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I. FREIHEIT SUCHEN Über Macht, den Missbrauchsskandal und die Erneuerung in der katholischen Kirche
ОглавлениеWir leben in einer Zeit, in der sehr deutlich ist, wie sehr die Kirche und die Gesellschaft insgesamt eines neuen Umgangs mit Macht(ausübung) bedürfen.
Eines der Zeichen, das sehr klar auf die Notwendigkeit einer Veränderung hingewiesen hat und es noch tut, ist die jetzt erst offen geführte Debatte um sexuellen Missbrauch in Zusammenhang mit Macht. Der Jesuitenorden hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Was ich davon miterlebt habe, möchte ich hier berichten. Weniger um des Ereignisses selbst willen, sondern um zu zeigen, dass auch große Veränderungen – wie der veränderte Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche – aus vielen kleinen Schritten Einzelner bestehen.
Im Jahr 2010 blickte ganz Deutschland auf das Canisius-Kolleg in Berlin. Die Schule wird von Jesuiten geführt. Missbrauchsopfer aus den Reihen der ehemaligen Schüler hatten sich zu Wort gemeldet und trafen beim damaligen Rektor Klaus Mertes auf die vormals verweigerte Bereitschaft, ihnen zuzuhören und Glauben zu schenken. Eine Riesenwelle weiterer Opfermeldungen kam in Gang. Das Thema bekam viel Aufmerksamkeit in der Presse und Öffentlichkeit, und für uns Jesuiten begann eine sehr kontroverse Auseinandersetzung mit unseren verborgenen dunklen Seiten.
Klaus Mertes, der Hauptakteur, ist seit Jahren ein enger Freund von mir, und so habe ich vieles aus der Nähe miterlebt bzw. auch selbst mitgestaltet. Ein Höhepunkt meiner Präsenz in diesem Prozess war der Blog »Unheilige Macht«, den ich anlässlich des Erscheinens des gleichnamigen Buches eingerichtet habe. In diesem Buch resümieren Jesuiten, was sich seit dem öffentlichen Bekanntwerden der Missbrauchsfälle verändert hat. Da weder die Aufarbeitung noch der Dialog mit den Opfern zu jener Zeit abgeschlossen war, ging es auf dem Blog zeitweise sehr hoch her. Doch zurück zu den Ereignissen, die diesen neuen Umgang mit Missbrauch überhaupt erst ermöglicht hatten: Ausgelöst oder vielleicht besser möglich gemacht hat Klaus Mertes diesen Prozess, weil er etwas getan hat, was für ihn selbstverständlich ist: Er hat den Opfern zugehört. Dafür ist er inzwischen mit dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis ausgezeichnet worden. Sein Wagnis war, ein Tabu zu brechen, nämlich über »so etwas« öffentlich zu reden, die Verantwortung zu übernehmen und sich zu entschuldigen.
Das Thema, um das es eigentlich geht, verstehe ich als Auseinandersetzung mit Macht. Macht, die verhindern kann, dass Menschen sich näherkommen, weil sie in unterschiedlichem Maße über sie verfügen. Macht, die ausgenutzt werden kann und Menschen ins Abseits drängt. Wie wir als Orden, als Kirche und als Gesellschaft mit Macht umgehen, halte ich für ein sehr wichtiges Thema. Die Wirklichkeit ganz anzunehmen und dabei auch Grenzen zu überschreiten ist meine Vision. Wie einzelne, ganz kleine Schritte in diese Richtung aussehen können, davon handelt dieses Buch.
Die Freundschaft zwischen Klaus und mir ist ein Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung.
Sie begann in einer Zeit harter Auseinandersetzungen. Ende der 80er-Jahre suchte unsere kleine Jesuitengemeinschaft in Berlin-Kreuzberg den Kontakt zu Gefangenen der Roten Armee Fraktion. Als sie 1989 in den Hungerstreik traten, begann eine intensive Beziehung zu ihren Angehörigen. Mit ihnen bin ich auf der großen Demonstration während des Hungerstreiks in Bonn gewesen und habe im Auftrag unserer Gruppe vor 10 000 Teilnehmern gesprochen. Dann wurden wir auch von den Gefangenen selbst eingeladen, sie zu besuchen. Diesen Schritt konnten damals nicht alle Mitbrüder leichten Herzens mitansehen. Besonders nicht jene, deren Familien zu den Angriffszielen der RAF gehört hatten, wie die von Klaus. Sein Vater war Mitglied der Regierung gewesen, weshalb ein Anschlag auf ihn hatte verübt werden sollen. Diese angedrohte Ermordung seines Vaters und der Menschen, die dann zufällig in seiner Nähe sein würden, hat Klaus traumatisiert.
