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1516 Thomas Morus Utopia Von idealen Welten und Schildbürgerstreichen

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Mit seinem Roman über die ferne Insel Utopia, in der die Menschen gleichberechtigt, besitzlos und glücklich in einem paternalistischen Wohlfahrtsstaat leben, hat der heilige Thomas Morus (1478 – 1535) das Referenzwerk schlechthin für soziale Utopien und fantastische Literatur gleichermaßen geschaffen. Auch deutsche Autoren haben sich früh inspirieren lassen. Wie sehr Morus selbst sein Utopia als Ideal begriff, ist bis heute umstritten. Vermutlich gerade wegen dieser Ambivalenz wirkt das Werk bis in unsere Tage in vielfältiger Weise als Inspiration für Denker, Literaten und Filmemacher.

Heiliggesprochen wurde Thomas Morus (More), ehemaliger Lordkanzler König Heinrichs VIII. von England, weil er wegen seines katholischen Glaubens 1535 geköpft wurde. Bleibenden Ruhm hat er sich mit einem Buch erworben, das einem ganzen Literaturgenre den Namen gab. Utopia, genauer De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (etwa: Von der besten Verfassung des Staates und der neuen Insel Utopia), erschien 1516 im flandrischen Löwen, Nachdrucke aus Paris und Basel folgten alsbald.

Zunächst lässt der Autor einen portugiesischen Reisenden, Raphael Hythlodeus, Kritik an sozialen Missständen in England üben. Unter Bezug auf Platons Politeia stellt er fest, man dürfe »auf eine vollständige Behebung der Übelstände und auf den Eintritt eines erfreulichen Zustandes […] ganz und gar nicht hoffen, solange jeder noch Privateigentum besitzt«. Sodann stellt Raphael die Insel Utopia (deutsch: Nicht-Ort) als Gegenentwurf vor. In deren egalitärer Gesellschaft gibt es kein Privateigentum; wie zu Maos Zeiten oder im heutigen Nordkorea tragen die Menschen Einheitskleidung, sie essen in Gemeinschaftshäusern. Mehrere Religionen (das Christentum ist unbekannt) leben nebeneinander. Alle Utopier müssen ein Handwerk erlernen sowie einige Zeit auf den Feldern arbeiten. Anwälte gibt es nicht. Eine strikte Bevölkerungspolitik sorgt für Zwangsumsiedlungen, um die Einwohnerzahl auf der Insel und in ihren vierundfünfzig Städten konstant zu halten. In jedem Haushalt leben zehn bis sechzehn Erwachsene zusammen, je dreißig Haushalte (stimmberechtigt sind nur freie Männer) wählen jährlich einen Vorsteher, zehn Vorsteher einen Vorgesetzten. Der Bürgermeister wird auf Lebenszeit gewählt, sofern er nicht tyrannisch wird. Die Utopier kennen Sklaverei, drakonische Strafen für Ehebruch und unerlaubtes Reisen und praktizieren Euthanasie an Todkranken. Friedliebend, wie sie sind, führen sie Kriege nur aus »gerechtem« Grunde.

Morus’ schmales Büchlein verbreitet sich schnell in Humanistenkreisen. Erasmus von Rotterdam betreut die erste Ausgabe, François Rabelais bezieht sich in seinem Gargantua 1534 namentlich auf das Werk; bekannte frühe Utopien sind 1602 Tommaso Campanellas Sonnenstaat und Francis Bacons Neu-Atlantis von 1627. Auch in Deutschland wird die Schrift rezipiert. 1521, drei Jahre vor Erscheinen einer Übersetzung (Von der wunderbarlichen Innsul Utopia genannt), entwirft Johann Eberlin von Günzburg in Die fünfzehn Bundesgenossen Wolfaria, einen protestantisch-frommen Wohlfahrtsstaat, in dem es recht sittenstreng zugeht. Aus der gegenreformatorischen Ecke stammt Kaspar Stiblins Macaria (in seinem Commentariolus de Eudaemonensium Republica von 1555), eine Nachbarinsel Utopias, deren sittlich wie technisch hoch entwickelte Gesellschaft ganz auf das Leben nach dem Tode ausgerichtet ist. 1619 erschafft Johann Valentin Andreae sein Christianopolis, eine protestantische Erziehungsdiktatur.

Bei so viel Frömmigkeit erfrischt das 1597 anonym veröffentlichte Lalebuch mit seiner Subversion (1598 erscheint es in Bearbeitung unter dem bekannteren Titel Die Schiltbürger). Dessen Laleburg ist kein Ort in der Ferne der Neuen Welt, sondern ein untergegangener Flecken, von dem nur noch Ruinen stehen. Vor seinem Vorbild verneigt sich der Autor nicht bloß, indem er Laleburg in ein Utopien genanntes Reich verpflanzt (erkennbar das Heilige Römische Reich), sondern auch, weil der Name Lale aus dem Griechischen stamme »und einen Schwetzer (wie die Griechen gemeinlich sind, doch nicht alle) heisset«. Als »Schwätzer« nämlich lässt sich auch der Nachname von Morus’ Reisendem übersetzen …

Wie ernst war es also Morus mit seiner Utopie? Karl Kautsky, Theoretiker der frühen SPD, sah in ihm den »Vater des utopischen Sozialismus«; der Philosoph Ernst Bloch nannte den Roman »das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume«. Gerade die Namenswahl, aber auch innere Widersprüche sowie die Biografie Morus’ (der Jurist, fromm und vermögend war) sprechen gegen eine rein affirmative Lesart von Utopia. Da das Buch aber gewiss auch dem England seiner Zeit den Spiegel vorhalten sollte, haftet dem »etwas hingehuschten, in sich widersprüchlichen Geniewerk« (Rudolf Augstein) etwas Spielerisches an. Der Verfasser des Lalebuchs scheint das ähnlich gesehen zu haben.

Schon der Abriss der frühen deutschen »Utopien« zeigt die Inspiration, die von Morus’ Utopia ausgeht: sei es als Muster von Sozialkritik, als Entwurf einer besseren Gesellschaftsordnung oder als Satire. Ob Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) und spätere Robinsonaden (wie Johann Gottfried Schnabels Erfolgsroman Die Insel Felsenburg, 1731–1743), ob Jonathan Swifts Gullivers Reisen (1726), berühmte »negative Utopien« (Dystopien) des 20. Jahrhunderts, wie George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schöne neue Welt, oder aber die Science Fiction – sie alle verdanken sich Morus’ Geniestreich, der heute längst auch ein Klassiker der politischen Philosophie ist.

Dass der Titel des Buchs in den allgemeinen Wortschatz übergegangen ist, mag auch damit zusammenhängen, dass die Menschheit ganz ohne Utopien ärmer wäre. Oder mit Jürgen Habermas’ Worten: »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.«

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