicheres gesehen.

Panisch kroch Arbon rückwärts. Er wollte hier nicht sterben! Das alles konnte nicht wahr sein! Er lag noch immer in seinem Bett. Dies musste der Traum sein, der ihn schon seit Wochen plagte. Er würde aufwachen und sich an nichts erinnern können, außer an das panische Gefühl, in der Falle zu sitzen.

Doch wenn all dies nur ein Traum war, dann war jetzt der Zeitpunkt, um aufzuwachen. Der Soldat schritt mit entschlossener Miene auf ihn zu. Nicht imstande, den Blick abzuwenden, kroch Arbon weiter rückwärts, bis er an die Wand hinter sich stieß. Der Wachmann hob langsam das Schwert. Aus dem Augenwinkel sah Arbon, wie ein anderer Soldat mit blanker Klinge auf Escon zumarschierte.

Aufwachen!, schrie er in Gedanken. Doch nichts geschah. Dies war kein Traum. Dies war die Wirklichkeit!

Arbon wollte die Hände heben, in einem verzweifelten Versuch, die Klinge abzufangen, als etwas Seltsames geschah. Sein rechter Arm schien sich von selbst zu bewegen. Er hob sich und wies mit der Hand in Richtung des Soldaten, der mit erhobenem Schwert vor ihm stand. Gerade noch realisierte Arbon zu seiner größten Verwunderung, dass er den Kristall in der Hand hielt, als ein blauer Blitz daraus hervorbrach und dem Soldaten über ihm mitten ins Gesicht fuhr.

Ungläubig sah Arbon den Mann zusammenbrechen. Schreiend hielt dieser sich die Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern quoll Rauch hervor und ein Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich in der Scheune aus.

Der Soldat, der über Escon gestanden hatte, fuhr herum.

»Was zum …!«, brachte er noch heraus, als ein weiterer Blitz aus dem Kristall fuhr und in seine Brust einschlug. Der Mann schlug mit qualmender Brust auf dem Boden auf und rührte sich nicht mehr.

Entsetzt starrte Arbon seine ausgestreckte Hand an, die den Kristall hielt. Dieser glühte so hell, wie Arbon es bisher nicht gesehen hatte, und das Pulsieren, das von ihm ausging, brachte seinen Arm zum Zittern, so heftig war es.

Arbon konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Das Schreien des Soldaten, der ins Gesicht getroffen worden war, ging in ein leises Röcheln über. Die beiden verbliebenen Soldaten starrten aus angstvoll aufgerissenen Augen auf ihre niedergestreckten Kameraden. Genau wie Arbon versuchten wohl auch sie zu ergründen, was hier gerade geschehen war. Für einige Augenblicke herrschte beinahe völlige Stille in der Scheune, unterbrochen nur vom langsam ersterbenden Röcheln des noch lebenden Soldaten am Boden. Arbons Blick glitt zu Escon, der noch immer auf dem Boden kauerte und verstört auf den Mann starrte, der ihn mit dem Schwert hatte erschlagen wollen und nun tot und mit einem rauchenden Loch in der Brust daniederlag.

Arbon wollte schreien, wollte aufspringen und einfach nur noch laufen, bis er diesen Albtraum, zu dem sein Leben an diesem Abend geworden war, hinter sich lassen konnte. Doch er würde Escon nicht hierlassen!

Gerade als die beiden Wachmänner nach ihren Schwertern griffen, schienen auch Arbons Gliedmaßen ihm wieder zu gehorchen. Mit zitternden Beinen erhob er sich und streckte den Soldaten den noch immer leuchtenden Kristall wie eine Waffe entgegen. Furchtsam hielten die Männer in ihrer Bewegung inne. Sie fixierten den Kristall mit ängstlichen Blicken und rückten an die Wand zurück.

Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, ging Arbon langsam auf Escon zu, beugte sich zu ihm hinab und packte ihn am Kragen seines Leinenhemdes. »Hoch mit dir!«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Wir verschwinden, komm schon!«

Arbon zog seinen Freund auf die Beine und versuchte ihn mit einer Hand aufrecht zu halten, während er mit der anderen noch immer die verstörten Soldaten bedrohte. Er zog Escon rückwärtsgehend mit sich und steuerte dabei auf den Ausgang der Scheune zu.

»Wenn ihr uns folgt, ergeht’s euch wie euren Kumpels da unten, verstanden?«, rief er drohend, dann verschwanden Escon und er hinaus in die Dunkelheit.

Die kalte Nachtluft umfing sie, als sie aus der Scheune stürzten. Escon wurde scheinbar wieder etwas klarer im Kopf, denn als Arbon losstürmte, hielt er ihn am Arm fest und zog ihn in die entgegengesetzte Richtung.

»Nicht zur Straße!«, krächzte er. »Da suchen sie uns zuerst. Hier lang!« Er stürzte links an der Scheune vorbei nach Norden und Arbon folgte ihm. So schnell sie konnten rannten sie über das feuchte Gras. Zu ihrem Glück schien der Mond noch immer hell, sodass sie zumindest sehen konnten, wo sie hintraten. Die hügelige Landschaft zehrte bald stark an ihren Kräften, doch sie erlaubten sich nicht, auch nur einen Moment innezuhalten. Sie mussten so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese verfluchte Scheune bringen!

Die Welt war verrückt geworden, da gab es keinen Zweifel. Sie mussten fort von diesem Wahnsinn, mussten sich verstecken, irgendwo ausharren, bis wieder Vernunft eingekehrt war – bis wieder alles so war, wie es sein sollte.

***

Varisur parierte den Schlag mit seinem Schwert, lenkte die Axt seines Gegners beiseite und stach zu. Seine Klinge drang tief in die blanke Brust des Aak. Der junge Krieger brach unter Schmerzen zusammen und Varisur ließ ihn hinter sich. Er musste weiter! Überall um ihn herum wurde gekämpft, es herrschte der blanke Wahnsinn. Überall lagen Leichen und die Luft war erfüllt von Kampflärm und dem Geschrei von Menschen, die Todesqualen litten.

Die Kämpfe waren so schnell ausgebrochen, dass Varisur nichts mehr hatte tun können, um die Situation noch unter Kontrolle zu bringen. Tenakard war ermordet worden und Eitur hatte die Aak öffentlich verantwortlich gemacht. Deren Hüter Kammarda war vor wenigen Minuten gefallen und damit war es endgültig unmöglich geworden, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Was Varisur blieb, war, Tenakards letzten Wunsch zu erfüllen!

Er rannte den Gang entlang und wehrte dabei einige ungezielte Schläge in seine Richtung mit der Klinge ab. Plötzlich stürzte ein wild schreiender Krieger auf ihn zu und schwang dabei etwas, das wie ein Fleischerbeil aussah. Die Aak waren in der Tat verrückt, dachte Varisur noch, da hatte ihn der Krieger auch schon erreicht. Er zielte mit seinem Beil wild brüllend nach Varisurs Kopf, der dem Hieb mit einem Ausfallschritt zur Seite auswich. Er schwang sein Schwert von unten seitlich nach oben und fügte dem Aak einen langen, tiefen Schnitt quer über den Oberkörper zu. Genauso gut hätte er ihn aber auch mit einer Gänsekeule schlagen können, denn der Krieger schien die Wunde kaum zu spüren.

Ohne innezuhalten wirbelte der Krieger herum und deckte Varisur mit schnellen Schlägen ein, wobei er unaufhörlich und zähnefletschend brüllte. Varisur wehrte seine Hiebe so gut er konnte ab, doch als er einen Schritt nach hinten machte, stolperte er über etwas Weiches und stürzte rücklings zu Boden. Der Aak sprang über den toten Körper, über den Varisur gestürzt war, hinweg und schlug zu. Im letzten Moment drehte Varisur den Kopf zur Seite und das Beil prallte mit lautem Klirren auf den Boden. Geistesgegenwärtig trat Varisur dem Aak mit Wucht zwischen die Beine. Vor Schmerzen keuchend zuckte dieser zusammen. Varisur nutzte diesen Moment und stach mit dem Schwert zu. Er trieb seine Klinge zwischen die Rippen des Aak und durchbohrte dessen Lunge.

Während der Aak blutspuckend zusammenbrach, sprang Varisur wieder auf die Beine und rannte weiter. Er erreichte eine der mittleren Hauptgruppen, die hinauf in den alten Königsflügel führten. Tenakards Residenz.

Varisur wusste, dass ein Dutzend Krieger aus Tenakards persönlicher Garde während des Festes in seinen Räumlichkeiten verblieben war. Und er betete zu Elvúr und Udún, dass sie ihre Posten nicht verlassen hatten.

Er erreichte den Königsflügel und es war, als wäre er in eine andere Welt eingetaucht. Der Kampflärm und das Chaos der unteren Ebenen waren hier nur ein unbestimmtes Rauschen im Hintergrund. Jemand, der nicht wusste, was vor sich ging, mochte annehmen, dass das Fest in seine ausschweifende Phase eingetreten war. Mit Verwunderung und wachsender Sorge bemerkte Varisur jedoch, dass der Gang vor ihm völlig ausgestorben war. Normalerweise hätte er längst von einem Wachposten aufgehalten werden müssen, doch es war niemand zu sehen.

Angespannt und den Blick zu allen Seiten richtend schritt Varisur den Flur entlang, dessen raue Wände mit Fackeln behängt waren. Deren flackerndes Licht fiel auf die ausgestopften Raubtiere, die in regelmäßigen Abständen zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt waren. Varisur passierte einen riesigen Eisbären. Das Tier ragte über acht Fuß über dem Boden auf und war von Tenakard persönlich erlegt worden, lange bevor dieser zum Kriegsführer ernannt worden war.

Dies war freilich in einem anderen Leben gewesen. Heute war Tenakard tot und Varisur auf dem Weg, seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er würde Lumiana, Tenakards Tochter, in Sicherheit bringen!

Doch je weiter er in den Wohnflügel des Kriegsführers vordrang, desto stärker wurde die Sorge in ihm. Wo waren die Wachen? Wieso ließ man ihn in den Flügel eindringen, ohne ihn aufzuhalten? Konnte das Undenkbare etwa bereits geschehen sein? Nein, dachte Varisur. Die Aak wären nicht an Tenakards Leibwache vorbeigekommen. Zumindest nicht, ohne massive Verluste zu erleiden. Und für einen Kampf gab es keinerlei Spuren. Keine Leichen. Kein Blut.