Als wir uns 1994 besser kennenlernten, war diese Gefahr zwar lange vorbei – die Gefangenen aus der RAF waren fast alle entlassen –, doch für Klaus bedeutete die Begegnung mit mir eine erneute Konfrontation mit seinen Erlebnissen.
Niemand im Orden und in unserer Umgebung hätte damals geglaubt, dass wir in engeren Kontakt treten würden. Nicht nur wegen unseres unterschiedlichen Umgangs mit der RAF-Vergangenheit. Wir sind einfach Teil verschiedener Welten: Klaus kommt aus einer Diplomatenfamilie, hat einen sehr konservativen Hintergrund und ist bis heute als Schulrektor Vertreter einer Institution und insofern mit Macht ausgestattet. Ich ging damals noch als Arbeiterpriester in die Fabrik und lebe bis heute ohne Amt oder Posten in unserer Wohngemeinschaft zusammen mit Menschen am Rand der Gesellschaft. Meine Mitbewohner haben mich teilweise auch gefragt: Wieso hast du Umgang mit so jemandem?
Als Klaus damals in die Naunynstraße kam, hatte ich eine spontane Abwehr, denn ich war gegenüber Lehrern aufgrund eigener traumatisierender Schulerfahrungen nicht sehr positiv gestimmt. Doch ich hatte seit meiner Schulzeit auch Anstrengungen unternommen, dieses Trauma zu überwinden, und so war für mich klar, dass ich mich der Begegnung mit Klaus stellen wollte, trotz unserer unterschiedlichen Positionen im Orden und in der Gesellschaft. Entscheidend für das Gelingen unseres Treffens war Klaus’ Fähigkeit, sich als Mensch nicht von der Machtposition, die er als Schulrektor innehat, mitreißen zu lassen. In unseren Gesprächen kann er das beiseitelassen und mir auf Augenhöhe begegnen – für mich ist er nicht vorrangig der Rektor.
Nähergebracht haben uns vor allem gemeinsame Interessen: Klaus ist Mitglied der Härtefallkommission geworden, die letzte Chance für abgelehnte Flüchtlinge, doch noch einen gesicherten Aufenthalt zu bekommen. Er hat die Konflikte in seiner Kommunität mit Homosexuellen angenommen und ist dafür beschimpft worden. Er hat eine Schülerin, die in einer Notlage war, geradezu als Kind angenommen. Nicht formal, aber er hat sie in die Kommunität aufgenommen, weil sie von ihrer Mutter verstoßen worden war und der Vater sie verleugnete. Später kam Klaus auch mit in die Gruppe »Ordensleute gegen Ausgrenzung«. Gemeinsam stehen wir mindestens vier Mal im Jahr vor der Abschiebehaft, also vor Mauern, die uns an die Mauern um Europa erinnern. Wir gedenken der Tausenden von Menschen, die jedes Jahr bei dem Versuch, sie zu überwinden, sterben.
2005 hat Klaus mir zum ersten Mal erzählt, dass er von dem etwa 30 Jahre zurückliegenden sexuellen Missbrauch an Jugendlichen in der Schule gehört hat. Er konnte damals nichts machen, weil ihm alles im Vertrauen gesagt worden war und er es höchstens anonymisiert weitergeben durfte. Die beiden Haupttäter waren schon lange aus dem Orden ausgetreten. Doch 2010 wurde er von drei ehemaligen Schülern offen auf die entsetzlichen Ereignisse angesprochen. Sie fragten ihn, ob er ihnen die Adressen ihrer Schulkameraden geben könnte. Die drei wollten sich mit ihnen in Verbindung setzen, um von ihren eigenen Missbrauchserfahrungen zu erzählen und von den anderen zu erfahren, wie es ihnen ergangen war. Dieses Anliegen wollte er unterstützen, und so schrieb er an die ihm verfügbaren Adressen der ehemaligen Schüler der potenziell betroffenen Jahrgänge. In diesem Brief forderte er sie unter anderem auf, sich an ihn oder die Beauftragte für die Prüfung sexuellen Missbrauchs zu wenden und von ihren Erfahrungen zu erzählen. Der Brief gelangte dann eine Woche später durch einen der Adressaten an die Berliner Morgenpost.
