Читать книгу EINE WOCHE - Christian Kubitza - Страница 4

MONTAG

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Gegen sechs wurde ich wach. Der Wecker hatte noch keinen Ton von sich gegeben. Ich hatte ihn auch nicht gestellt. Shit! Ich würde verflucht nochmal zu spät kommen! Das wäre dann das dritte Mal innerhalb einer Woche. Nicht gut. Gar nicht gut! Ich schwang mich mit einem mehr oder weniger eleganten Sprung aus dem Bett und steuerte zügig das Bad an. Was war nur los mit mir? Es konnte doch nicht angehen, dass mich die ganze Sache derart runterzog. Ich stellte die Dusche an. Ich spürte die einzelnen Wasserstrahlen wie Nadelstiche auf meinen Körper niederprasseln. Ich bemerkte erst, dass das Wasser viel zu heiß war, als ich aus meinen Gedanken zurückkehrte und laut in einem mich umhüllenden Nebel von Wasserdampf aufschrie. Dieser verdammte Boiler! Entweder war das Wasser zu kalt oder aber so heiß, dass man sich gleich verbrannte. Ich entschied mich für die erste Variante und drehte den Wasserhahn mit einem Ruck zur anderen Seite. Ich zuckte zusammen, als das Wasser unmittelbar darauf eiskalt wurde. Mein Herz pochte heftig und die Halsschlagader fühlte sich an, als wenn sie herausspringen wollte. OK, das reicht. Jetzt bin ich wach genug. Ich sprang in meine Bürouniform von Armani – einem von zwei wirklich edlen Anzügen, die mir noch von vor der Finanzkrise geblieben waren – und machte mich auf den Weg zur Metro. Ich besaß zwar einen Wagen, einen zwanzig Jahre alten LeBaron Convertible, um diese Uhrzeit aber damit über die Williamsburg oder gar Brooklyn Bridge zu fahren, war nahezu aussichtlos. Ich wäre im Leben nicht um halb acht im Büro. Einer der Vorteile meines nicht geplanten Umzuges nach hier vor gut zwei Monaten. Von unserer damaligen Wohnung im zugegebenermaßen viel schöneren Jersey City auf der anderen Seite des Hudson River war ich praktisch gezwungen, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren und jeden Morgen in einem nicht enden wollenden Stau im Holland Tunnel zu stehen. Dafür wohnten wir in einem dieser kleinen Holzhäuser am Rande des Lincoln Parks. Kein Vergleich zu der Bude, in der ich jetzt hauste. Dennoch war es damals ein Glücksgriff, überhaupt so schnell etwas zu bekommen. Und auch in New York gab es ja schließlich weitaus schlechtere Gegenden als Brooklyn. Außerdem hatte ich jetzt die Metrolinien J und M gleich vor der Türe, was einerseits gut, andererseits ein Problem war, da die Bahn vor meiner Haustüre aufgeständerte Strecke war und mir damit nahezu durch die Wohnung im zweiten Stock fuhr. Sah ich aus dem Fenster, waren die Hochgleise keine zehn Schritte entfernt. Und hier fuhr mindestens alle fünf Minuten eine Bahn, zwei Linien in beide Richtungen. Daran musste ich mich erst noch gewöhnen.

Jetzt war ich allerdings froh, dass die Bahn kam. Ich stieg in die J, die voll war wie jeden Morgen. Zu voll. Ich quetschte mich zwischen eine Zwergenfrau, sie reichte knapp an meinen Solarplexus, und einen vor Schweiß triefendnassen riesigen Kerl mit kurzer Hose, T-Shirt und Oberarmen wie Oberschenkel. Auf diesen standen ganze Geschichten in Bildern, deren Sinngehalt ich allerdings bis zu der Haltestelle, an der ich aussteigen musste, nicht zu entschlüsseln vermochte. Der Kerl stand mir auch noch im Weg, als ich endlich aussteigen wollte.