Varisur erreichte die Tür zu Tenakards Schlafgemach. Sie war verschlossen und kein Laut drang aus dem Zimmer. Mit klopfendem Herzen öffnete er die Tür und trat ein – und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Überall im Raum lagen Leichen. Die Körper lagen flach auf dem Boden, über die Möbel gestürzt oder an der Wand heruntergesackt, als wären sie dagegengeschleudert worden. Varisur zählte zwölf Männer, allesamt Krieger aus Tenakards Leibwache. Ihnen allen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Und es stank bestialisch nach verbranntem Fleisch.

Fassungslos betrachtete Varisur die toten Körper. Keiner von ihnen schien durch ein Schwert oder eine Axt verletzt worden zu sein. Auch gab es keine Aak unter den Toten. Varisur bemerkte jedoch, dass sie alle schwere Brandwunden aufwiesen. Einige von ihnen waren an der Brust verbrannt worden, andere im Gesicht. Kein Einziger hatte seine Waffe gezogen und es schien auch keinen Kampf gegeben zu haben. Nicht die Aak hatten diese Krieger getötet, da war sich Varisur absolut sicher.

»Lumiana!«, rief er, doch niemand antwortete. Varisurs Herz schlug schneller. Mit beklemmender Sorge suchte er das große Zimmer ab. Tenakards Schlafgemach war schlicht eingerichtet. Andere Jagdführer statteten ihre Räumlichkeiten häufig mit Trophäen aus, hängten Köpfe der von ihnen getöteten Raubtiere an die Wand oder stellten die erbeuteten Waffen geschlagener Gegner zur Schau. Tenakard hatte all dieses Gehabe niemals für nötig befunden. An der linken Wand seines Schlafgemachs standen sein mit Fellen bedecktes Bett, eine schlichte Kleidertruhe und daneben ein Rüstungsständer. An der Wand gegenüber gab es eine Feuerstelle und und einige Schritt davon entfernt befand sich das Bett von Tenakards Tochter.

»Lumiana!«, rief Varisur erneut. »Ich bin es, Varisur! Hab keine Angst, niemand wird dir etwas tun!« Doch seinen Worten folgte nur eisige Stille. Varisur eilte zu Lumianas Bett und schaute darunter. Doch niemand versteckte sich hier. Er stürzte zu Tenakards Bett hinüber, doch auch dort fand er nichts. Er riss die Kleidertruhe auf – nichts! Eine kleine Tür an der hinteren Wand führte zum Abort. Varisur stieß sie auf, doch auch hier fand er die Kleine nicht.

Verzweifelt rannte er zurück in das Schlafgemach. Sie war nicht hier! War sie fortgelaufen, als die Wachen angegriffen worden waren? Hatte, wer immer hierfür verantwortlich war, die Kleine entführt? Für die Aak wäre Tenakards Tochter sicherlich eine wertvolle Geisel. Doch die Aak hätten sich ihren Weg bis hierher mit einem gewaltigen Blutzoll erkaufen müssen. Die Wachen hätten sie niemals kampflos bis in Tenakards Gemächer vordringen lassen. Selbst als sie noch Alliierte gewesen waren, wären sie nicht zu Lumiana gelangt.

Varisur beugte sich zu einem der Toten hinunter und nahm ihn genauer in Augenschein. Es war Herebran, einer der jüngeren Mitglieder von Tenakards Leibwache. Er war erst im letzten Winter in diese Position berufen worden, als er die Klinge eines Legionärs pariert hatte, die dem Kriegsführer andernfalls ins Herz gestoßen worden wäre. Herebran hätte die Tochter seines Herrn bis zum Tod verteidigt, doch auch er hatte seine Waffe nicht gezogen.

Varisur betrachtete das Gesicht des jungen Mannes. Er hatte den Bart immer etwas kürzer getragen als die meisten Krieger und stets behauptet, er tue dies deshalb, da andere Dinge an ihm so lang seien und er die Frauen gern in die Irre führe.

Herebran hatte eine Rüstung aus Pelz und Leder getragen. Auf Höhe seines Herzens war ein etwa handtellergroßes Brandloch zu sehen. Darunter erkannte Varisur schwarz verbranntes Fleisch. Er fuhr mit der Hand in das Brandloch und ertastete die Wunde. Die Haut und das Fleisch darunter waren hart und krustig, wie das eines Ochsen, der zu lange auf dem Feuer geröstet worden war. Doch was auch immer Herebran getötet hatte, es hatte keine tiefe Wunde geschlagen. Keine Klinge war in seine Brust gestoßen worden, kein Pfeil hatte seinen Harnisch durchbohrt. Das Fleisch über seinem Herzen war verbrannt, ansonsten jedoch unversehrt.

Varisur erhob sich und untersuchte flüchtig einige der anderen Leichen. Auch bei ihnen schien nichts die Haut durchstoßen zu haben; sie alle hatten lediglich schwere Brandwunden davongetragen. Doch diese hätten die Männer eigentlich nicht töten dürfen! Was, bei den Göttern, war hier nur geschehen?

Der Kampflärm, der von unten heraufhallte, wurde lauter. Vermutlich näherten sich die Kämpfe dem königlichen Flügel.

Varisur erhob sich, das Schwert noch immer in den Händen. Sollte er diesen Wahnsinn überleben, würde er alles daransetzen, Antworten zu finden!

***

Sie rannten und rannten – Arbon konnte unmöglich sagen, wie lange schon. Er blendete die Welt um sich herum völlig aus. Wie durch einen engen Felsspalt sah er nur noch das mondbeschienene Gras vor sich. Er hörte nur sein und Escons angestrengtes Keuchen, spürte nur die stumpfen Erschütterungen seiner Füße. Er erlaubte sich an nichts anderes zu denken als daran, weiter so schnell er konnte einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie mussten weiterkommen, dann würde alles wieder gut werden. Weiter, immer nur weiter!

»Da!«, hörte er plötzlich Escon neben sich rufen. »Dahin!« Arbon war derart erschrocken, eine laute Stimme zu hören, dass er beinahe gestrauchelt wäre. Keiner von ihnen hatte seit Beginn ihrer Flucht auch nur ein Wort gesagt. Sie hatten sich ihren Atem fürs Laufen aufgespart. Nun zwang er sich, den Blick zu heben und weiter nach vorn zu schauen.

Sie hatten gerade den Kamm eines größeren Hügels erreicht und schauten hinab auf eine weite Ebene. Das Buschwerk wuchs hier ungemein dicht und würde ihr Vorankommen noch weiter erschweren. Doch Escons Ausruf hatte dem gegolten, was er jenseits dieser Ebene entdeckt hatte. Einige hundert Fuß von ihnen entfernt erstreckten sich Unmengen an Bäumen. Diese standen so dicht, dass das Mondlicht nicht zwischen ihren Ästen und Blättern hindurchdrang. Jenseits der ersten Baumreihen sah es so aus, als wüchse eine riesige schwarze Wand vor ihnen aus der Erde.

Arbon und Escon mobilisierten ihre letzten Kräfte und hielten auf die Bäume zu. Die Sträucher, durch die sie sich zunächst zu kämpfen hatten, erwiesen sich als dorniges Gestrüpp, das ihnen die Kleider aufriss und blutige Kratzer auf ihren Beinen hinterließ. Mühsam kämpften sie sich vorwärts, versuchten sich so gut es ging zwischen den dickeren Dornenranken hindurchzuschlängeln und konnten es doch nicht verhindern, dass ihre Schienbeine und Oberschenkel arg in Mitleidenschaft gezogen wurden. Es schien ewig zu dauern, doch langsam kamen sie dem Waldrand näher. Schließlich gingen die niedrigen Dornenbüsche in größere Sträucher über, die weiter auseinanderstanden und keine Dornen hatten.

Und dann endlich hatten sie den Waldrand erreicht. Riesige Äste sprossen zu allen Seiten aus den dicken und knorrigen Stämmen. Zu dieser Jahreszeit waren sie bereits völlig ohne Blätter und ihre dünnen Zweige schienen sich wie knöcherne Finger nach ihnen auszustrecken.

Arbon ließ die erste Baumreihe hinter sich, dann brach er über einem umgestürzten Baumstamm zusammen und übergab sich augenblicklich. Seine Kleidung klebte ihm schweißnass am Körper, seine Lungen brannten und er war völlig am Ende seiner Kräfte. Escon ließ sich neben ihm zu Boden fallen und Arbon drehte sich mit zitternden Gliedmaßen zu ihm um. Sein Freund hatte die Augen geschlossen und die Stirn gegen den umgestürzten Stamm gelehnt. Escons Leinenhemd war am unteren Saum völlig zerrissen, dasselbe galt für seine Hose. Arbon sah an sich hinab und erkannte, dass auch seine Kleidung mehr oder weniger in Fetzen hing, obschon er zumindest seinen dünnen Mantel trug, der sein Hemd vor größerem Schaden bewahrt hatte.

Arbons Hand glitt in seine Hosentasche und holte den blauen Kristall hervor. Sein Licht war vollkommen erloschen und von seinem steten Pulsieren war nicht mehr das Geringste zu spüren. Der Kristall wirkte wie tot.

»Gott im Stein …«, erklang Escons matte Stimme neben ihm. Er hatte sich inzwischen umgedreht und starrte mit glasigem Blick zu den Sternen hinauf, die zwischen den Ästen hindurchschimmerten. »Die Bastarde wollten uns tatsächlich umbringen, oder?«, fragte er und schaute Arbon ungläubig an. Arbon, der selbst noch immer kaum glauben konnte, dass dies alles tatsächlich geschehen war, nickte.

»Die wollten uns umbringen«, bestätigte er. »Die waren drauf und dran, uns abzustechen.«

Escon sackte zurück und starrte wieder zu den Sternen hinauf. »Scheiße!«, hauchte er noch einmal und Arbon fiel nichts ein, was er darauf hätte erwidern sollen.

Eine Weile lang schwiegen sie beide. Arbon lauschte den Geräuschen um sie herum. Die Bäume knarzten und hin und wieder konnte Arbon das Gerschel sich bewegender Tiere hören – zumindest hoffte er, dass es Tiere waren. Normalerweise hätte er sich wohl gefürchtet, doch in seinem Kopf war für Derartiges kein Platz mehr. Er fühlte sich zerschlagen und leer. Wenn er die Augen schloss, sah er die Ereignisse der vergangenen Stunden immer und immer wieder vor sich. Sah, wie der Soldat sein Schwert zog. Wie sich das Mondlicht in der Klinge spiegelte. Er sah, wie der Soldat auf ihn zuging. Sah die mitleidlose Entschlossenheit auf seinem Gesicht. Und wie dieses Gesicht im grellen Licht des blauen Blitzes verschwand. Wie der Qualm zwischen den Fingern des Mannes hervorquoll. Ihm war, als könnte er die Schreie wieder in seinen Ohren hören. Als würde ihm der Gestank nach verbranntem Fleisch wieder in die Nase steigen.