Als Klaus diesen Brief an die ehemaligen Schüler schrieb, fragte er mich wie andere Mitbrüder auch, ob das jetzt der richtige Schritt sei. Wir wussten ja, dass dieser Brief, an viele Hundert ehemalige Schüler verschickt, ganz sicher an die Presse weitergegeben werden würde. Im weiteren Prozess kam Klaus häufig zu uns, wenn seine eigene Kommunität überfordert war. Sie hat sehr hinter ihm gestanden, aber bei bestimmten Themen haben seine Mitbrüder ihm gesagt: Geh mal in die Naunynstraße und sprich mit den Leuten. Denn in seiner Kommunität gab es keine Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, und hier in der Naunynstraße waren immer Leute da, die eigene Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch hatten.
Dafür, dass wir beide unsere Grenzen überschritten haben und eine Freundschaft wachsen lassen konnten, war wesentlich, dass wir beide in unsere Abgründe des Ausgegrenztseins geblickt und sie auch einander gezeigt haben. Das ist ein wechselseitiger Prozess: Indem er offen geworden ist für seine eigenen Verletzungen – dazu gehört die nachhaltige Erschütterung, den Vater unter Umständen durch einen Anschlag der RAF verlieren zu können – konnte ich auch für meine eigenen Wunden offen werden. Dazu gehörten mein Schultrauma, aber auch verächtliche Ausgrenzungen auf der Arbeit und im Orden. Genau darin liegt ja das Heilende der Liebe.
Erstaunlicherweise ist es mir dann, als ich selbst Gesprächspartner für Missbrauchsopfer wurde und ich mich in die persönliche Begegnung mit diesen Menschen begeben habe, um eine ganz ähnliche Haltung gegangen. Mir war am wichtigsten, den Opfern zuzuhören und nach einer Chance zu suchen, dass sie nicht nur Opfer sind. Das gilt natürlich für die Täter genauso. Auch sie brauchen die Chance, aus dieser Erstarrung, den anderen zu missbrauchen, herauskommen zu können. Das gelingt nicht einfach so. Ich habe mich gefragt, welche Vorgaben ich machen kann, damit ich mich wenigstens auf den Weg begebe.
Ein erster Schritt ist, mich nicht als der Bessere darzustellen, und ganz besonders, mich nicht rauszuhalten. Dieses Raushalten ist der Beginn der Distanzierung, also die Verweigerung des Bekehrungsschrittes, mir selbst einzugestehen, dass ich damit etwas zu tun habe, auch wenn ich damals nicht dabei war und vielleicht ganz woanders gelebt habe. Bekehrung findet in dem Moment statt, in dem ich mich nicht herausziehen will aus dieser menschlichen Beziehung, die zu den Opfern, aber auch zu den Tätern besteht und die mich nicht auf einer Seite festhält. Und die mir zeigt, dass ich beide Seiten in mir habe, dass ich Täter sein kann und dass ich von Machthabern oft genug missbraucht worden bin. Darüber habe ich bei Gefängnisbesuchen von lebenslänglich Verurteilten oft nachgedacht. Diese Dinge weiter wirken zu lassen und darüber offen zu werden für das, was jetzt dran ist, empfinde ich als Herausforderung. Denn es kann sein, dass für das Opfer etwas ganz anderes dran ist als für den Täter. Aber die Versöhnung, auf die ich hoffe, ist die Begegnung von beiden.
Wie dieser Prozess abläuft, in dem wir herausfinden, was jetzt dran ist, ist von zwei Schritten geprägt: Als Erstes geht es darum, wirklich zuzuhören, ohne etwas zu sagen und ohne zu verurteilen. Und der zweite Schritt besteht darin, zu spüren, was angemessen ist, wie sie als Opfer auf ihre Erlebnisse reagieren können und ob es für sie dran ist, auch etwas zu fordern. Ich als Zuhörer setze mich damit auseinander und spüre nach, was ich davon verstehen und bejahen kann. Beispielsweise habe ich von Menschen die Forderung gehört, dass alle Jesuiten, die von dem Missbrauch gewusst haben, »eliminiert« werden sollen. Damit war gemeint, dass sie von ihrer Position entbunden, aus dem Orden ausgeschlossen und auch nicht christlich beerdigt werden sollen. Für mich sind das überdrehte Forderungen, die ich nicht verstehen kann. Für die Fordernden ist es wiederum schwer verständlich, dass diese Menschen meine Mitbrüder und Jesuiten bleiben. Wir als Orden sind eine kranke Familie, die sich von dem Missbrauch distanzieren muss, aber nicht von dem Menschen, der einen anderen missbraucht hat.
