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Der Rat eines alten Mannes
ОглавлениеEs war Juli im Jahre 1870.
In einem Bergwerk in der Nähe von Denver arbeiteten die Goldgräber unter der brütenden Nachmittagshitze. Einer von ihnen war John Smith. Im Alter von Mitte 20 wischte er sich den Schweiß von seiner Stirn, der ihm unter seinen schwarzen Haaren runter rang. Den Spaten in der Hand und die Müdigkeit in seinen blauen Augen beförderte er das gerade abgeschlagene Gold in einen Eimer.
John stammte ursprünglich aus Birmingham. Vor sechs Jahren war er nach Amerika ausgewandert, in der Hoffnung, er würde mit überquellenden Geldbeuteln zurückkommen.
Bislang hatte er jedoch nicht viel Profit gemacht. Zuviel musste er für Miete und Lebensmittel bezahlen.
John hatte sein Haus in Denver. Es war eine kleine Holzhütte. Viel brauchte er nicht, da er ja von morgens bis abends im Bergwerk arbeiten musste, in dem er sich ein paar Quadratmeter gekauft hatte.
John würde bei weitem mehr verdienen, hätte er nur ein wenig mehr Glück. Jeden Tag brachte er gerade mal nur einige Gramm Gold zusammen. Es gab Arbeiter, die Tag für Tag kiloweise Gold bei der hiesigen Bank gegen Geld eintauschten, wofür sie einige tausend Dollar bekamen. Johns größter Lohn hingegen waren bisher 250 Dollar gewesen, wovon er den größten Teil gleich für die Miete ausgeben musste.
John seufzte in sich hinein.
Seit Tagen wurde er von Heimweh geplagt. Er wollte seine Eltern wieder sehen, seine Großeltern, aber besonders seine kleine Schwester Marie. Ihr hatte er versprochen, schönen Schmuck mitzubringen, doch er war weit davon entfernt, sich auch nur eine Perle leisten zu können.
In Gedanken ließ er seine kindliche Vergangenheit Revue passieren.
Er erinnerte sich auch an seine kindlichen Träume; wie er den großen Sprung schaffen wollte, wie er ihre Schulden in Luft auflösen wollte, wie er der familiäre Held sein wollte.
Jetzt in der wahren Realität angekommen wusste er, dass kindische Träume meist nicht erfüllt werden können und wenn doch, dann nur mit einer riesigen Portion Glück, die ihm leider momentan fehlte.
„Hey Smith“, rief eine Stimme und John wachte aus seinen Träumen auf, „wenn du da so weiter stehst, wirst du nie zu Geld kommen.“ Der Mann hinter ihm hatte gesprochen.
„O’Brien“, erwiderte John.
O’Brien war ein alter geschwächter jedoch erfolgreicher Goldgräber. Er trug einen braunen Cowboyhut, worunter seine restlichen weißen Haare zu sehen waren. Während er sich näherte, strich er sich durch seinen weißen Vollbart.
„O’Brien“, wiederholte John, „was machen Sie denn hier?“
„Weißt du Smith, ein Mann wie ich, der kaum noch einen Spaten bedienen kann, denkt gerne an alte Zeiten zurück. Hier bin ich groß raus gekommen, nachdem ich hierher gezogen war.“ Er sah sich in der Gegend um. „Ist das alles, was du gesammelt hast?“, fragte er anschließend und wies dabei auf den nicht einmal halb voll mit Gold gefüllten Eimer.
„Leider“, entgegnete John. „Wünschte es würde mehr sein. Aber so geht das schon seit Monaten.“
„Wo kommst du eigentlich her? Ich vermute, dass du nicht in Amerika geboren bist.“
„Nein, bin ich nicht“, antwortete John. „Ich stamme aus Großbritannien.“
„Großbritannien“, murmelte O’Brien. „Das ist weit weg, Junge“, sagte er nun wieder mit normaler Stimme, „befolge einen guten Rat eines alten Mannes. Kehre zurück in deine Heimatstadt. Du wirst hier nicht mehr glücklich werden. Am finanziellen Ende bist du eh schon fast.“ Er klopft John auf die Schulter und ging weiter.