Die Übelkeit überwältigte ihn und er musste sich erneut übergeben. Ermattet lehnte er sich danach wieder zurück. Der bittere Geschmack von Magensäure füllte seinen Mund, doch er hatte nicht mehr die Kraft, sich ernstlich daran zu stören.

»Wir müssen zurück«, hörte er Escon plötzlich sagen. Verständnislos drehte Arbon den Kopf zu seinem Freund.

»Wohin?«, fragte er verwirrt.

»Nach Brasmijn!«, entgegnete Escon gereizt. »Wohin sonst? Wir müssen zurück und die Sache klären! Das alles kann doch nur ein riesiges Missverständnis sein. Wir kehren zurück, klären alles auf und gehen wieder zur Arbeit. Dann wird wieder alles wie zuvor!«

Escon sah ihn mit verzweifelter Zuversicht an. Arbon erkannte, dass Escon sich an diesem Gedanken festhalten wollte – doch er war völlig absurd.

»Bist du verrückt?«, fragte Arbon entgeistert. »Die wollten uns umbringen! Das waren nicht irgendwelche Schläger; das war die fürstliche Wache, verdammt noch mal! Glaubst du, die haben sich einfach nur vertan? Glaubst du, die hätten eigentlich jemand anderes abstechen sollen?«

»Was weiß denn ich?«, rief Escon aufgebracht und sprang auf die Füße. »Warum sollte der Fürst uns tot sehen wollen? Was kümmern Bras zwei kleine Schütter? Das ist doch alles vollkommener Schwachsinn!«

»Die Höhle, kapierst du’s nicht?«, entgegnete Arbon wütend. Die Tatsache, dass Escon das Offensichtliche nicht erkennen wollte, ärgerte ihn. »Die Kristallhöhle im eingestürzten Streb! Du hast sie doch mit eigenen Augen gesehen!« Verzweifelt raufte sich Arbon die Haare. »Keine Ahnung warum, aber der Fürst will uns umbringen, weil wir die Höhle gefunden haben. Vielleicht will er geheim halten, dass es sie gibt. Vielleicht … Vielleicht will er die Kristalle verkaufen, ohne sich mit der Handelsgilde abmühen zu müssen. Dann dürfte natürlich keiner davon wissen, oder?«

Ja, so musste es sein, dachte Arbon. Warum sonst sollte sich der Minenfürst darum scheren, wer alles von den Kristallen wusste? Niemand würde ihm das Vorkommen streitig machen. Nicht einmal die anderen Minenfürsten könnten dies wagen, ohne sich dem Zorn der Republik auszusetzen. Doch wenn er die Kristalle über offizielle Kanäle verkaufen wollte, ginge das nur mithilfe der Handelsgilde. Und die würde sich ihre Dienste teuer bezahlen lassen.

Mehr und mehr überzeugt von seiner Theorie wandte Arbon sich wieder Escon zu. Doch dieser schaute ihn mit einem seltsamen Blick an.

»Die Soldaten, die uns abstechen wollten – wie hast du sie erledigt? Ich hab’ gesehen, wie der Kerl, der über mir stand, von irgendwas in die Brust getroffen wurde. Von irgendwas, was aus deiner Richtung kam.«

Unsicher wandte Arbon den Blick ab. Wie sollte er es erklären? Er verstand es ja selbst kaum. Würde Escon ihm glauben, wenn er ihm erzählte, dass er eigentlich gar nichts getan hatte? Dass sein Arm sich wie von selbst bewegt hatte? Doch anlügen wollte und konnte er Escon nicht, also würde er die Wahrheit sagen und auf das Beste hoffen.

Langsam öffnete Arbon die Hand und zeigte Escon den Kristall.

»Ich kapier’s nicht. Was ist …?« Escon unterbrach sich und riss die Augen auf. »Das ist … Du hast einen mitgehen lassen?«, rief er ungläubig. »Einen verschissenen Kristall aus der verschissenen Höhle?«

Entgeistert fuhr Escon herum und trat gegen den Baumstamm, an den Arbon lehnte.

»Scheiße!«, schrie er in den Wald hinein, bevor er sich wieder zu Arbon herumdrehte. »Hast du eine verdammte Ahnung, in was für eine Scheiße du uns da geritten hast?«, brüllte er ihn an. »Deswegen sind die hinter uns her! Du hast den Fürsten bestohlen und jetzt will er uns umbringen!«

Arbon wollte Escon widersprechen, wollte ihm klarmachen, dass es nicht seine Schuld war, dass sie beinahe abgestochen worden wären. Doch er konnte sich nicht selbst belügen. Er hatte dieselben Ängste gehabt, als die Wachmänner ihn abgeführt hatten. Doch da hatte er einen Gedanken gehabt, an dem er sich festgeklammert hatte …

»Wie hätte er davon wissen sollen?«, fragte er zögerlich, während er den matten Kristall in seiner Hand betrachtete. »Außer dir war niemand da und nicht mal du hast gesehen, wie ich den Kristall eingesteckt hab. Du bist der Erste, dem ich überhaupt davon erzähle; sonst weiß keiner, dass ich ihn hab.«

Escon schnaufte und warf verärgert die Arme in die Luft.

»Was weiß denn ich, wie er draufgekommen ist?«, rief er. »Vielleicht hat dich jemand mit dem Ding gesehen, als wir aus dem Streb gekrochen sind? Jeder weiß doch, dass Bras seine verdammten Spione überall hat!«

Nun redete Escon Unsinn, befand Arbon und sprang ebenfalls auf die Beine.

»Keiner hat mich damit gesehen!«, rief er nun nicht minder zornig. »Ich hab’ ihn die ganze Zeit in der Tasche gehabt und ihn erst zu Hause wieder rausgeholt, als ich allein war!«

»Du bist schuld an diesem ganzen steinverfluchten Mist und das weißt du auch!«, schrie Escon ihn mit hochrotem Kopf an. Arbon wurde immer wütender. Escon hörte ihm einfach nicht zu!

»Ich hab dir doch gerade erklärt, dass mich niemand mit dem …«

»Du musstest ja unbedingt in die dämliche Höhle klettern!«, schrie Escon ihn an. Beide standen sich nun Nase an Nase gegenüber.

»Woher hätte ich bitte wissen sollen, dass …?«

»Sei still!«, fiel Escon Arbon ins Wort. Jetzt reichte es!

»Komm mir nicht so!«, schrie Arbon. »Ich hab die Schnauze so was von voll von dir und deiner …«

»Sei doch mal still!«, unterbrach ihn Escon erneut. Seine Stimme klang plötzlich nicht mehr zornig, sondern ängstlich.

Arbon wollte Escon gerade lautstark die Meinung geigen, als er es ebenfalls hörte. Ein lautes Rascheln – ganz in ihrer Nähe. Hektisch sah sich Arbon um. In den Geschichten, die er las, waren Wälder oftmals von wilden Bestien und schrecklichen Monstern bewohnt. Sie hätten leiser sein sollen, dachte er.

Das Rascheln hörte plötzlich auf. Arbon hörte nur noch das gelegentliche Knarzen der Bäume. Ängstlich sahen sich Escon und er an. »Ist es weg?«, fragte Escon zaghaft. Arbon antwortete nicht. Er war sich ziemlich sicher, dass das, was immer sich an sie herangeschlichen hatte, nicht verschwunden war. Es war ganz nah und beobachtete sie.

In Arbons Kopf erschienen Bilder von Monstern mit glühenden roten Augen, die nur darauf warteten, ihre langen Fangzähne in sein Fleisch zu schlagen und das Blut aus seinem Körper zu saugen. Erneut brach ihm der Schweiß aus und sein Herz, das sich gerade wieder beruhigt hatte, begann erneut zu rasen.

Langsam drehte er sich auf der Stelle. Sein Blick streifte die kahlen Äste der Bäume um sie herum. Die dünnen Zweige der kleinen und größeren Büsche. Kein Tier zeigte sich. Keine Bestie. Kein Monster. Vielleicht hatte Escon recht. Möglicherweise war es – was immer es war – tatsächlich nicht mehr hier.

Plötzlich ertönte ein lautes Knacken links neben ihm. Panisch fuhr Arbon herum. Etwas Großes sauste auf sein Gesicht zu. Dann versank die Welt in Dunkelheit.

***

»… werden die Nacht nicht überstehen. Verloren haben wir also insgesamt über siebenhundert Krieger«, beendete Elok seinen Bericht. Der alte Hüter der Farkari nahm wieder Platz, wobei er ein leises, schmerzhaftes Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Das Alter setzte ihm sichtlich zu. Varisur massierte sich erschöpft und niedergeschlagen die Stirn. Über siebenhundert Mann! Das Ausmaß dieser Katastrophe war schlimmer, als Varisur es sich hätte vorstellen können. Sie hatten so viele Männer verloren wie noch nie unter Tenakards Kommando.

Ein bitterer Schmerz rann seine Kehle hinab und füllte seine Brust wie Gift. Tenakard würde nie wieder das Kommando führen. Der Kriegsführer – Varisurs Freund – war tot.

Nun saßen sie hier, die Hüter und die Jagdführer der freien Clans des Nordens, und berieten hinter verschlossenen Türen darüber, was jetzt zu geschehen hatte. Das Bündnis mit den Aak war zerbrochen, der Kampf um ihrer aller Freiheit weit zurückgeworfen.

»Elvúr war uns gnädig. Es hätte weitaus schlimmer kommen können.« Ungläubig schaute Varisur auf. Die Worte waren von Kunchas gekommen. Wie Varisur war er ein Jagdführer unter Tenakard gewesen.

»Schlimmer?«, fragte Varisur aufgebracht. »Über siebenhundert Mann tot, darunter einhundertzwanzig Rudelführer und sieben Jagdführer! Tenakard selbst vor aller Augen ermordet, seine Tochter verschwunden – und du willst mir sagen, dass es noch schlimmer hätte kommen können?« Varisur hatte nicht schreien wollen, doch etwas an der Gelassenheit, mit der ihn Kunchas ansah, machte ihn ungemein zornig. Kunchas war mit seinen dreiundzwanzig Wintern jung für einen Jagdführer. Er hatte sich auf diversen Kriegszügen sowohl gegen die Aak als auch später gegen die Vasgali großen Ruhm erworben. Varisur vermutete, dass er jedem Krieger in Tenakards Streitmacht an Kampfkunst überlegen war. Unglücklicherweise hatten ihn seine Erfolge ungemein arrogant gemacht. Kunchas funkelte Varisur über den großen Tisch hinweg an, an dem sie alle saßen. Varisur glaubte, hinter dem gut geölten Bart des jungen Jagdführers ein leichtes Lächeln zu erkennen, doch Kunchas antwortete nichts.