Ich möchte die Opfer dabei unterstützen, auch zu ihren Forderungen zu stehen. Mein Wunsch ist, dass Heilung passiert, aber ich kann sie nicht machen, und ich muss aufpassen, dass ich nicht aus dem Prozess aussteige, wenn er nicht schnell genug geht und Heilung nicht sichtbar passiert.
Etwas Verbindendes gibt es in beiden Situationen, in meiner Annäherung als Jesuit an das RAF-Umfeld und im Hinschauen auf die Missbrauchsfälle in Institutionen der Jesuiten: Es geht darum, ganz aus den eigenen Bildern und Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, auszutreten. Nur wenn das gelingt, kann eine tief greifende Infragestellung der eigenen Machtausübungen passieren. Was nicht sein darf, was undenkbar ist, kann so überhaupt erst einmal ins Blickfeld rücken. Auch die RAF-Mitglieder und ihre Familien sind Menschen, die auf ihre Weise an etwas glauben. Auch Jesuiten sind Menschen, die schweres Fehlverhalten ausüben können.
Bis heute ist dieser Prozess der Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der Machtausübungen auch deshalb nicht abgeschlossen, weil es ein Prozess ist, den nicht nur ich als Einzelner, sondern zugleich auch mein Orden als Ganzes, als Institution, durchläuft. Dass diese Auseinandersetzung den Orden beinah auseinanderreißt, betrifft mich. Denn die Frage, wie sich jeder von uns mit dem Vorgefallenen auseinandersetzen mag, wird bis heute höchst unterschiedlich beantwortet. Die Reaktionen meiner Mitbrüder reichen von »am liebsten gar nicht«, »betrifft mich nicht« bis zu »das ist eine Chance für einen neuen Aufbruch«.
Es gibt die spontane Reaktion, sich hinter eines der vielen möglichen »Aber« zurückzuziehen: Aber ich habe gar nichts getan. – Aber ich konnte keine Entscheidungen treffen, als es passiert ist. – Aber mir waren die Ausmaße der Übergriffe gar nicht klar. – Aber ich bin nicht mehr in der Lage, mich zu erinnern und darüber zu reden, ich bin zu alt und krank.
Das ist eine erste Reaktion der Abwehr, weil es eben moralisch verwerflich ist, so was zu tun, zumindest sieht man es heute so, auch die Täter. Und so kommt es zu einem Schweigen. Dann braucht es eine Bekehrung der Sichtweise. Das ist so ähnlich wie nach dem Krieg, da hat alle Welt gesagt: »Nee, nee, das ist gar nicht so gewesen, wie ihr das erzählt, ihr, die ihr Opfer geworden seid.« Diese Bekehrung bedeutet ja, einen Schmerz anzunehmen, und dieser Schmerz wird verdrängt. Dann kommt es irgendwann doch zur Bekehrung, aber die ist nicht bei allen zur selben Zeit – manche nehmen’s mit ins Grab –, und ich kann auch nicht erzwingen, dass sie bei allen gleichzeitig stattfindet. Das macht so eine Aufarbeitung wahnsinnig schwer. Also in diesem Schweigen und diesem Weggucken (»Das muss doch mal genug sein«) immer wieder neu in die Offenheit zu treten, dass es vielleicht doch noch was zu sehen gibt, was ich nicht gesehen habe, und dass Reaktionen nötig sind, die ich vorher nicht gesehen habe, und mich dann zu fragen: Wie gehe ich mit dem Erkenntnisfortschritt um, den ich jetzt habe? Kann ich sagen: »Ich sehe heute, dass das Unrecht war, auch wenn ich das gestern nicht gesehen habe«? – in diesen Prozess einzutreten, das nenne ich Bekehrung.