John sah ihm nach.
Er war überhaupt nicht zufrieden mit dem Rat O’Briens. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Er wusste nicht, was er noch vorhat. Er wusste nicht, was er sich für die Zukunft vorgenommen hatte.
Doch andererseits hatte er Recht. Seine Familie wollte er wieder sehen. Alpträume hatte er schon wegen ihnen. Und wenn er genau nachdachte, hatte er auch nicht viel erreicht.
John schmiss den Spaten zu Boden.
Er hatte keine Lust mehr zu graben. O’Brien hatte ihm endlich die Augen geöffnet. Augen hinter denen Fantasien von Ruhm und Reichtum die Macht erlangt hatten. Unnütze Fantasien, denen er nicht helfen konnte, damit sie in Erfüllung gehen.
Er nahm seinen Eimer am Henkel und ging zurück nach Denver. Dort tauschte er das wenige ausgegrabene Gold gegen handfestes Papiergeld aus. Dann ging er nach Hause.
Als er das Haus betrat, stand er bereits in seinem Wohnzimmer, das auch gleichzeitig sein Schlafzimmer darstellte. Ein Sofa und ein Tisch in der Mitte des Raumes waren die einzigen Möbel, die er besaß, und außer einer kleinen Küche am Ende des Zimmers, war nichts anderes mehr in dem Haus. Musste man mal auf die Toilette, hatte man außerhalb des Hauses hinter den nächsten Busch zu gehen.
John steckte das Geld in einen Kessel bei der Küche, in dem er sein Geld vor ungebetenen Gästen versteckte. Dann ging er wieder nach draußen und machte sich auf den Weg in den Saloon, der nur einige Meter von seinem Haus entfernt war.
Die Leute, die den Pub besuchten, kamen oft auch von weit her. Sie würden wissen, wie John am besten das Land verlassen und nach Birmingham reisen kann.
Als John den Saloon betrat, steuerte er zielgerichtet auf den Tresen zu. Dort bestellte er sich als allererstes einen doppelten Whiskey, den er bis zur Hälfte austrank. Dann sah er sich um.
Der Saloon war halb leer.
Zu dieser Tageszeit waren die meisten Menschen noch in den Bergen, um nach Gold zu graben, oder am South Platte, um dort nach Gold zu waschen. Oder sie bemühten sich als Bauern um ihren Ackerbau.
Fremde waren nicht in dem Pub. Dafür waren zwei Tische von Leuten umringt, wo offensichtlich Skat gespielt wurde.
John hatte keine Lust an einen Tisch zu gehen. Er fühlte sich etwas niedergeschlagen. Doch plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Vor Schreck drehte er sich um.
„Na Smith, schon Reisefieber?“, schmunzelte O’Brien, der sich neben John niederließ.
„Nicht wirklich“, antwortete John wahrheitsgetreu. „Aber ich werde Ihren Rat annehmen…“
„Das freut mich zu hören.“
„Doch wie soll ich nach Großbritannien kommen?“, fuhr John fort, als hätte O’Brien ihn nicht unterbrochen. „Ich habe keine Reiseerfahrung, keine Ahnung wie ich in den Osten dieses Landes kommen soll, um den Atlantik zu überqueren, und ich habe auch nicht genug Geld, um eine solche Reise zu finanzieren.“
„Smith“, sagte O’Brien ganz ruhig, als wäre es das einfachste der Welt, einmal um den halben Globus zu reisen, „bleib ganz ruhig. Schließlich hast du ja mich dafür.“
„Ach wirklich.“
„Ja. Hol erst einmal tief Luft, um dich zu beruhigen, und dann hör mir zu. Also. Du wirst ans Ufer des South Platte gehen und ein Segelschiff ausmachen, dessen Besitzer dich nach Omaha bringen kann. Dort musst du eine Fahrkarte kaufen, um einen Zug besteigen zu können, der dich nach New York bringt. Dort angekommen heuerst du dich auf einem Schiff an, das dich nach Großbritannien bringt. Dort musst sehen wie du nach Birmingham kommen kannst. Soviel ich weiß, steuern die meisten Schiffe London oder Liverpool an. Folglich nimmst du am besten einen Zug.“
John stürzte nach diesen Informationen erst mal seinen restlichen Whiskey hinunter. Dass O’Brien soviel wusste, hatte er ihm nicht zugetraut.