„Sorry, dürfte ich mal!“, forderte ich ihn höflich aber bestimmt auf, mich aus der Bahn zu lassen. Mit einem Grunzen machte er Platz und ich drängelte mich an den bereits einsteigenden Leuten vorbei auf den Bahnsteig Broad Street, gleich an der New York Stock Exchange. Jeden Morgen dasselbe Spiel! Mein Hemd zeigte bereits einige Schweißspuren. Zum Glück nicht so schlimm, wie ich mich fühlte. Ich hätte schon wieder duschen können. Es war ein ziemlich schwüler Augusttag, Gewitter lagen in der Luft und warteten nur darauf, sich endlich entladen zu können. Das letzte in der vergangenen Woche hatte außer überschwemmten Straßen nicht viel gebracht. Es war bereits zwei Stunden danach ebenso drückend wie zuvor, wenn nicht schlimmer. Und dann kam der Gestank durch die übertretenden Gullys hinzu. Es war kaum auszuhalten, eine Straße entlangzugehen. Die Schwüle war nicht auszuhalten, der Gestank war nicht auszuhalten, das Leben war verdammt in diesen Tagen nicht auszuhalten! Reiß Dich zusammen!

Ich ging etwa zehn Minuten die Broad Street entlang. Ich hatte wenig Lust, mich bei dieser Hitze erneut in einen Waggon der Metro zwischen schwitzende Riesen zu drängeln, also ging ich zu Fuß. Die Strecke war normalerweise in der Hälfte der Zeit zu bewältigen aber ich wollte ein noch nasseres Hemd und noch schlechtere Laune vermeiden. Ich bog in die Pearl Street ein und erreichte etwa weitere fünf Minuten später mein Ziel Ecke State Street und dem Glaspalast, in dem das Investmentunternehmen, für das ich arbeitete, residierte. Mein Büro lag im 28. Stock. Nichts für Leute mit Höhenangst. Zum Glück hatte ich damit keine Probleme. Es gab ja heutzutage schon genug Probleme einen halbwegs akzeptablen und auskömmlichen Job zu ergattern. Da hätte Höhenangst als Auswahlkriterium in New York echt Schwierigkeiten verursacht. Ich konnte mich nicht beschweren. Bei klarer Sicht konnte ich über den Battery Park hinweg bis zur Freiheitsstatue sehen. Es gab schlechtere Büros. Und die Bezahlung war auch nicht schlecht. Gegen die Fuzzis an der Wall Street konnte ich selbstverständlich nicht anstinken aber ich konnte mir eine Bude in Brooklyn, einen Wagen, wenn auch einen alten, gutes Essen und guten Whiskey erlauben. Was will man mehr. Verdammt – ich will mein altes Leben zurück! Vor der Finanzkrise war alles besser. Was für ein Klischee: früher war alles besser! Bullshit! Eigentlich hatten die wirklich einschneidenden Veränderungen in meinem Leben nur sehr bedingt mit der weltweiten Finanzkrise zu tun. Aber es war eine prima Ausrede für mich.

Plötzlich verspürte ich einen harten Stoß in die Seite und ging unmittelbar zu Boden. Ich ließ dabei meine Aktentasche fallen, die offenbar nicht richtig verschlossen war und nun sämtliche Papiere preisgab, die ich mit mir führte. Sie verteilten sich in hohem Bogen in der Eingangshalle des Glaspalasts.

„Herrgott, Chris! Pass doch auf! Schläfst Du noch!“ raunzte mich ein anderer Anzugträger an. Ich blickte auf und sah, dass es Robert Parks war, ein Kollege aus dem Stockwerk über mir. Ich schlief zwar nicht mehr, war aber derart in Gedanken gewesen, dass ich weder sagen konnte, wie ich von der Straße in das Gebäude gekommen war, noch Robert gesehen hatte und offensichtlich ziemlich mit diesem zusammengestoßen war. Wäre Robert nicht einen Kopf größer und locker 100 Pfund schwerer als ich gewesen, wäre weder er stehen geblieben noch ich zu Boden gegangen. So war das Ergebnis des morgendlichen Contests eindeutig.

„Entschuldige, Robert“, gab ich zurück. „Ich war ganz in Gedanken.“

„Das habe ich gemerkt. Rennt mich hier fast über den Haufen!“

Wie sollte ich Dich wohl über den Haufen rennen, Du Fleischklops!