»Der Tod des Kriegsführers ist eine unerträgliche Schande«, erklang die unangenehme Stimme von Hüter Eitur, der zu Kopf der Tafel saß. »Ein großer Mann ist uns genommen worden. Ein Krieger, dem die Götter zulächelten. Doch Jagdführer Kunchas hat recht! Die heutige Tragödie hat nicht nur Schlechtes über unser Volk gebracht.«

»Und was, Hüter Eitur, hat uns der heutige Tag Gutes gebracht? Hat man vielleicht Spuren von Lumiana gefunden? Hat man herausgefunden, was ihre Bewacher getötet haben könnte?«, fragte Varisur mit mühsam unterdrückter Wut. »Die Allianz mit den Aak liegt in Scherben. Mehr als siebenhundert unserer Krieger sind tot oder werden es bald sein. Und unser großer Führer wurde ermordet!« Varisur ahnte, dass Eitur und Kunchas etwas im Schilde führten. Er musste vorsichtig sein. Doch als Eitur ihn ansah und ihm ein zustimmendes Lächeln schenkte, wusste Varisur, dass er dem Hüter bereits in die Falle gegangen war.

»Wie du es sagst, Jagdführer Varisur. Die Aak töteten hunderte unserer Männer, ermordeten unseren Führer und entführten seine Tochter. Doch zumindest wissen wir nun, wer unsere wahren Feinde sind. Tenakard hat die Götter gelästert, als er die elenden Wilden in unsere Mitte holte. Hätten wir den Weg eingeschlagen, den uns der Kriegsführer aufgezeigt hat, hätte unser großes Volk nicht überlebt. Tenakards tragischer Fehler hätte uns beinahe an den Abgrund geführt. Doch durch die Gnade der Götter wurde der Anführer des Feindes getötet und unser Volk gerettet.«

Varisur traute seinen Ohren nicht. Derart lästerlich über Tenakard zu sprechen – und dass erst wenige Stunden nach seinem Tod –, war eine schwere Beleidigung seines Ansehens! Varisur schaute in die Runde. Eitur war nicht dumm. Wenn er es wagte, so vor den versammelten Hütern und Jagdführern der nördlichen Clans über den gefallenen Kriegsführer zu sprechen, musste er sich der Unterstützung einer Mehrheit von ihnen sicher sein. Und in der Tat sah Varisur nur in den wenigsten Gesichtern Empörung über Eiturs Worte.

Selnin von den Dardak blickte einigermaßen empört drein, doch der junge Jagdführer hatte sich noch nie in Tenakards Kriegsrat geäußert und sein Vater, Hüter Fundir, würde sich nie gegen Eitur stellen. Lediglich Jagdführer Bruma, ein vierschrötiger Krieger, dessen Szentarr von vier langen Narben durchzogen war, sah aus, als wolle er die Stimme erheben. Doch bevor er etwas sagen konnte, trafen sich sein und Varisurs Blick. Varisur schüttelte beinahe unmerklich den Kopf und Bruma blieb still. Er hatte schon viele Kämpfe erlebt und verstand, dass man dem Gegner nicht zu früh die eigene Position offenbaren durfte. Die Narben, die sein Gesicht entstellten, hatte er einem Jorhúl, einer riesigen Raubkatze, zu verdanken. Das Tier hatte ihn angegriffen, während er, damals noch ein einfacher Krieger, Wache vor einem Jagdlager gestanden hatte. Bruma hatte sich nach dem ersten Schlag totgestellt und erst zugeschlagen, als der Jorhúl sich genähert hatte, um von seiner tot geglaubten Beute zu fressen. Bruma hatte dem Tier die Klinge seines Schwertes bis zum Anschlag in die Kehle gestoßen und trug das Fell des Jorhúl seitdem als Umhang über den Schultern. Bruma verstand, dass es manchmal besser war abzuwarten, was geschehen würde.

Eitur erhob sich von seinem Sitz. Seine Wolfskapuze ließ seine Augen im Schatten versinken.

»Hört mir zu!«, rief er in die Runde und hob beschwörend den rechten Arm. Den linken hatte er auf eine schwere eiserne Kette gelegt, in deren Mitte, auf Höhe seines Herzens, ein blauer Kristall eingefasst war. »Ich weiß, dass viele von euch glauben, der Feind hätte uns heute einen Schlag versetzt, von dem wir uns kaum noch erholen können. Und ja, Tenakards Tod hat uns schwer getroffen! Doch ich sage euch: Aus der Asche dieser Tragödie kann eine Gelegenheit erstehen, wie wir sie uns zuvor nicht hätten erträumen können!«

»Und was genau soll das für eine Gelegenheit sein, Eitur?« Diesmal hatte Bruma offenbar nicht mehr an sich halten können. »Willst du uns vielleicht erklären, was für ein genialer und verzwickter Plan es erfordert, dass unser größter Kriegsherr zusammen mit hunderten seiner Männer dahingeschlachtet werden muss?«

Vorsichtig jetzt!, dachte Varisur. Bruma durfte Eitur nicht öffentlich dessen beschuldigen, von dem Varisur inzwischen selbst überzeugt war: Eitur hatte Tenakard ermordet! Doch solange der Hüter den Kriegsrat auf seiner Seite hatte, konnte weder Varisur noch Bruma etwas tun.

Den anderen Ratsmitgliedern waren die unausgesprochenen Anschuldigungen in Brumas Worten ebenfalls nicht entgangen und die Spannung im Raum war plötzlich mit Händen zu greifen. Doch Eitur war zu gerissen, um die Situation jetzt schon eskalieren zu lassen. Stattdessen legte er eine unbekümmerte Miene auf und lächelte Bruma an, der mühsam beherrscht zurücklächelte.

»Jagdführer Bruma, niemals würde ich mein militärisches Geschick mit dem des großen Tenakard vergleichen. Doch nun, da sich die Aak einmal mehr als die feigen Mörder erwiesen haben, die sie sind, haben wir das große Glück, unsere beiden Feinde mit einem Streich auslöschen zu können!«

Eitur ballte die ausgestreckte Hand zur Faust und sah eindringlich in die Runde.

»Wir sammeln all unsere Truppen, marschieren südwärts und vernichten die republikanischen Legionen in ihrem Lager bei den Östlichen Ebenen! Wir bemächtigen uns des Jagdgebietes der Aak und stellen damit sicher, dass ihr Volk den kommenden Winter nicht überlebt!«

Varisur fühlte sich, als hätte ihm jemand eine schallende Ohrfeige verpasst. »Hast du den Verstand verloren?«, brach es entgeistert aus ihm heraus. Dieser Plan war der blanke Wahnsinn!

»Warum, glaubst du, hat Tenakard unsere Männer hier in Hisarkull versammelt? Hier können wir ausharren. Den Winter überdauern! Die Vasgali in ihrem Lager festsetzen und den Norden sichern!« Er sprang nun ebenfalls auf und warf den anderen Ratsmitgliedern einen beschwörenden Blick zu.

»Wir können die Legionen nicht in einer offenen Feldschlacht stellen! Wir müssen abwarten, bis der Winter sie in ihrem Lager einschließt, und sie dann mit ständigen schnellen Angriffen zermürben!«

»Gesprochen wie ein wahrer Taktiker.« Eiturs Worte trieften vor Gift, doch sein Lächeln blieb ungebrochen. »Die vielen Niederlagen gegen die Vasgali müssen dich ja wirklich beeindruckt haben. Aber vielleicht sind es nicht die Taktiken der ehrlosen Ketzer, die gefragt sind, um unser Volk zu befreien. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir aufhören uns wie feige Brynei in unseren Erdlöchern zu verkriechen und dem Feind endlich als das entgegentreten, was wir sind!« Eitur donnerte seine Faust auf den Tisch. »Nevhon! Krieger! Jäger!«

Dafür erntete er zustimmendes Gemurmel unter den Ratsmitgliedern.

»Hört mir zu!«, rief Varisur. Er durfte Eitur das Feld nicht kampflos überlassen! »Viele von euch waren bei der Schlacht von Jaakide dabei. Ihr habt gesehen, welchen Schaden die Luftschiffe des Feindes anrichten. Wollt ihr wirklich eine große Streitmacht zu ihrem Ziel machen? Tenakard hat die Vasgali mehr als einmal in der Schlacht besiegt. Doch selbst er hat es nicht gewagt, es mit diesen fliegenden Dämonen aufzunehmen. Kein Krieger – so stark er auch sein mag – kann einen Bogen spannen, dessen Pfeil ein Luftschiff erreicht. Wenn wir das Lager der Legionen jetzt angreifen, werden sie Feuer auf uns hinabregnen lassen und unsere Männer zu Asche verbrennen!«

Seine eindringlichen Worte schienen vor allem bei den versammelten Jagdführern Eindruck zu hinterlassen. Einige von ihnen hatten den Schrecken der gewaltigen Luftdämonen aus nächster Nähe gesehen. Ihr Verstand musste ihnen sagen, dass Varisur recht hatte.

»Deine Angst vor den ehrlosen Methoden des Feindes ist mir wohlbekannt, Varisur«, sagte Eitur in spöttischem Ton. »Doch sei unbesorgt, die Teufeleien des Feindes werden in dieser glorreichen Schlacht keine Rolle spielen. Meine Späher berichten mir, dass die Luftschiffe nach Süden abziehen. In der Schlacht werden die Vasgali sich nur auf die Stärke ihrer Soldaten verlassen können. Und welche Armee könnte einer Streitmacht wahrer Nevhon standhalten, wenn es darum geht, die Stärke ihrer Krieger miteinander zu messen?«

Varisurs Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, dass Eitur über eigene Späher verfügte, die nur ihm allein Bericht erstatteten, beunruhigte ihn, obschon es ihn auch nicht überraschte. Wenn Eitur allerdings die Wahrheit sprach, erschien sein Plan plötzlich in einem ganz anderen Licht. Die Luftschiffe waren bisher stets der entscheidende Vorteil der Vasgali gewesen. Ihnen auszuweichen gelang nur, wenn man sich in kleinen, raschen Gruppen bewegte. Doch diese erwiesen sich allzu oft als leichte Beute für die feindlichen Legionärskohorten oder die Reiterei. Wären die Luftschiffe aus dem Spiel, könnten die Krieger der Nordstämme tatsächlich in einer gewaltigen Streitmacht auf den Feind niedergehen. Doch derartige taktische Nachlässigkeiten sahen General Davo gar nicht ähnlich.