„So müsstest du eigentlich nach Hause kommen“, schloss dieser.
„Sicher?“, entgegnete John und der Sarkasmus triefte aus seiner Stimme. Er glaubte nicht daran, dass es so einfach werden würde. „Denken Sie nur mal an die Indianer“, fuhr er den alten Mann an. „Die Sioux greifen gerne Züge an. Auf dem South Platte gibt es Flusspiraten und die endlosen Gefahren, die es auf hoher See gibt, haben Sie auch nicht bedacht.“
„Sag bloß mein Junge, du glaubst an Seeungeheuer. Diese Monster, von denen Seemänner gerne berichten, sind alles nur Märchen. Seemannsgarn nennt man so was. Seemannsgarn.“
„Noch ist es nicht bewiesen, dass solche Kreaturen nicht doch existieren. Ich glaube an Riesenkraken und andere Monster, die in finsteren Höhlen in der Tiefe der Ozeane leben sollen und nur darauf warten, vorbeizufahrende Schiffe in die Tiefe zu ziehen.“
„Schieben wir diesen Aberglauben mal beiseite“, erwiderte O’Brien, als wären Johns Befürchtungen genauso überzeugend, als könne man aus Stroh Gold spinnen. „Denk mal genau nach. Wenn du diesen Gefahren nicht trotzen kannst, wirst du dein ganzes Leben hier als armer und unglücklicher Goldgräber verbringen müssen. Denk mal über meine Worte nach Smith. Denk mal drüber nach.“ So ließ er John stehen, stand auf und ging hinaus auf die Straße.
John selber bestellte sich noch ein Bier, trank es auf einen Schluck aus und folgte O’Brien durch die Tür.
Als der nächste Morgen anbrach und John von den Sonnenstrahlen geweckt wurde, stand sein Entschluss fest: Er würde den gefährlichen Weg antreten, um seine Familie wieder sehen zu können.
Den halben Tag arbeitete er in der Goldmine, ging dann nach Denver zurück und bereitete sich auf die Reise vor. Er kaufte sich einen Rucksack, in dem er Proviant und weitere Reiseutensilien unterbrachte.
Am Abend ging er in den Saloon, um noch einmal O’Brien zu treffen.
Er wurde nicht enttäuscht.
Der Saloon war zur Dämmerungszeit immer überfüllt. An den Tischen saßen Leute und spielten Skat, Poker oder Russisch Roulette. Andere standen an der Theke und stürzten sich einen Whiskey nach dem anderen hinunter. In einer Ecke des Pubs keilten sich zwei Männer und schlugen sich dabei in ihre betrunkenen Gesichter. Das alles wurde von fetziger Countrymusik begleitet, die von einer vierköpfigen Band gespielt wurde, die auf einer Bühne nahe der Tür ihr bestes gab.
John fand O’Brien an der Theke, ein halbvolles Bierglas in der Hand. Diesmal war John es, der eine Hand auf O’Briens Schulter legte und ihn somit erschreckte.
„Smith“, sagte er erstaunt. „Reisevorbereitungen abgeschlossen?“
„Ja“, sagte John, während er sich ebenfalls ein Bier bestellte.
„Du reist also tatsächlich ab“, schloss der alte Mann und prostete John zu.
„Haben Sie mir doch vorgeschlagen.“
„Stimmt. Es kommt bloß alles so überraschend und plötzlich.“
Beide stießen ihre Gläser gegeneinander und O’Brien sagte: „Auf eine gute Reise.“
„Auf eine gute Reise“, stimmte John ihm zu und nahm einen kräftigen Schluck Bier.