„Ja, ja. Sorry.“

Ich sammelte meine Unterlagen ein während Robert seinen Weg zu den Aufzügen ohne ein weiteres Wort geschweige denn einer helfenden Geste mir gegenüber fortsetzte. Bis ich endlich auch an den Aufzugtüren ankam, hatten sich bereits alle geschlossen und die Kabinen bahnten sich ihren Weg in die gläserne Unendlichkeit gen New Yorker Himmel und eines neuen Arbeitstages. Zehn bis vierzehn weitere Stunden des organisatorischen und beratenden Gemetzels im Leben der Wirtschaftssklaven. Mir wurden meine eigenen Gedanken bewusst und damit auch, dass ich heute wieder richtig gut drauf war. Es würde ein Scheißtag werden. Ein weiterer im Leben des Chris Keene. Ich ahnte ja nicht, wie Recht ich behalten sollte.

„Guten Morgen, Mr. Keene“, säuselte mir die Dame am Etagenempfang entgegen, als ich es geschafft hatte, den 28. Stock zu erklimmen. Susan, den Nachnamen wusste ich nicht, bedachte mich mit demselben falschen Lächeln, das sie auch jedem Kunden spendete, der aus dem Aufzug in die Etage trat. Hinter ihr an der Wand prangte das Logo und der Name des Unternehmens, für das ich jetzt schon fünfzehn Jahre lang arbeitete, in großen Lettern: New York Capital Investments International

„Guten Morgen, Susan“, erwiderte ich pseudofreundlich und lächelte mindestens so falsch wie sie. Zumindest versuchte ich es. Wahrscheinlich kam nur eine Grimasse dabei heraus, die ich zum Glück ja selber nicht sehen musste. Ich versuchte, mein Büro ohne weitere Zwischenfälle von Begrüßungsfloskeln zu erreichen. Fast wäre es mir gelungen, hätte nicht bereits meine Sekretärin Becca auf der Lauer gelegen. Eigentlich hieß sie Rebecca und eigentlich war sie auch nicht meine Sekretärin. Aber alle nannten sie nur kurz Becca und sie hatte es sich aus irgendeinem Grund zur Aufgabe gemacht, sich wie meine Privatsekretärin aufzuführen, obwohl sie zum allgemeinen, drei Büros hinter meinem gelegenen Schreibpool gehörte.

„Da sind Sie ja, Mr. Keene!“, begrüßte sie mich lautstark und fast schon mahnend. Aber ihr Lächeln schien im Gegensatz zu Susans echt.

„Ja, da bin ich, Becca“, erwiderte ich und versuchte mich erneut in einem Lächeln. Ich bin nicht sicher, ob es mir dieses Mal gelungen war, aber Becca fragte:

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Alles in Ordnung bei mir? Alles in Ordnung bei mir? Ich glaube nicht, Du… Sie konnte ja nichts dafür, dass es mir derzeit weit entfernt von alles in Ordnung ging. Einerseits wollte ich meine Laune nicht an anderen Leuten auslassen, andererseits war es mir scheißegal. Beherrsch Dich trotzdem!

„Danke, Becca. Und Ihnen?“ Sehr diplomatisch. Toll.

„Mir geht´s gut, Sir, danke“, antwortete sie und ihr glaubte ich das sogar.

„Sie müssen sich beeilen“, fuhr sie fort.

„Womit?“

„Noch pünktlich zum Meeting zu kommen. Haben Sie denn meine E-Mail nicht erhalten?“

Ich schaute sie fragend an und befreite mein Blackberry, dessen rote LED nervös vor sich hin blinkte, aus der Aktentasche. Ich hatte mir abgewöhnt jede Minute das Ding auf den Eingang neuer Nachrichten zu überprüfen. Beantwortete man nicht innerhalb fünf Minuten eine E-Mail konnte dies heutzutage zwar zur Folge haben, für tot erklärt zu werden, aber das nahm ich in Kauf. Jetzt las ich auf dem Display: „Wo bleiben Sie? Meeting um 7:30 – großer Konferenzraum. Gruß, Becca“

Das auch noch! Meeting. Ich konnte das Wort schon nicht mehr hören und die Teilnahme an selbigen hasste ich regelrecht. Meeting für dies, Meeting für das. Für jeden Furz gab es ein Meeting. Natürlich erst seit der Finanzkrise. Davor gab es eher einsame Entscheidungen in der Führungsspitze, von denen wir ein paar Etagen tiefer schon nichts mehr mitbekamen. Höchstens von den Konsequenzen falscher. Man hatte den Eindruck, dass sich die Bosse und Abteilungsleiter mit diesen Meetings nur abzusichern versuchten. Käme es mal wieder hart auf hart, könnten sie alle sagen: Das war doch mit allen so abgestimmt!