»Was ist mit ihren verdammten Katapulten?«, erklang Brumas donnernde Stimme. »Mit denen haben sie es uns bei Jaakide genauso besorgt wie mit ihren Luftschiffen. Wenn diese Feuerscheißer sich erst mal auf unsere Männer eingeschossen haben, helfen uns auch die dicksten Schilde nichts mehr. Die roten Wichser mögen verdammte Feiglinge sein, aber dumm sind sie nicht!«

»Bruma hat recht!«, rief Varisur. »Wenn wir blindlings angreifen, laufen wir direkt in einen Feuersturm – Luftschiffe oder nicht!«

Eiturs Lächeln blieb unverändert und ließ die Woge des Zorns in Varisurs Brust zu einer wahren Sturmflut anwachsen. Doch er durfte sich nicht provozieren lassen. Er bewegte sich hier auf einem schmalen Grat. Ein falscher Schritt könnte sein Ende bedeuten. Eitur war noch immer ein Hüter. Ihn offen zu beleidigen, konnte schlimme Konsequenzen haben. Und gerade jetzt konnte sein Volk nicht auf ihn verzichten, da war sich Varisur sicher.

»Katapulte sind schwer zu transportieren«, erwiderte der Hüter und Varisur hatte den Eindruck, dass Eiturs Stimme sogar noch ein Stück unausstehlicher geworden war. »Die Vasgali werden uns nicht erwarten. Sie glauben, wir würden hier oben kauern wie feige Schafe und darauf warten, dass uns der Winter ein weiteres Jahr vor den Wölfen beschützt. Das Letzte, was sie erwarten, sind unsere Äxte direkt vor ihrer Tür! Wir löschen sie aus, noch bevor sie überhaupt die Zeit haben, ihre Katapulte auf uns zu richten oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen!«

Eitur breitete feierlich die Arme aus und wandte den Blick erneut in die Runde.

»Brüder!«, rief er. »Zeigen wir dem Feind, wer wir sind! Treiben wir sie endlich aus unserem Land heraus! Sorgen wir dafür, dass sich vasgalische Weiber und Kinder in Zukunft fürchten werden, den Namen der Nevhon auch nur laut auszusprechen!«

Als sich Varisur die Gesichter der Ratsmitglieder ansah, wusste er, dass er verloren hatte. Die Hüter schienen ohnehin von Beginn an auf Eiturs Seite gewesen zu sein. Doch ein Blick in die glühenden, sehnsüchtigen Augen der Jagdführer sagte Varisur, dass Eitur auch ihre Herzen erreicht hatte. Varisur konnte nur an ihren Verstand appellieren, doch dieser Kampf war aussichtslos. Die Jagdführer waren Krieger, keine Taktiker. Wie die Männer, die sie führten, sehnten sie sich nach dem Ruhm der Schlacht. Sie waren Tenakard zwar bereitwillig nach Hisarkull gefolgt, doch der Kriegsführer war ein großer Feldherr gewesen und sie hatten darauf vertraut, dass er sie schon bald zu glorreichen Siegen führen würde. Ohne seine Autorität hätten sie niemals zugestimmt, sich in der Bergfestung zu verschanzen und den Einbruch des Winters abzuwarten.

»Und was ist mit den Aak?«, fragte Varisur aufgebracht. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, das war ihm bewusst, aber er musste zumindest versuchen, die anderen Jagdführer zur Vernunft zu bringen.

»Wenn wir Hisarkull verlassen und nach Süden marschieren, bemächtigen sie sich der Festung im Handumdrehen!« Er wandte den Blick an jeden der anderen Jagdführer. »Das muss euch doch klar sein!«

»Das Ungeziefer sucht sich stets einen schützenden Stein, wenn er unbewacht ist«, entgegnete Eitur mit vor Spott triefender Stimme. »Doch warum sollte uns das kümmern? Sollen sie die Festung doch haben! Was wir an Vorräten nicht mit uns nehmen können, verbrennen wir. Sobald wir die vasgalischen Legionen zerschlagen haben, stehen uns die Jagdgebiete der Östlichen Ebenen weit offen. Wir werden die Aak in der Festung aushungern und dann den Rest ihres erbärmlichen Volkes für alle Zeiten von unserer heiligen Erde tilgen!«

Begeistert schlugen einige Jagdführer mit den Fäusten auf den Tisch. Andere starrten Eitur mit glänzenden Augen an. Es war offensichtlich, dass Varisur diesen Kampf verloren hatte. Nur Bruma schien von Eiturs Worten weiterhin nicht überzeugt. Er und Varisur tauschten besorgte Blicke. Sie wussten beide, dass, wenn die Dinge schlecht ausgehen sollten, ihr Volk vor einer gigantischen Katastrophe stehen würde.

»Und wer soll uns in diese glorreiche Schlacht führen?«, fragte Hüter Fundir mit volltönender Stimme und einem verächtlichen Seitenblick auf Bruma und Varisur, der niemandem im Raum entging. Eitur nickte Fundir wohlwollend zu und schaute Varisur offen in die Augen. Varisur konnte sehen, wie sehr der Hüter die Situation genoss, und wunderte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, dass er Eitur nicht schon viel früher als die Gefahr wahrgenommen hatte, die er war.

»Taktieren und Zögern haben uns in die Lage gebracht, in der wir nun sind. Ein neuer Kriegsführer muss gewählt werden, doch er muss ein wahrer Krieger sein. Ein Mann, dessen Name allein den Feind schon zittern lassen wird. Ein Mann, der uns nicht durch Untätigkeit in den Ruin führen wird, sondern mit blanker Klinge Blut für sein Volk vergießt! Ich schlage Kunchas von den Karuvarra als neuen Kriegsführer vor!«

An den Gesichtsausdrücken der Hüter um ihn herum erkannte Varisur, dass sie nicht überrascht waren. Er fluchte innerlich. Vermutlich hatte Eitur diesen ganzen Auftritt mit ihnen zusammen geplant. Und er hatte sich wie ein Narr von ihnen vorführen lassen!

Eitur warf Kunchas einen auffordernden Blick zu. Dieser erhob sich mit stolzgeschwellter Brust. Er zog seine Axt aus seinem Gürtel und hob sie über seinen Kopf.

»Ich bin Kunchas von den Karuvarra!«, rief er mit volltönender Stimme. »Der große Hüter Eitur hält mich für würdig, unser Volk als Kriegsführer in den größten Sieg unserer Geschichte zu führen! Schließen sich die ehrenwerten Mitglieder des Heiligen Zirkels der Hüter seinem Urteil an?«

Varisur rollte innerlich mit den Augen. Diese Worte klangen derart hölzern und einstudiert, dass er sich bildlich vorstellen konnte, wie Eitur dem jungen Jagdführer Wort für Wort eingeschärft hatte, was er zu sagen habe, wenn die Zeit für seinen Auftritt in diesem Schauspiel gekommen sein würde.

Hüter Fundir erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und zog den zeremoniellen Dolch aus seinem Gürtel und reckte ihn in die Höhe. Die Klinge, die jeder Hüter in seiner Jugend eigenhändig schmiedete, bestand aus reinem Silber und durfte nur für die heiligen Tieropfer genutzt werden. »So sei es!«, rief er feierlich. »Ich, Fundir von den Dardak, stelle die Krieger meines ruhmreichen Clans unter die Führung des großen Kunchas von den Karuvarra! Möge er uns zum Ruhme führen!«

Am liebsten hätte Varisur auf den Tisch gespuckt. Fundir würde Eitur in allem folgen. Er hatte die Art und Weise, wie der ältere Hüter vor Eitur buckelte, schon immer für erbärmlich gehalten. Doch erst jetzt, im Lichte des heutigen Abends und Tenakards Tod, wurde ihm klar, wie gefährlich Eiturs Macht über die anderen Hüter war.

Ein Hüter nach dem anderen erhob sich, reckte seinen Silberdolch in die Höhe und sprach Kunchas die Gefolgschaft aus. Elok von den Farkari, Kashak von den Aludar, Dolgrim von den Warkar und Oldard von den Tovar: Sie alle gelobten Kunchas feierlich die Treue. Ihre Jagdführer begleiteten ihre Schwüre mit rhythmischen Faustschlägen auf den Tisch. Nur Bruma verschränkte die Arme vor der Brust, als Oldard, der Hüter seines Clans, den Treueschwur ablegte. Zumindest ihn würde er zukünftig auf seiner Seite haben, dachte Varisur erleichtert.

»Der Zirkel hat gesprochen!«, rief Eitur. »Hat einer der Jagdführer etwas zu entgegnen?« Listig funkelte er Varisur an. Varisur hielt seinem Blick stand, erhob sich aber nicht, um Kunchas’ Anspruch anzufechten. Hätte er das getan, hätte Kunchas auf ein Gottesurteil bestanden – ein Duell auf Leben und Tod. In einem solchen Kampf wäre Varisur dem jungen, überaus geschickten Krieger unterlegen, da machte er sich nichts vor. Wenn er seinem Volk in diesem Chaos von Nutzen sein wollte, musste er leben!

»Dann ist es beschlossen!«, verkündete Eitur und Triumph klang aus seiner Stimme. »Sobald die heiligen Riten vollzogen sind und Tenakard den Pfad zu Elvúrs ewiger Jagdgemeinschaft gefunden hat, werden wir Kunchas zum neuen Kriegsführer ausrufen! Ihr werdet sehen, meine Brüder, der heutige Tag wird der Beginn eines Triumphzuges sein, wie ihn unser Volk seit den Zeiten Farkanats nicht mehr gesehen hat!«

Varisur sah noch einmal in die Runde. Sah die Ergebenheit in den Gesichtern der Hüter. Sah den glühenden Tatendrang in den Gesichtern der Jagdführer. Und den Triumph in den Augen von Eitur. Sie alle würden ihm fröhlich in den Untergang folgen. Und an Lumiana verschwendete keiner von ihnen in diesem Moment auch nur einen Gedanken.

***

Mühsam arbeitete sich Malvana durch den hohen Schnee. Der Walrossmantel, den sie trug, schützte sie zwar vor der eisigen Kälte und der Nässe; wenn sie aber nicht bald einen trockenen Unterschlupf fand, würde ihr auch das schwere Kleidungsstück nicht mehr helfen. In der Ferne hatte sie etwas ausgemacht, das eine größere Höhle im vom Schnee bedeckten Felsen zu sein schien, und nun hielt sie bereits seit einer guten halben Stunde darauf zu.