2010 wurde den Opfern endlich Gehör geschenkt, und es zeigte sich, dass ihre Würde der Macht der Kirche geopfert worden war. Da mussten wir Jesuiten uns alle auf einen inneren Prozess einlassen und jeder für sich entscheiden, ob er die Erzählungen der Opfer hören oder aber ihre Berichte beiseiteschieben wollte. Tatsächlich haben manche von uns geglaubt, dass bald Gras über die Sache wachsen würde, und sich fürs Weghören entschieden. Das ist heute, 2013, nicht anders. Die Spaltung im Orden besteht weiter und spiegelt sich auch in der Weltkirche, die angesichts der notwendigen strukturellen Veränderungen aufgrund dieser Verbrechen in ihren eigenen Reihen schnell mutlos wird.
Wir Jesuiten haben in unseren Ordensregeln festgelegt, dass wir uns gegenseitig begleiten und uns jeweils zu zweit engagieren. Es geht dabei um Offenheit, nicht um Misstrauen und Kontrolle. Genau das einzuüben ist nicht einfach, umso weniger, als wir Jesuiten in sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern leben und ein Austausch der Fragen und der Freude darüber nicht mal eben so zwischendurch möglich ist. So wird die angemahnte Begleitung in vielen Arbeiten der Jesuiten nicht praktiziert und ist aus meiner Sicht auch ein Grund dafür, dass es zu Vereinzelungen kommen konnte und dazu, dass Missstände nicht offen angegangen, sondern vertuscht werden.2
Mich berührt dabei eine Frage ganz besonders: Wo passiert es jetzt? Wo gebrauche ich, wo gebraucht der Orden jetzt im Moment seine Macht auf eine Weise, die andere verletzt? Wenn ich mich einmal entschieden habe hinzusehen, dann sind meine Augen offen und ich bin sensibel geworden.
Wesentlich scheint mir die Auseinandersetzung mit unserer männlichen Macht. Eine Bekehrung ist notwendig, also ein Akzeptieren der Wirklichkeit in möglichst allen Dimensionen. Das betrifft mich als Einzelnen, den Orden, die Kirche und auch die Gesellschaft: Es geht darum, auch das Erschreckende ganz wahrzunehmen. Damit einher geht auch die Frage nach der Position der Frau in der katholischen Kirche oder auch, welche Haltung die Kirche zu den vielen gelebten Formen von Liebe einnimmt.
Sich auf diesen Prozess einzulassen hat für mich etwas mit Wandel und Lebendigbleiben zu tun, damit, Verbindung aufzunehmen zu dem, was uns Menschen jetzt bewegt. Die große Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, wie das im Einklang mit unserer Überzeugung geschehen kann.
Sabine Wollowski: Du hast im Zusammenhang mit dem Umgang und der Auseinandersetzung mit den Opfern und Tätern von Missbrauch den Begriff »Bekehrung« verwendet. Kannst du ihn noch etwas weiter ausführen?
Christian Herwartz: Bekehrung beinhaltet, immer mehr Wirklichkeit wahrzunehmen. Ich muss an Bernard Glassman denken, 1939 in New York als Sohn jüdischer Emigranten geboren, der Zen-Meister wurde und 1996 mit seiner damaligen Frau die »Zen Peacemakers« gründete. Die Peacemakers laden seit 1996 unter anderem zu Retreats in Ausschwitz ein, um mit Menschen aus muslimischen, jüdischen, buddhistischen und christlichen Bereichen vor dem ehemaligen Verbrennungsofen zu meditieren. Dabei handeln sie nach den drei Grundsätzen der Zen Peacemakers: Nichtwissen, Zeugnis ablegen und liebende Haltung. (Mehr dazu auf: www.zenpeacemakers.org)
Das ist eine sehr bewegende Frage: Wie kann ich mich dieser Realität im ehemaligen Konzentrationslager stellen und darin zum Leben finden?
Mich hat sehr beeindruckt, dass Bernard Glassmann die Retreats seit vielen Jahren begleitet und dann gesagt hat: Jetzt können das andere weitermachen. Und er war zwei Jahre nicht dabei. Aber dann hat er gemerkt, dass er wieder zurück muss, weil es wichtig ist, sich der Realität immer wieder neu zu stellen.
So etwas Ähnliches erfahren wir auch mit unseren Gottesdiensten vor dem Abschiebeknast in Berlin: Wir müssen immer wieder hingehen, weil wir es sonst vergessen. Bekehrung kann man nicht einfach machen und dann hat man sie, sondern sie ist etwas Lebendiges, was immer wieder reaktiviert werden muss.