Meetings bedeuteten Erweiterungen des Kreises der Eingeweihten und damit letztlich auch der Verantwortlichen. Nicht, dass so ein Meeting dazu gedient hätte, sich Ratschläge der anderen einzuholen. Sollte man es tatsächlich einmal wagen, eigene Ideen oder gar Verbesserungsvorschläge zu präsentieren, wurde man von den Oberen mit einem schneidenden Blick gestraft. Die Kollegen der gleichen Hierarchieebene sahen einen dann eher verängstigt und strafend an. Wieso macht der denn jetzt so was? Nachher fällt das auf uns alle zurück. Meistens durfte man als Belohnung dann nach dem Meeting noch zu einem Einzelgespräch zum Abteilungsleiter kommen und wurde von diesem zurechtgewiesen. So war das System. So und nicht anders. Entweder man machte mit oder man war draußen. Derartiges durfte ich bisher zwei Mal durchlaufen. Meinen Job hatte ich dennoch behalten. Wahrscheinlich wusste ich nach fünfzehn Jahren einfach zu viel, oder meine Arbeit war doch mehr wert, als die da oben zugeben wollten. Wie auch immer, danach hatte ich meine Schnauze gehalten, egal wie bescheuert die Entscheidungen der anderen waren. Ich hatte mein Auskommen, ein nettes Büro, eine fast noch nettere Möchtegernprivatsekretärin. In Zeiten wie diesen waren das alles keine selbstverständlichen Dinge. Da musste man mal ein Auge oder auch zwei zudrücken und die Arschbacken zusammenkneifen können.

„Mr. Keene?“ Becca sah mich fragend an.

„Ja, Becca?“

„Das Meeting!?“

„Ach ja. Ich gehe ja schon.“ Nur halb aus meinen Gedanken gerissen steuerte ich den Konferenzsaal am Ende des Ganges an. Immerhin hatte man von dort aus einen guten Blick auf Downtown Manhattan. Beim Weggehen hatte mir Becca noch schnell einen Pappbecher mit Kaffee aus dem Automaten auf dem Gang in die Hand gedrückt, an dem ich vorsichtig nippte, während ich den Ort der geballten Kommunikationsmacht unseres Unternehmens fast erreicht hatte. Verdammt heiß. Sie muss ihn gerade erst gezogen haben. Bereits durch die Scheiben konnte ich erkennen, dass alle wichtigen Leute versammelt waren. Oberbosse, mittleres Management und Abteilungsleiter. Die Verantwortungserweiterung und Alibibeschaffung für die Bosse schien bereits auf vollen Touren zu laufen, als ich durch die Glastür den Konferenzraum betrat.

„Ah, Mr. Keene. Konnten Sie sich doch noch dazu durchringen uns Gesellschaft zu leisten?“, begrüßte mich Charles Buchanan, mein unmittelbarer Vorgesetzter. Lustig! Ich hau´ Dir gleich auf´s Maul, dachte ich.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Da gab´s ein kleines Problem mit der Metro“, log ich die versammelte Mannschaft an.

„Ja, ja. Setzen Sie sich, Mr. Keene!“ befahl mir Charles. Ja, klar. Hast Du gedacht, ich bleibe während der ganzen Besprechung stehen, Du Idiot! Sätze ohne Sinn, einzig zum Pushen des Egos ausgesprochen. So kann man zeigen, dass man über einen anderen Menschen ein gewisses Maß an Macht besitzt. Wie erbärmlich! Ich ließ mich in den weichen Ledersessel sinken und versuchte meine volle Aufmerksamkeit dem Geschehen der Besprechung zu widmen. Ein eigentlich von Vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Um was ging es hier überhaupt? Verdammt! Ich hatte keine Ahnung. Ich fingerte ungeschickt mein Blackberry aus der Hosentasche, in die ich es gerade nach dem Lesen der Nachricht von Becca gesteckt hatte. Ich las die E-Mail erneut, in der Hoffnung, Hinweise auf das Thema des Meetings darin entdecken zu können. Ich scrollte die Nachricht von Becca hoch und runter, konnte ihr aber keine weiteren Informationen entlocken. Mist! Dann blieb mir wohl nichts anderes übrig, als zuzuhören und zu hoffen, erst mal nichts gefragt zu werden. Zu spät.