Seit der Schneefall eingesetzt hatte, kam sie jedoch nur noch schleppend voran. Die ohnehin schon gewaltigen Schneemassen waren binnen weniger Minuten so weit angewachsen, dass es für Malvana zu einem wahren Kampf geworden war, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Hinzu kam die Tatsache, dass die unaufhörlich und dicht fallenden Schneeflocken ihr beinahe vollständig die Sicht nahmen, sodass sie kaum sehen konnte, wohin sie ging. Wenn sie sich nicht vorsah, würde sie die Höhle noch verfehlen und in diesem weißen Chaos war es ausgeschlossen, dass sie sie noch einmal wiederfinden würde.

Dann hörte Malvana erneut das lang gezogene Heulen und blieb lauschend stehen. Eiswölfe! Sie hatten die Verfolgung also noch immer nicht aufgegeben. Malvana fluchte innerlich.

Etwa eine Stunde, nachdem sie aus Hisarkull geflohen war, hatte sich ein Rudel dieser Tiere an ihre Fersen geheftet. Zweimal hatten einige junge, übermütige Tiere bereits versucht, sie anzufallen. Malvana hatte drei von ihnen mit ihren Dolchen getötet, einen weiteren schwer verletzt. Der Rest des Rudels hielt seitdem einen respektvollen Abstand zu ihr, ließ jedoch auch nicht von ihrer Fährte ab. Zweifelsohne warteten sie darauf, dass Malvana müde und unaufmerksam wurde. Ihre Beute konnte ihnen in dieser weißen Wildnis nicht davonlaufen, das wussten sie.

Aufmerksam beobachtete Malvana ihre Umgebung, auch wenn der heftige Schneefall ihre Sicht weiterhin auf wenige Fuß beschränkte. Der Wind begann nun ebenfalls stärker zu wehen und zum ersten Mal war Malvana froh über den Gesichtsschleier, den die rückständige Kultur der Barbaren den Frauen aufzwang.

Ursprünglich hatte sie außerhalb Hisarkulls auf ihre Verkleidung verzichten wollen. Der Walrossmantel machte sie langsam und der Schleier schränkte ihre Sinne ein. Doch auf der Route, die sie ursprünglich für ihre Flucht vorgesehen hatte, patrouillierten nun Jagdhorden der Nordstämme, auf der Suche nach versprengten Aak-Gruppen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß gewesen und so hatte sich Malvana dazu entschlossen, einen Umweg zu nehmen.

Unermüdlich kämpfte sie sich weiter vorwärts durch den Schnee. Jeder Schritt war mittlerweile ein Kampf zwischen ihr und der weißen Masse, die sich um sie herum zu immer größeren Hügeln auftürmte und ihr bereits jetzt fast bis zu den Knien reichte. Der Wind nahm immer weiter zu, peitschte ihr den Schnee ins Gesicht und sein Heulen übertönte beinahe das der Eiswölfe.

Ihren Schleier hatte sie abnehmen müssen, um überhaupt noch etwas sehen zu können, doch auch so wurde es beständig schwerer zu erkennen, ob sie noch in die richtige Richtung ging.

Dank ihres Mantels spürte sie die Kälte kaum, doch sie wusste, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Sie musste diese Höhle finden, andernfalls wäre sie verloren! Und welch unrühmliches Ende wäre dies für ihre glorreiche Mission!

Es war schwer zu sagen, wie lange sie nun schon durch die weiße Kälte stapfte, doch es schien ihr, als würde sie mit jedem Schritt langsamer vorankommen. Plötzlich hielt sie inne und lauschte. Etwas an den Geräuschen um sie herum hatte sich verändert. Zu dem beständigen Heulen des Windes und der Wölfe war ein anderer Laut hinzugekommen. Waren das Stimmen?

Malvana lauschte angestrengt und versuchte den Wind auszublenden, der immer stärker zu werden schien. Eine Weile lang fragte sie sich, ob ihre Sinne ihr einen Streich spielten, doch dann hörte sie es ganz deutlich. Zwei Männer unterhielten sich in der Sprache der Nevhon, und das ganz in ihrer Nähe!

Angespannt schaute Malvana sich um, doch durch den dichten Schnee konnte sie beim besten Willen nichts erkennen. Ihr Glück war, dass es den mysteriösen Männern nicht besser gehen konnte, dennoch zog sie rasch ihren Schleier wieder an.

Langsam setzte sie ihren Weg fort. Je weiter sie in die Richtung ging, in der die Höhle liegen musste, desto lauter wurden die Stimmen.

»… hätte zu keinem beschisseneren Zeitpunkt einbrechen können!«, hörte sie einen der Männer reden. »Jetzt werden wir ewig zurück zur Festung brauchen und die Frauen werden sie dann sicher schon abgestochen haben!« Seine Stimme war tief und schroff.

»Na ja, die hübschesten werden sie bestimmt noch ein Weilchen zappeln lassen, damit jeder noch mal drüber kann.« Diesmal hatte der andere gesprochen, dessen Stimme etwas unangenehm Schmieriges hatte.

Sein Kumpan verfiel in ein grunzendes Lachen, das bald in ein schleimiges Husten überging.

»Wenigstens hat der Hüter das kleine Biest ruhiggestellt, sonst hätten wir sie zappelnd und schreiend durch den verdammten Schneesturm schleifen müssen.« Diesmal sprach wieder der mit der tiefen Stimme. »Versteh’ sowieso nicht, warum wir sie nicht einfach in irgendeine Felsspalte fallen lassen durften. Stattdessen schickt er uns hier raus, um sie im Schnee liegen zu lassen. Und deswegen verpassen wir jetzt den ganzen Spaß!«

Der andere Kerl antwortete nicht, daher nahm Malvana an, dass er ihm zustimmend zugenickt hatte.

Malvana war während des Gesprächs der beiden kontinuierlich weitergelaufen, ohne wirklich etwas sehen zu können. Doch plötzlich schälte sich etwas aus dem Vorhang aus Schneeflocken heraus. Ein dunkler Fleck, der nach und nach immer deutlicher zu erkennen war. Der Höhleneingang! Und darin: zwei massige Nevhon.

Daran, wie die beiden erstarrten, erkannte Malvana, dass es zwecklos wäre, sich zu verstecken. Die beiden hatten sie längst bemerkt und erhoben sich von den Felsbrocken, auf denen sie gesessen hatten. »Wer stolpert da durch den Schnee?«, schrie derjenige mit der tiefen Stimme.

Malvana kämpfte sich vorwärts und legte den Rest der Strecke möglichst unbeholfen zurück. Dabei hob sie fahrig die Arme und winkte den Kriegern zu, als wäre sie über alle Maßen erfreut, sie zu sehen.

»Oh, Elvúr sei Dank! Ich dachte schon, ich wäre verloren!« Sie konnte die gutturalen Laute, die die Nevhon Sprache nannten, akzentfrei nachahmen, was der Hauptgrund dafür gewesen war, dass man sie auf diese Mission geschickt hatte.

Malvana stürzte ins Lager und brach vor den Füßen der beiden Krieger zusammen. Aus der Nähe nahm sie den starken Schnapsgeruch wahr, der von beiden ausging. Offenbar hatten sie gerade einen Schluck gegen die Kälte genommen.

»Da rasier’ mir doch einer die Klöten! Was macht ein verdammtes Weibsbild hier?«, rief der mit der tiefen Stimme. Er war der größere von beiden, ein wahrer Hüne. Sein grauer Bart war lang und ungepflegt und eine breite, hässliche Narbe prangte auf seiner Stirn.

»Hat dich wahrscheinlich gehört und wollt’ Abhilfe schaffen!«, gluckste der schmierige Kerl neben ihm verblüfft. Er war einen ganzen Kopf kleiner als sein Kumpan, dafür aber ungemein fett. Seine Arme waren jedoch kräftig und er trug einen gewaltigen Streithammer, den er lässig über die Schulter gelegt hatte.

Malvana rappelte sich zitternd auf und tat so, als hätte sie keine Ahnung, wovon der Kerl da sprach.

»Da in der Festung haben plötzlich alle angefangen zu kämpfen. Oh, Götter, ’s war so furchtbar!« Sie verfiel in ein lautes Schluchzen und vergrub das verschleierte Gesicht in den Händen. Sie konnte förmlich spüren, wie sich die beiden angrinsten. In der Festung hätten sie es niemals gewagt, eine Tochter des Clans der Karuvarra unsittlich zu berühren, doch hier draußen waren sie ihre eigenen Herren.

»Keine Sorge«, sagte der Hüne mit lüsternem Unterton in der Stimme, »jetzt ist alles in Ordnung!«

»Ja«, lachte der Dicke, »jetzt bist du in guten Händen!«

Malvana hob den Blick und sah den Hünen auf sich zumarschieren, dem unverhohlene Gier ins Gesicht geschrieben stand. Malvana tat, als würde ein Zittern durch ihren ganzen Körper gehen.

»W-werdet ihr mich vor den Wölfen beschützen?«, schluchzte sie und ließ es zu, dass der grauhaarige Barbar seine Arme um sie legte. »Ich bin vor den K-Kämpfen weggelaufen, aber ich ha-hab den ganzen Weg über Wölfe heulen gehört!«

»Sch, sch«, machte der Riese und Malvana spürte, wie sich seine Pranken in ihren Hintern gruben. »Wenn du ganz lieb zu uns bist, dann beschützen wir dich auch vor den bösen Wölfen.«

Eine Hand ließ er nach oben zu ihren Brüsten wandern. »Ich glaub’, ich hab’ noch nie ein Weib mit so festen …«

In diesem Moment wirbelte Malvana blitzschnell um die eigene Achse. Aus der Drehung heraus warf sie eines ihrer dünnen Messer nach dem Dicken, der die Situation dämlich grinsend beobachtet hatte. Die Klinge traf ihn direkt ins rechte Auge, wo sie bis zum Heft verschwand.

Malvana verschwendete keine Zeit damit, dem Fettsack beim Umfallen zuzusehen, sondern drehte sich zur Seite und trat dem Hünen mit voller Wucht seitlich gegen das Knie.

Mit einem befriedigenden Knacken zersplitterte das Gelenk und das Knie wurde in einen unnatürlichen Winkel zur Seite gebogen.

Ein schon beinahe unnatürlich hoher Schmerzensschrei drang aus der Kehle des Kriegers und er sackte auf das unversehrte Knie. Er wollte nach dem Schwert an seinem Gürtel greifen, doch schon hatte Malvana einen Dolch gezogen und stieß zu.

