Читать книгу Weil Bücher unsere Welt verändern - Christian Klein - Страница 16
um 1400 Hafis Diwān Rosen aus dem Orient
ОглавлениеIn seinen Ghaselen von Liebe und Wein verwebt der große persische Dichter Hafis kunstvoll Spiritualität und irdische Genüsse. In seiner Heimat wird er bis heute dafür verehrt. Vier Jahrhunderte nach seinem Tod entdeckt ihn auch die deutsche Literatur. Goethe widmet seinem »Zwilling« den West-östlichen Diwan, Rückert setzt dem »Welt-Poeten« in seinen Östlichen Rosen und durch Übersetzungen ein Denkmal. Romantische Dichter und Künstler machen in jener Zeit einen idealisierten und historisierten Orient zum Gegenentwurf der anbrechenden Moderne.
Er gilt als der größte persische Dichter. Sein Diwān findet sich bis heute in jedem iranischen Haushalt. Schah Reza Pahlavi ließ 1935 einen Pavillon über seinem Grab errichten, inmitten der Musalla-Gärten in Schiras, zwischen Zypressen und Blumenrabatten. Nicht nur ausländische Touristen zieht der Ort an, auch Iraner pilgern in Scharen, um ihrem Dichter die Ehre zu erweisen. Seine Verse sind ein beliebtes Orakel. Man schlägt den Diwān an beliebiger Stelle auf, um aus dem so getroffenen Gedicht die Zukunft zu erfahren. Am Eingang zur Grabstätte und auf den Basaren von Schiras stehen Versdeuter bereit, die gegen ein Entgelt helfen, die Antwort aus Hafis’ Worten herauszulesen.
Solcher Hilfe bedarf es, denn gerade in ihrer Vieldeutigkeit liegt der Reiz von Hafis’ Dichtung. Sie entstand zu einer Zeit, in der religiöse Mystik und Poesie eng miteinander verbunden waren. Hafis selbst war Anhänger des Sufismus, einer Strömung des Islam, für die die Einheit alles Seienden (waḥdat alwuğūd), spirituelle Versenkung und die Zwiesprache mit Gott im Zentrum stehen. Die sufistische Dichtung bediente sich einer kodierten Bildersprache: Nachtigall und Rose versinnbildlichen die Vereinigung von Mensch und Gott, der Rosengarten das Paradies. Zur Größe Hafis’ gehört indes, dass er nicht bloß Mystiker ist, sondern die Ambivalenz dieser Bildersprache nutzt. Ob er von göttlicher oder weltlicher Liebe spricht, von himmlischen oder irdischen Genüssen, das bleibt oft in der Schwebe. Und so lassen sich seine Lieder von der Schönheit der Geliebten und den Wonnen und Schmerzen der Liebe immer wieder neu lesen. »Saghi, schenk ein den Wein/und laß den Becher kreisen!/Im Anfang schien die Liebe leicht,/die dann zum Rätsel ward«, beginnt sein Diwān – und mag mit dem Weinglas ebenso auf die ekstatische Verbindung mit Gott anspielen wie auf einen Genuss, der in einem sittenstrengen Islam verpönt ist.
Auch wenn über das Leben des Hafis wenig bekannt ist: Ein Sittenwächter war er wohl kaum. Um 1315 wird er in Schiras geboren; er entstammt einfachen Verhältnissen. Den Ehrennamen »Hafis«, das heißt »der Bewahrer«, erhält Muḥammad Šams ad-Dīn, weil er schon in jungen Jahren den Koran auswendig kennt. Durch einen Förderer kommt er in Kontakt zum Hof von Schiras und steigt zum Hofdichter auf. In seinen letzten Lebensjahren – er stirbt um 1390 – soll Hafis noch Timur Leng, dem mongolischen Eroberer Persiens, gedient haben. Trotz dieser Nähe zu den Herrschenden blieb er Freigeist. Zahlreiche Gedichte durchzieht ein spöttischironischer Ton; lustvoll wendet er sich gegen religiöse Dogmen und Scheinheiligkeit der Moralapostel und besingt stattdessen lieber die Schenken und den Wein. Erst nach seinem Tode entstehen Handschriften mit Sammlungen (persisch: Diwān) seiner Gedichte. Rund tausend von ihnen verbreiten sich im ganzen Orient. In wechselnden Zusammenstellungen und Varianten sind so fast fünfhundert Gedichte überliefert. Seine bevorzugte Gedichtform ist die Ghasele, ein Liebesgedicht aus mehreren Verspaaren, bei dem der Reim des ersten Paares in allen geraden Zeilen wiederholt wird.