„Nicht wahr, Mr. Keene?“, riss es mich jäh aus meinen Gedanken.

„Ähm….wie bitte? Ich war kurz abgelenkt, Verzeihung“, stammelte es aus mir heraus.

„Ich versuchte hier gerade zu erklären, Mr. Keene, dass das Budget für die Investments auf den Caymans bereits Anfang des Monats erreicht wurde und dort kein Spielraum mehr ist. Nicht wahr, Mr. Keene!?“ wiederholte sich Charles Buchanan diesmal etwas lauter. Mein Freund Charlie. Ich hätte ihm eben doch gleich eine verpassen sollen, als ich reinkam.

„Ähm… also… ich hab´ die Zahlen zwar jetzt nicht direkt parat, aber vom Grundsatz her stimmt das wohl so, Mr. Buchanan“ erwiderte ich möglichst ausweichend und unverbindlich.

„Da hören Sie es, meine Herren – eh, und Damen natürlich“ bestätigte Charlie. Es war nur eine Dame anwesend, sofern man bei Melanie von Dame sprechen konnte. Melanie Goldblum, die wohlgeformte Brünette aus dem internen Finanzmanagement. Die ließ hier im Unternehmen nichts anbrennen. Und je höher sie mit ihren physischen Offensiven die Etagen kam, umso öfter traf man sie in Meetings an. Nicht, dass sie das nötig hätte. Sie war ein echtes Finanzgenie, zumindest soweit ich das beurteilen konnte. Ich schätze, dass sie sich einen Spaß daraus machte, die Etagen des Towers auf diese Art emporzuklimmen. Sie war eine von den Frauen, denen so ziemlich jeder Mann mit Haut und Haaren verfallen würde. Mich vermutlich eingeschlossen. Selbstredend. Aber da bestand keine Gefahr, da wir auf einer Ebene spielten und sie sich ja ausschließlich nach oben orientierte. War vielleicht auch besser so.

„Geben Sie mir sofort nach dem Meeting bitte eine Vorabübersicht des bisherigen Jahresverlaufs nach oben, Mr. Keene!“ forderte mich der Oberboss, Mr. Daniel Clark, höchstselbst auf. Es klang wie eine Bitte, war aber ein Befehl. Das hatten sie wirklich gut drauf. Lernte man so etwas eigentlich auch in Harvard und den anderen Managerschmieden? Oder war das nur ein Resultat ihrer Borniertheit nach jahrelanger Übung?

„Selbstverständlich, Mr. Clark“ erwiderte ich knapp. Ich hatte zwar noch keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen sollte, da ich noch nicht einmal den Vormonat vollständig zum Abschluss hatte bringen können, aber mir würde schon etwas einfallen. Oder mein Kopf würde rollen. Oder der Mond würde platzen. Mal sehen, was der Tag so für mich bereithielt.

Der Rest der Besprechung rauschte an mir vorbei, ohne dass ich mich erneut irgendwie hätte einbringen müssen. Eigentlich. Meine Gedanken kreisten auch bereits wieder ganz woanders, weshalb ich den Anlass für diese Unterredung gar nicht mitbekam. Und ich dachte nicht etwa an den geforderten Statusreport, sondern an mein gestriges Treffen mit Julie zurück. Das war ja wieder ganz toll gelaufen, begann ich mich über mich selbst zu ärgern. Ich musste sie unbedingt heute anrufen und mich entschuldigen. Dafür, dass ich mich so plötzlich vom Acker gemacht hatte. Meine Gefühle für sie waren seit Wochen sehr ambivalent. Mal war ich wütend auf sie und mal meinte ich, sie noch zu lieben. Ich glaube, weder das eine noch das andere war wirklich. Ich wusste derzeit einfach nicht, wo ich mit meinen Gefühlen hinsollte. Es war wahrscheinlich eher die gute Zeit der Vergangenheit, die ich liebte und der ich nachtrauerte und nicht so sehr Julie selbst. Aber da musste noch eine genauere Analyse her. Und weitere Gläser Single Malt, fürchte ich. Während ich mich um meine eigenen Gedanken bewegte, versuchte ich umständlich den Plastikdeckel von meinem Kaffeepappbecher zu entfernen, um nicht wie aus einer Schnabeltasse trinken zu müssen. Als gleichzeitig mein Blackberry vibrierte – zum Glück hatte ich wenigstens das Ding auf lautlos gestellt –, kippte mir der Becher nach vorne und entlud einen kräftigen Schwall Heißgetränk direkt in meinen Schritt. Nun brachte ich mich doch noch einmal in die Besprechung ein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht gab ich ein lautes „AAAH! FUCK!“ zum Besten. Nun hatte ich die volle Aufmerksamkeit.