Die Klinge durchbohrte seine Hand und nagelte sie an seine Hüfte. Ungläubig starrte der Nevhon auf die Klinge in seinem Handrücken, brachte diesmal aber nur ein schmerzerfülltes Keuchen zustande. Malvana rammte ihm das Knie gegen die Stirn, was ihn benommen zu Boden sinken ließ. Sie hatte dem Tritt gerade genug Kraft gegeben, um dafür zu sorgen, dass der Nevhon die Orientierung verlor, ohne aber bewusstlos zu werden.

Malvana riss sich Kapuze und Schleier vom Kopf und presste den Kerl zu Boden, indem sie ihm das Knie auf die Brust drückte. Sie zog einen Dolch und hielt ihn dem Mann an die Kehle. In seinem Blick lagen Verwirrung und Angst und der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Doch als er ihr unverschleiertes Gesicht sah, ihre braune Haut und ihr weißes Haar, weiteten sich seine Augen vor Schreck und er stieß einen lauten Schrei aus. Wie die meisten Nevhon kannte er so gut wie nichts von der Welt. Sie führten zwar Krieg gegen die Vasgali und hatten in der Vergangenheit schon Raubzüge bis in das nördliche Bryn hinein unternommen, doch von Menschen mit brauner Haut hatte dieser Barbar zweifelsohne noch nie gehört. Vermutlich hielt er Malvana für einen Dämon.

»Halt dein stinkendes Maul, wenn dir dein Leben lieb ist!«, blaffte sie ihn an. In den Augen dieses ach so mutigen Mannes lag nun die blanke Angst, doch er nickte rasch, als er Malvanas Dolch an seiner Kehle spürte. »Du redest nur, wenn ich es dir erlaube, ist das klar?« Wieder ein Nicken.

»Also«, sagte Malvana, nun etwas ruhiger, »du und der andere Kerl habt jemanden hergebracht. Wen? Sprich!«

Der verängstigte Krieger starrte sie verzweifelt an. Offensichtlich rang er gerade mit sich, was ihm wichtiger war: sein Leben oder sein Pflichtbewusstsein. Malvana erhöhte den Druck auf ihren Dolch und ein dünnes rotes Rinnsal floss über seinen Hals. Die Entscheidung wurde ihm dadurch offenbar erleichtert.

»W-Wir ham die Tochter vom Kriegsführer hergebracht«, stammelte er. »War nich’ unsere Idee, ich schwör’s!«

Malvanas Gedanken überschlugen sich. Warum sollte jemand Tenakards kleine Tochter aus der Festung schaffen wollen? Hatte der Kriegsführer mit Gewaltausbrüchen gerechnet und wollte sie in Sicherheit wissen? Doch warum ließ er sie dann ausgerechnet in diese Wildnis bringen, bewacht von nur zwei Mann?

»Wo ist das Mädchen jetzt?«, fragte sie ihn grob. Der Krieger hob langsam und vorsichtig den unversehrten Arm. Malvana spannte sich an, für den Fall, dass der Narr etwas versuchen sollte, was er auf der Stelle bereuen würde; doch er deutete nur hinter sich, tiefer in die Höhle hinein.

»Ham sie da hinten abgelegt«, plapperte er. »Der Hüter hat gesagt, wir sollen sicherstellen, dass sie nicht so schnell erfriert. Die Wölfe sollen sie holen, hat er gesagt. Das würd’ die Götter besänftigen, hat er gesagt.«

Verwirrt zog Malvana die Augenbrauen zusammen. Konnte es stimmen, was der Kerl da redete? Sie betrachtete sein Szentarr. Er war ein Karuvarra. »Hüter Eitur hat euch das befohlen?«, fragte sie. »Ihr solltet die Tochter des Kriegsführers hierherbringen, damit sie von Wölfen gefressen wird?«

Eifrig nickte er, schnitt sich dabei jedoch an Malvanas Dolch und hörte sofort wieder damit auf.

»Der Hüter hat gesagt, dass die Götter wütend auf uns sind«, jammerte der Hüne, während ihm Tränen und Rotz in den Bart liefen. »Er hat gesagt, dass wir ein Opfer darbringen müssen und dass die Aak die Schuld an allem haben!«

Plötzlich verstand Malvana. Es ergab alles einen Sinn!

»Eitur wollte Tenakard selbst vergiften!«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Nevhon, der jedoch zustimmend nickte und dabei vorsichtig auf den Dolch an seiner Kehle schielte.

Malvana wusste, dass Eitur sich immer vehement gegen das Bündnis mit den Aak ausgesprochen hatte, auch wenn sie die Gründe dahinter nie verstanden hatte. Doch möglicherweise glaubte er tatsächlich, dass die Götter das Bündnis nicht gutheißen würden. Möglicherweise war ein Menschenopfer in seinen Augen die einzige Möglichkeit, die Götter wieder gnädig zu stimmen. Und wer wäre dafür besser geeignet als die Tochter des Mannes, der ihren Zorn überhaupt erst erregt hatte? Und solange Tenakards Blut weiterlebte, würde seine Führungsposition selbstverständlich niemals sicher sein. Bei diesem Gedanken kam ihr noch etwas anderes in den Sinn.

»Ihr habt gewusst, dass es zu Kämpfen kommen würde, nicht wahr? Ihr habt euch darüber unterhalten, Aak-Frauen zu vergewaltigen!«

In den Augen des Mannes wuchs die Unsicherheit.

»S-Sie sind böse!«, stammelte er. »Der Hüter h-hat gesagt, wir können mit ihnen machen, was wir wollen. W-Wir sollen ihnen nur danach den Rest geben, damit sie keine Bälger werfen!«

Natürlich. Sie hatte Eitur bisher für einen dummen Narren gehalten, doch nun erkannte sie, dass er viel gerissener war, als sie ihm zugestanden hatte. Dieser Bastard hier jedoch war genau die Sorte Mann, die Leute wie Eitur gern für ihre Zwecke einsetzten. Er war ein einfältiger, leichtgläubiger Mitläufer mit einer sadistischen Ader. Er würde jedes Verbrechen begehen, wenn ihm jemand wie Eitur die Ausrede bereits mundgerecht servierte. Erst jetzt fiel Malvana wieder auf, wie erbärmlich er stank. Sie nahm den Dolch von seiner Kehle.

»K-Kann … Kann ich jetzt gehen?«, fragte er mit hoffnungsvoll glänzenden Augen. »Ich versprech’, ich werd’ keinem wa…« Seine letzten Worte gingen in einem erstickten Röcheln unter, als Malvana ihren Dolch tief in seinen offenen Mund stieß. Sie trieb die Klinge durch den Gaumen in seinen Kopf hinein und hielt die Waffe eisern fest, während der Nevhon unter ihr hilflos zuckte. Mitleidlos sah sie in seine anklagenden Augen und beobachtete, wie das Licht in ihnen erlosch. Normalerweise genoss sie das Töten nicht, aber diesem Mistkerl beim Sterben zuzusehen, erfüllte sie mit überaus großer Genugtuung. Beinahe bereute sie es, ihren Schleier abgelegt zu haben. Von einem einfachen Weib getötet zu werden, wäre für diesen stolzen Krieger eine letzte Demütigung gewesen, die sie ihm nur zu gern hätte zuteilwerden lassen. Malvana hoffte, dass von einem Dämon getötet zu werden zumindest einen ähnlichen Schandfleck auf seiner Seele hinterlassen würde.

***

Langsam und vorsichtig bewegte sich Malvana vorwärts, tiefer in die Höhle hinein. Nachdem sie die beiden Schwachköpfe am Höhleneingang getötet hatte, hatte sie drei große Tonnelgs einige Meter von der Höhle entfernt angebunden gefunden. Diese großen Tiere mit ihrem gewaltigen Geweih auf der Stirn und zwei spitzen Hauern, die ihnen aus dem Maul ragten, waren die bevorzugten Reittiere der Nevhon. Sie waren ausdauernd, konnten große Lasten tragen und bewegten sich in tiefem Schnee so sicher wie ein Pferd auf grünen Wiesen. Tenakards Tochter hatte sicherlich kein eigenes Tier geritten und da es drei von ihnen gab, musste sich weiter im Höhleninneren noch ein dritter Mann befinden.

Die Entführung von Tenakards Tochter war sicherlich nicht ohne ein gewaltiges Blutvergießen vonstattengegangen. Eitur, den sie mittlerweile für weitaus intelligenter hielt als noch zu Anfang, würde eine solche Aufgabe nicht solchen Einfallspinseln überlassen, die gerade am Höhleneingang in einer Lache ihres eigenen Blutes lagen.

Die Höhle verengte sich nach hinten zu einem Tunnel, der sich nach einigen Schritten nach links und rechts verzweigte. Aus dem linken Gang konnte Malvana leichten Feuerschein erkennen, also nahm sie diesen Weg. Sie folgte dem Tunnel eine Weile lang, bis er wieder breiter wurde und in einen kleinen Hohlraum mündete. Der Raum maß in Länge und Breite etwa fünf Schritt. In seiner Mitte brannte ein kleines Feuer, dessen flackerndes Licht von den Wänden zurückgeworfen wurde.

An der hinteren Wand lag eine kleine Gestalt auf dem Boden. Ein Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, lag auf dem Boden und drehte Malvana den Rücken zu. Es hatte lange graue Haare, die es zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Seine Kleidung bestand aus einem dicken Wollmantel und Pelzpantoffeln. Kapuze und Schleier trug es, wie alle Nevhon-Kinder, nicht.

Wie Malvana erwartet hatte, war das Mädchen nicht allein. Ein dritter Mann saß an der Wand rechts von ihm und schlief. Der Kopf war ihm auf die Brust gesackt und hin und wieder stieß er einen lauten Schnarcher aus.

Unschlüssig verharrte sie im Tunneleingang und überlegte, was nun zu tun war. Sie konnte die beiden einfach im Schlaf töten, einige Stunden hier rasten und sich dann wieder auf den Weg machen. Es war unwahrscheinlich, dass Eitur in nächster Zeit nach den drei Männern suchen lassen würde. Und zu dem Zeitpunkt, da jemand hierherkam, würde der Schnee ihre Fußspuren längst begraben haben. Sicherlich war dies die sicherste Methode und würde ihr Entkommen garantieren.

Sie konnte natürlich auch nur den Krieger töten und das Mädchen hierlassen. Doch dann würde sie hier nicht rasten können, ohne Gefahr zu laufen, dass das Kind aufwachte und sie sah. Und wenn das geschah und das Kind lange genug überlebte, um von einer Patrouille gefunden zu werden, würden die richtigen Leute die richtigen Schlüsse ziehen und Malvana jagen.

Sich einfach umzudrehen und stillschweigend zu verschwinden, war in jedem Fall die einfachste Lösung. Doch selbst auf einem Tonnelg würde sie sich in diesem Schneesturm wohl verirren und elendig erfrieren. Sie musste in der Höhle ausharren, koste es, was es wolle.