In so einer Handlung wie der von Bernard Glassman ist mir deutlich geworden, dass wir uns dieser Wirklichkeit – ob sie schmerzt oder nicht – immer wieder neu stellen müssen, damit es wirklich eine Bekehrung ist. Es kann auch sein, dass die Bekehrung blockiert ist, weil Ängste bestehen oder ein Nicht-wahrhaben-Wollen. Dann ist vielleicht zuerst Heilung oder Befreiung dran, und es ist gut, genau hinzuspüren, welches der nächste Schritt sein kann: Bekehrung oder erst einmal die Vorbereitung darauf. Genau so wichtig ist aber auch das Vertrauen darauf, dass es möglich ist, dass ich auch in meiner Identitätsvorstellung bekehrt werden kann. Ich kann aus diesem »Ich muss das oder das sein« austreten in die Freude des Seins, also in die Freude, dass ich bin. Diese verschiedenen Schritte der Bekehrung sind alle ein Geschenk, ich kann sie nicht konstruieren nach dem Motto »Man nehme …« wie in einem Kochbuch. Sondern alles, was ich dafür tun kann, ist, offen dafür zu werden, und dann kann sich ganz unvermittelt dieses Glücksmoment einstellen. Wichtig ist auch, dieses Moment nicht als alltäglich beiseite zu schieben, sondern es als Glücksmoment anzunehmen. Das ist ein wichtiger Teil von Bekehrung: sich zu erinnern. Deshalb ist ein wiederholtes Zurückkehren an den Punkt der Bekehrung auch etwas ganz Entscheidendes.
SW: Ich versuche noch mal zusammenzufassen, weil es wirklich sehr komplex ist. Bekehrung siehst du als einen Schritt, mehr Wirklichkeit wahrzunehmen als vorher, also sich mehr zu öffnen und mehr sehen zu können. Und du sagst, das geht manchmal nicht sofort, weil vielleicht Angst da ist oder ein Schmerz. Da möchte ich in Bezug auf die Geschichte mit den Jesuiten fragen: Was ist das für eine Angst? Was ist das für ein Schmerz, der manche Menschen von der Bekehrung abhält?
CH: Es gibt diese äußere Bekehrung, also Wirklichkeit zu sehen, und diese innere, sich dazu zu stellen und sich selbst zu befragen: Wer bin ich angesichts dieser Ereignisse? In dem Konflikt mit den Jesuiten ist beides da: zum einen, den Fakt zuzulassen, dass da ein Verbrechen vorliegt, und das nicht zu verkleinern und auch nicht ein bisschen wegzuschieben. Und zum anderen auch zu fragen: Wer bin ich dadurch geworden, obwohl ich gar nicht der Täter war, aber vielleicht mit einer Illusion von Orden gelebt habe oder einer Illusion von Kirche als dem heiligen Ort auf der Erde? Und zu merken, dass er nicht so heilig ist, wie ich ihn in meiner Vorstellung und meiner Identitätssuche gesehen habe. Das ist eine Umkehr, die Bekehrung zu einem neuen Bild von Kirche und von mir selbst darin.
SW: Und das erfordert Mut.
CH: Ja, Mut, dass dieses ewig Richtige eben nicht ewig richtig ist. Also dass das Leben weitergeht und – wie soll ich das sagen? – ich das nicht erzwingen kann beim andern. Das ist wahnsinnig schwer. In der Gesellschaft werden dann die Geschütze aufgefahren und die Juristerei wird bemüht, aber das ist ja alles äußerlich. Entscheidend ist doch: Wie weit geht es innerlich? Da geht es oft gar nicht mit Vorwürfen. Es ist eine Frage des Vertrauens, ob ich mit dem anderen so reden kann, dass er sich öffnet und dass ich mich öffne und dann vielleicht auch eine Furcht spüre, die mir vorher gar nicht bewusst war, aber die Tarnung fallen lasse, die Schuhe ausziehe. Ich denke, diesen Weg zu gehen, ist allgemein menschlich, das hat nichts mit einer Religion zu tun.
SW: Ja. Aber die katholische Kirche ist gezwungen worden, aktiv zu werden, weil sich die Opfer zu Wort gemeldet haben – zum Teil ja schon viel früher – und die Bereitschaft da war, zu hören.