Rund vierhundert Jahre sollte es dauern, bis Hafis’ Lyrik auch deutsche Leser erreichte. 1812 macht die Übersetzung ausgewählter Gedichte durch den österreichischen Diplomaten und Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall in Literatenkreisen Furore. Goethe verschlingt das Buch förmlich. »Und mag die ganze Welt versinken,/Hafis mit dir, mit dir allein/Will ich wetteifern! Lust und Pein/Sei uns, den Zwillingen, gemein!/Wie du zu lieben und zu trinken,/Das soll mein Stolz, mein Leben sein.« Goethes »Zwilling« inspirierte den Geheimrat zu einem Hauptwerk seiner späten Jahre: dem West-östlichen Diwan, der 1819 erschien. Fünf Jahre hatte Goethe an dieser umfangreichsten seiner Gedichtsammlungen geschrieben, die zwölf Bücher und eine Nachschrift umfasst, in der er seine Leser in die islamische Kultur und Geschichte einzuführen sucht.
»Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt. Er freut sich an Sitten, Gebräuchen, an Gegenständen, religiösen Gesinnungen und Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sey«, so kündigt Goethe seinen Diwan in Cottas Morgenblatt vom 24. Februar 1816 an. Natürlich war er nie im Orient; sein lyrisches Ich geht hier auf eine innere Reise. Geistesverwandt erschien Hafis dem deutschen Dichter in der Suche nach der Einheit alles Seienden als Quelle und als Ziel allen Lebens und Liebens. Die Haltung des Persers passte zu Goethes Pantheismus weit besser als das christliche Dreifaltigkeitsdogma, dem er in seinem West-östlichen Diwan einen Seitenhieb versetzt. Die sufistisch gefärbte All-Einheit des Diwans und die katholisch getönte Apotheose des Ewig-Weiblichen am Schluss des Faust II bergen das religiöse Bekenntnis des späten Goethe.
Wie der Dichterfürst von Weimar fand sich auch Friedrich Rückert durch Hafis inspiriert. In seiner Sammlung Östliche Rosen verneigt er sich 1822 vor dem Vorbild. Goethe empfiehlt sie in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum vor allem den Musikern: »aus diesem Büchlein, zu rechter Stunde aufgeschlagen, wird ihnen gewiß manche Rose, Narzisse und was sonst sich hinzugesellt, entgegenduften.« Zahlreiche Komponisten sollten dem Aufruf folgen, unter ihnen Franz Schubert und Robert Schumann. Vor allem aber macht Rückert die Deutschen durch neue, poetischere Übertragungen mit Hafis vertraut. Bei Hammer-Purgstall hat er Türkisch, Persisch und Arabisch studiert, im Selbststudium weitere Idiome erlernt. Vierundvierzig Sprachen beherrscht er so lesend (wenn auch nicht immer sprechend) und vermag aus ihnen zu übersetzen. Auch den Koran überträgt er ins Deutsche – für die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel »die einzige deutsche Übersetzung, die etwas vom Stil und Geist des Originals spüren lässt«.