Dann schoss Malvana ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Tenakards Tochter – Lumiana, wenn ihr Gedächtnis sie nicht trog – könnte sich für die Acamorta als sehr wertvoll erweisen. Möglicherweise konnte sie Einsichten in die Kommandostruktur der Nordstämme liefern, die dem Orden bisher unbekannt geblieben waren. Nicht, dass dem Mädchen solche Dinge mitgeteilt worden wären, doch Kinder bekamen häufig eine ganze Menge mehr mit, als ihre Eltern ahnten. Und selbst wenn Lumiana keine wertvollen Informationen liefern konnte, wäre sie für die zukünftige Kontrolle Nevemaas von unschätzbarem Wert. Eine Marionette vom Blut des großen Tenakard würde die Herrschaft der Republik über die Nordländer auf eine Weise legitimieren, wie sie die Senatoren nicht zu erträumen wagen würden. Sie müsste nur ins Herzland gebracht werden.

Malvana fällte eine Entscheidung und trat in die Höhle. Sie ging auf den schlafenden Krieger zu und zog ihren Dolch. Für ihn hatte sie keine Verwendung.

Sie stieß die Klinge direkt ins Herz des Nevhon. Der Mann keuchte einmal laut und riss entsetzt und verwirrt die Augen auf. Doch Malvana hatte gut gezielt und binnen Sekunden erlosch seine Lebensflamme und er sackte tot zusammen.

Ohne sich weiter um den Mann zu kümmern, zog Malvana ihren Dolch wieder aus seiner Brust und steckte ihn weg. Sie schlich zu der schlafenden Lumiana und beugte sich über sie.

Die Berichte über Tenakards Tochter waren recht spärlich. Es hieß, sie sei meist in ihren Gemächern allein oder in Begleitung ihrer Kinderfrau. Geboren worden war sie vor etwa sechs Jahren von einer Frau, deren Namen niemand zu kennen schien und die wohl bei der Geburt gestorben war. Viel mehr wussten die Informanten des Ordens nicht über das Kind zu sagen. Man sah es so gut wie niemals in der Öffentlichkeit und nur wenige Nevhon kannten überhaupt seinen Namen.

Nun, da Malvana das Kind aus der Nähe sah, konnte sie zumindest das Alter bestätigen. Lumiana war tatsächlich ein etwa sechsjähriges Mädchen. Ihre Statur war ungewöhnlich zierlich für eine Nevhon und ihre Gesichtszüge weniger rundlich. Ein Szentarr hatte man ihr augenscheinlich noch nicht verpasst.

Einer der Krieger am Höhleneingang hatte davon gesprochen, dass Eitur das Mädchen hatte einschlafen lassen, damit die Entführer unbemerkt mit ihm verschwinden konnten. Und in der Tat schien Lumianas Schlaf derart fest zu sein, dass sie wohl so schnell nicht aufwachen würde.

Malvana schaute auf das kleine Feuer in der Mitte des Raumes. Es würde noch etwa eine Stunde lang brennen. Da es in der Höhle nirgends Feuerholz zum Nachlegen gab, würde Malvana sich zunächst auf die Suche nach etwas Brennbarem machen müssen. Doch dabei durfte sie sich nicht zu weit von der Höhle entfernen, wenn sie den Weg zurück nicht aus den Augen verlieren wollte. Sie konnte nur hoffen, dass es in unmittelbarer Nähe irgendwelche Bäume oder Sträucher gab, die dem kargen Felsboden und den eisigen Temperaturen in dieser Höhenlage trotzen konnten. Andernfalls würde sie die Kleidung der drei Toten verbrennen und beten müssen, dass ihr diese nicht ausging, bevor der Schneefall nachließ.

Sie wandte sich von dem schlafenden Mädchen ab, durchquerte den Raum und ging zurück in den Gang, aus dem sie gekommen war. Kurz untersuchte sie die zweite Abzweigung, nur um zu entdecken, dass der Tunnel hier verschüttet und unpassierbar war. Auf diesem Weg hatte sie also keine unwillkommenen Gäste zu erwarten.

Sie ging zurück in den Vorraum der Höhle. Ihr Blick schweifte nur kurz über die Leichen der Krieger, die sie getötet hatte, und ging dann hinaus in die weiße Landschaft, die sich vor ihr erstreckte – zumindest in der Theorie, denn sehen konnte sie noch immer so gut wie nichts. Der Schneesturm hatte nicht nachgelassen, sondern war, im Gegenteil, eher noch stärker geworden. Malvana fluchte innerlich.

Und dann erstarrte sie, als sie ein lautes, lang gezogenes Heulen hörte. Viel lauter war es diesmal und gefolgt wurde es von einem tiefen, drohenden Knurren. Die Wölfe hatten sie also noch immer nicht aufgegeben. Malvana schalt sich in Gedanken eine Närrin. Natürlich waren die Bestien von dem Blutgeruch angelockt worden!

Ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, sah sie mit Entsetzen, wie sich mehrere riesige Gestalten aus dem Vorhang aus Schnee schälten. Dies waren nicht die jungen, übermütigen Exemplare, mit denen es Malvana bisher zu tun gehabt hatte. Dies waren ausgewachsene Eiswölfe, die sich nun langsam und im Wissen um ihre Überlegenheit auf sie zubewegten.

Je näher die Wölfe kamen, desto besser konnte Malvana sie erkennen. Der größte von ihnen überragte sie um etwa drei Fuß. Sein Fell war schneeweiß und seine Augen strahlend blau. Mit gefletschten Zähnen, die so groß waren wie Malvanas Hand, näherte sich das riesige Tier dem Höhleneingang. Dabei stieß es ein markerschütterndes Knurren aus. Flankiert wurde der Wolf auf beiden Seiten von jeweils drei beinahe ebenso großen Artgenossen und dahinter konnte Malvana noch einmal so viele Tiere erkennen.

Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es diesmal kein Entkommen geben würde. Eine dieser Bestien wäre bereits eine enorme Herausforderung gewesen, doch in einer solchen Anzahl waren sie schlicht nicht zu besiegen – nicht einmal von einer Luscinia der Acamorta.

Ihre einzige Chance würde sein, in die enge Höhle zu entkommen, in der Tenakards Tochter schlief. Mit ein wenig Glück würden die gewaltigen Wölfe nicht durch die engen Tunnel passen. Doch das war eine verdammt vage Hoffnung.

Malvana zog ihre beiden Dolche und nahm eine herausfordernde Kampfhaltung ein. Sie durfte den Bestien unter keinen Umständen zeigen, dass sie Angst hatte. Sie musste sich Zeit erkaufen, indem sie die Wölfe dazu brachte, darüber nachzusinnen, wie gefährlich dieser Zweibeiner tatsächlich war. Wenn der erste Wolf angriff, musste sie ihn so rasch wie möglich töten und dann die Beine in die Hand nehmen. Würde sie jedoch jetzt gleich davonrennen, hätte der Leitwolf sie eingeholt, noch bevor sie den hoffentlich rettenden Tunnel erreichte.

»Na, komm schon!«, schrie sie dem größten Wolf entgegen, von dem sie annahm, dass er das Alphatier war. Gleichzeitig machte sie einen vorsichtigen Schritt zurück, hielt ihren Blick jedoch starr auf die eisblauen Augen des Leitwolfs gerichtet.

In diesen schien eine überraschende Intelligenz zu liegen, als der Wolf sie eingehend musterte, während er weiter langsamen Schrittes auf sie zupirschte.

»Ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit, du hässlicher Bastard!«, schrie sie erneut gegen den Wind und machte dabei noch einen Schritt.

Der riesige Wolf kam näher und näher, sein Knurren wuchs an wie das drohende Grollen eines sich nähernden Gewitters. Er senkte den Kopf, bereit zum Angriff. Malvana packte die Griffe ihrer Dolche fester. Der erste Stoß musste sitzen.

»Man darf sie nicht anschreien, sonst werden sie böse.« Malvana erstarrte. Wer hatte …?

Doch noch ehe sie den Gedanken zu Ende denken konnte, sah sie aus dem Augenwinkel einen grauen Haarschopf im Eingang zur Höhle. Völlig perplex und unfähig, etwas zu tun, sah Malvana zu, wie Tenakards Tochter auf den Wolf zumarschierte. Das kleine Mädchen hatte die Hände vor die Brust gepresst und machte einen verstörten Eindruck. Doch seine großen Augen waren auf den Wolf gerichtet und mit leicht zitternden Schritten tapste es dem Raubtier entgegen und streckte seine Hand aus.

Fassungslos beobachtete Malvana, wie der Wolf seinen Kopf senkte und die ihm dargebotene Hand beschnupperte. Er stieß ein tiefes Brummen aus und leckte der Kleinen dann über das Gesicht. Lumiana streichelte dem Wolf über die Schnauze und das struppige Fell am Hals. Sie hatte Angst und war verwirrt, das konnte Malvana sehen, doch es war nicht die Gegenwart des riesigen Wolfes, die sie beunruhigte, so viel war offensichtlich.

»Die sind ganz lieb«, sagte das Mädchen mit leicht zitternder Stimme, »Aber die Leute haben alle Angst vor ihnen. Ich glaub’, weil sie so groß sind.«

Malvana konnte noch immer nicht fassen, was gerade geschah. Dann wandte sich der Wolf von Lumiana ab und schaute wieder zu ihr. Sofort spannte Malvana sich wieder an und packte ihre Dolche fester. Doch die Aggression schien aus dem Blick des Tieres verschwunden zu sein. Stattdessen schaute der Wolf Malvana mit einem derart durchdringenden Blick an, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ein Tier sollte keinen solchen Blick haben!

Der Wolf ließ den Blick über sie hinweggleiten, betrachtete die Dolche in ihrer Hand und schaute ihr dann noch einmal in die Augen. Noch nie hatte sich Malvana so nackt gefühlt. Es war, als würde der Wolf tief in sie hineinblicken. Malvana wusste nicht zu sagen, woran sie es merkte, doch sie war sich sicher, dass er sie auf eine Weise studierte, wie sie es noch nie bei einem Tier gesehen hatte. Das konnte doch kein natürliches Verhalten sein!

Plötzlich stieß der Wolf ein zufriedenes Schnaufen aus und drehte sich um. Er tapste zurück in den Schnee, ohne Malvana oder das Mädchen auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

Auch die anderen Mitglieder des Rudels machten auf dem Absatz kehrt und verschwanden im dichten Schneegestöber. Bereits nach wenigen Sekunden waren sie nicht mehr zu sehen.

Das Flüstern der Kristalle

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