CH: Die Frauen haben das in den 80er-Jahren sehr oft gesagt und viele Artikel geschrieben und so, und sie sind auch ganz überwiegend die Leidtragenden von sexuellem Missbrauch. Man rechnet damit, dass in Deutschland jede dritte oder vierte Frau solche Erfahrungen in ihrer Jugend gemacht hat. Das ist ein Krebsgeschwür für mich.
Diesmal waren es Männer. Männern wird gesellschaftlich irgendwie schneller zugehört. Und man hat einen Sündenbock gehabt, in diesem Fall die Kirche, das hat es auch leichter gemacht. Aber es ist ein ganz kleiner Prozentsatz in der Gesellschaft, in der das unter diesem Vorzeichen passiert, und den entscheidenden Sprung haben wir noch lange nicht gemacht. Aber ich bin der Meinung, dass wir vor der eigenen Haustür zu fegen haben, und die Erfahrung, die wir gemacht haben, einmal festzuhalten. Das war der Grund für dieses Buch, Unheilige Macht, das ein Anfang ist, endlich hinzugucken und nicht mehr wegzugucken. Ich habe gelernt, dass die schwierigste Geschichte in dem ganzen Missbrauchsthema ist, dass die Betroffenen ihren Vertrauenspersonen sofort davon erzählt haben, sieben Mal im Durchschnitt, und es erst, wenn die darauf nicht hören, zu dieser Verdrängung über Jahre kommt. Der Kern des Missbrauchs ist für mich das Nichthören, und damit sind wir wieder bei unserem Thema. Damit sind wir auch beim Grundthema der Juden: »Höre Israel!« Oder bei anderen Religionen. Es geht darum, wieder ins Hören zu kommen. Deshalb gibt es in diesem Buch auch ein zusätzliches Kapitel unter dem Titel »Bekehrung lässt sich nicht eingrenzen: Wohin wir noch schauen wollen«. Wie reagiere ich denn dann darauf? Habe ich aus diesem Unglück gelernt oder höre ich auch hier wieder weg? Das ist für mich die spannende Frage. Wir haben am Ende des Buches eine ganze Reihe Themen aufgelistet, wo wir noch gar nicht hinhören, wo wir noch nicht die Kraft dazu haben.
SW: Kannst du sagen, wie das bei dir persönlich ist? Was hat sich bei dir verändert, dein Bild von Kirche oder deine Identität als Jesuit?
CH: Das ist eine sehr gute Frage. Ich kann vielleicht noch gar nicht alles sagen, weil ich noch mitten in dem Prozess stecke. Aber ich weiß, ich kann die Kirche und den Orden nicht mehr ohne diese Verbrechen sehen. Das bremst mich, glorifizierende Aussagen zu machen. Wenn ich von Kirche rede, kann ich das nicht mehr in der gleichen Weise wie vor 30 Jahren. Ich kann das noch nicht genauer benennen, ich weiß nur, das geht nicht mehr. Zum Glück hat mir das Vertrauen von Menschen, die durch solche Schmerzen gegangen sind, einen Zugang erhalten zu dieser Wirklichkeit, die ich noch nicht auf den Punkt bringen kann.
SW: Du hast gesagt, dass du früher von Kirche anders sprechen konntest als jetzt?
CH: Ich habe mich früher ein bisschen ferngehalten von den ganzen sexuellen Fragen, weil ich das als Ablenkung gesehen habe von der sozialen Frage, vor die ich gestellt war und auch weiter gestellt bin. Aber jetzt ist mir klar, dass diese Fragen auch wichtig sind, dieser Teil der Kirche, den ich für furchtbar zerstörerisch halte. Jetzt haben sich die Fragen vor die Tür gelegt, und ich kann nicht mehr so tun, als wenn ich sie nicht anschauen müsste.
SW: Um es noch stärker einzukreisen: Geht es dir um die Haltung zu Sexualität – es muss ja gar nicht nur Missbrauch sein, sondern auch zum Beispiel die Haltung zu Homosexualität?
CH: Vielleicht sollte man besser sagen: Wie wird mit Liebe umgegangen, die in der Kirche so hochgehalten wird und zugleich in der Gesellschaft in konkreten Formen gelebt wird und gerade in so einer Umbruchszeit wie der unseren sehr vielfältige Formen angenommen hat? Wenn ich in diesem Bekehrungsprozess aufwache, merke ich, dass ich mit all diesen verschiedenen Formen der Liebe schon Kontakt gehabt habe. Als ich nach Berlin kam, wurde ich von Homosexuellen angesprochen, ob ich nicht ihr Seelsorger werden könnte. Und ich habe Kontakt zu Menschen, die ihre Geschlechtswelt umgewandelt haben. Eine Mutter zum Beispiel, die einen Sohn geboren hat und heute ein Mann ist. Oder lesbische Beziehungen. Wenn ich da hingucke, merke ich, wie ich mich selbst in diesem Prozess verändert habe. Zu dieser Veränderung auch Ja zu sagen ist ein Teil dieses Bekehrungsprozesses.