Auch andere Literaten waren im Ghaselen-Fieber, so August von Platen, der seinen 1821 erschienenen Ghaselen zwei Jahre darauf Neue Ghaselen folgen ließ. Über die orientalistische Mode seiner Kollegen in Nachahmung Goethes spottet Heinrich Heine: »Alter Dichter, du gemahnst mich, als wie Hamelns Rattenfänger;/Pfeifst nach Morgen, und es folgen all’ die lieben, kleinen Sänger./Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,/Daß sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden./Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,/Essen sie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaselen.« Dieser Spott wurde zum Auslöser des berüchtigten Streits zwischen Heine und Platen, in denen beide den jeweils anderen den antisemitischen beziehungsweise homophoben Ressentiments ihrer Zeitgenossen auslieferten; beider Leben würde schließlich im Exil enden. Heines Spott galt dem modischen Orientalismus seiner Zeit. War für Aufklärer wie Wieland und Lessing der Orient noch ein Ort der Weisheit, dessen Mystik und Geheimlehren auch auf Freimaurer oder Illuminaten anziehend wirkte (»ex oriente lux«: »aus dem Osten kommt das Licht«), wurde er zunehmend zur klischeehaften Welt exotischer Schönheiten und erotischer Begegnungen zwischen Gärten und Rosen, umhüllt von sinnlichen Klängen und Düften.
Die Faszination, die vom »Orient« auf den »Westen« ausging, sollte mit der imperialistischen Expansion und kolonialen Ausbeutung im späten 19. Jahrhundert ihre Unschuld verlieren. Um 1800 indes ist der Orient (ein Begriff, der ganz Asien, Arabien und Nordafrika meint) noch ein Sehnsuchtsort der aufziehenden Romantik. Bezeichnenderweise ist es gerade das historische »Morgenland«, das die Faszination ausübt: Hafis ist kein Zeitgenosse. Und so spiegelt sich in der romantischen Hinwendung zum Orient dieselbe ästhetische Flucht aus den Realitäten, die auch das neu erwachte Interesse am Mittelalter speist. Industrialisierung, Verzweckung des Lebens, Verstädterung und Verlust der Natur, politische Umstürze und Kriege werden aufgelöst in der Zeitlosigkeit der Rosengärten, der Lieder von Liebe und Vergänglichkeit, in Zauber und reiner Spiritualität. In Werken wie Tiecks Schöner Magelone oder Novalis’ Heinrich von Ofterdingen begegnen sich europäisches Mittelalter und Orient in romantisierender Rückschau.
Nicht allen ging es um Weltflucht. »Daß ihr erkennt: Weltpoesie/Allein ist Weltversöhnung«, dichtete Friedrich Rückert, frei nach Konfuzius. Das mag auch uns eine Mahnung sein in Zeiten, in denen wir den Orient zuallererst mit dem Islam in seiner konservativen oder gar radikalisierten Variante identifizieren. An die Adresse islamophober Meinungsmacher gewandt schreibt der Literaturwissenschaftler Jürgen Link: »Höhere Aufklärung heißt, positive Religionen symbolisch aufzufassen – sie werden dadurch notwendigerweise auch pluralisiert und entdogmatisiert, das heißt entfanatisiert. Paradoxerweise stimmen die Fundamentalisten und die aktuellen Vulgäraufklärer in einer buchstäblichen Lektüre überein. Goethe hingegen scheint zu sagen: Lest alle heiligen Schriften symbolisch, gerade auch die Bibel – warum nicht auch den Koran?« Hafis, so dürfen wir vermuten, hätte dem wohl beigepflichtet.
Tausendundeine Nacht
Auch der Märchenzyklus um die kluge Scheherazade gelangte im Zuge der romantischen Orientbegeisterung in die deutsche Literatur. Die frühen Übersetzungen gaben sich noch biedermeierlichsittlich, mit dazu passenden Illustrationen des Schubert-Intimus’ Moritz von Schwind. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wagte man in Wien eine werkgetreue Ausgabe, die wegen ihrer freizügigen Inhalte einen handfesten Skandal auslöste. Vor allem die erotischen Illustrationen Franz von Bayros’ erregten Aufsehen und zogen behördliche Verbote und Beschlagnahmen nach sich.