Sabine Wollowski und Christian Herwartz
SW: Aber gibt es da nicht einen Unterschied? Wenn du als Seelsorger oder Priester angefragt wirst, kannst du das in deinem Alltag einfach tun oder auch nicht, je nachdem, wie es dir in den Kram passt. Aber was du in deinem eigenen Leben erfährst, betrifft dich ganz anders, genauso wie die Frage, was davon auch in einem größeren Rahmen öffentlich werden kann, oder?
CH: Ich wollte in meinem Leben nie vorrangig professionell, distanziert als Helfer oder Seelsorger tätig sein. Deshalb wurden die Fragen der anderen auch oft zentral meine eigenen.
Es gibt Situationen, die von außen so drängen, dass ich mich ihnen nicht entziehen kann. Und diese Anfragen der Missbrauchten, ihnen zuzuhören, sind so ein Fall, wo ich mich nicht entziehen konnte. Da sind Menschen und auch die Gemeinschaft schuldig geworden. Und angesichts dieser Schuld eine Bekehrung und wieder eine Lebensperspektive zu finden … das ist eine besondere Art von Bekehrung, die nicht so oft vorkommt. Obwohl Bekehrung wohl immer etwas mit Gewalt zu tun hat – entweder auf Gewalt reagiert oder Gewalt auslöst. Also das Vorstoßen zur Wahrheit, auch zur eigenen Wahrheit, ist so umwerfend, ist meine Erfahrung, dass das nicht nebenbei passiert.
SW: Es stellt die Dinge auf den Kopf.
CH: Ja klar. Zum Beispiel ist es für mich atemberaubend, wenn ein Mensch sagt: Ich bin nicht von dem Geschlecht, mit dem ich gesehen werde, sondern ich habe ein anderes, und ich will dazu stehen. Aber genauso: Ich habe Gott verleugnet, aber ich weiß jetzt, dass er der Lebensspender ist. Es sind ganz krasse Lebensumbrüche. Dieses Hinhören und Sich-dadurch-Verändern, das ist das Leben, und es ist immer wieder ganz neu, welche Früchte das trägt.
SW: Gibt es ein Bild oder eine Geschichte aus der Bibel, das dir in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist?
CH: Der beste Freund von Jesus war ja Petrus. Und der hat Jesus eine Liebeserklärung gemacht und ihn Christus genannt. Kurz darauf, in diesem Vertrauen, erkannt zu sein, weiht Jesus die Jünger ein und kündigt an, dass er nach Jerusalem gehen und dort umgebracht werden wird. Da sagt sein Freund Petrus: Das darf nicht geschehen. Und daraufhin nennt Jesus ihn Satan. Das ist dieser Schritt hin zur Wahrheit: Jesus sieht, wie Petrus ihn von seinem Weg, den er gehen muss, abhalten will, und erkennt dessen Reden als Versuchung. In die Wahrheit zu treten kann also auch heißen, den eigenen Freund als Satan zu sehen und ihn als Versucher zu erkennen. Das ist auch mein Erlebnis jetzt, dass ich manche Dinge als Versuchung erkenne, die in diesem Missbrauchsskandal auftauchen. Für mich ist es ein unheimliches Geschenk, ein paar Mitbrüder zu finden, die das genauso sehen. Insofern ist es bis jetzt sogar eine größere Eingliederung in den Orden gewesen.
SW: Warum?
CH: Weil ich Mitbrüder gefunden habe, denen es genauso geht wie mir und die auch nach einem Weg suchen, jetzt nicht in ein Vergessen zu gehen, sondern mit dieser Wunde weiterzusuchen, wohin der Weg führt. Das sind die beiden, mit denen ich das Buch herausgegeben habe, aber auch Klaus Mertes und andere. Das macht mich sehr froh. Also Bekehrung ist Offenheit leben, auch wenn das im ersten Moment erschrecken mag.
Treffen der Arbeiterpriester 2008