„Sie möchten auch noch etwas Konstruktives beisteuern, Mr. Keene?“, spottete Charles Buchanan in meine Richtung.

Witzig, Charlie! Wirklich witzig. Der nächste Kaffee ist für Dich! Ich bemerkte, wie links und rechts neben mir Stühle gerückt wurden und Leute aufstanden. Die Unterredung war zu Ende. Gott sei Dank. Dann konnte ich doch gleich das Malheur auf der Herrentoilette ein wenig beseitigen. Die auf mich gerichteten peinlichen Blicke verließen nach und nach den Raum. Ich tat so, als wenn ich eine dringende E-Mail lesen müsste. Das musste ich allerdings ebenso wenig wie auch noch optisch den Clown darbieten, weshalb ich noch ein paar Minuten sitzenblieb, bevor ich mich in Richtung Toilette in Bewegung setzte. Ein kurzer Blick auf den Flur verriet mir, dass dieser sich bereits geleert hatte. Fleißig wie die Bienen waren schon wieder alle in ihren eigenen Büros verschwunden. Gut für mich. So konnte ich unbemerkt über den Flur zu den Waschräumen gehen. Fast unbemerkt.

„Hey, Mr. Keene! Was ist denn da passiert?“, gluckste Becca mit einem Anflug von Lachen auf dem Gesicht und einem Fingerzeig auf mein sexuelles Zentrum. Ich war mir fast sicher, dass es bei ihr keine Schadenfreude war. Sie fand es einfach nur lustig.

„Blöde Frage“, stellte sie fest. Wie wahr, wie wahr.

„Sie möchten bitte dringend Mr. Andersen im Büro anrufen“, fuhr sie fort. „Kann ich Ihnen irgendwie damit behilflich sein“ fragte Sie und zeigte wieder auf meinen in braun getünchten Schritt. In einer anderen Situation wäre mir Ihre Frage sicher nicht so unangenehm gewesen. Oder doch? Selbst das konnte ich derzeit nicht so richtig beurteilen.

„Und wie genau wollen Sie das anstellen, Becca? Sollen wir vielleicht die Hosen tauschen?“ hörte ich mich sagen. Im selben Moment war es mir noch peinlicher als Beccas Frage. Doch sie nahm es mit Humor und lachte laut los.

„Nein, Sir, sicher nicht. Aber ich könnte versuchen, Ihnen unten bei „Huxley´s“ an der Ecke eine neue zu besorgen. Oder möchten Sie lieber den ganzen Tag so hier herumlaufen?“ Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

„Das ist eine hervorragende Idee, Becca.“ Ich kramte in der Aktentasche nach meinem Portemonnaie. Ich fand es. Zum Vorschein kamen darin ein Fünfzig- und ein Zehndollarschein sowie ein paar Quarters. Ich drückte Becca den Fünfzigdollarschein in die Hand und sie verschwand damit unverzüglich.

„Ich bin in der Zeit…“ sagte ich noch mit einem Fingerzeig in Richtung Waschraum, doch sie bekam es nicht mehr mit. Als sich gerade die Türe hinter mir geschlossen hatte und ich mit dem Kampf gegen den Kaffeefleck beginnen wollte, klopfte es vorsichtig an dieser. Gleichzeitig vernahm ich ein fast flüsterndes, zischendes „Mr. Keene! Mr. Keene!“

„Ja bitte?“, antwortete ich ohne nachzudenken. Es wiederholte sich: „Mr. Keene, Mr. Keene.“ Ich ging zur Tür und öffnete sie.

Draußen stand Becca und sah mir abwechselnd fragend in die Augen und auf meinen Schritt.

„Welche Größe?“

„Wie bitte?“, entgegnete ich irritiert.

„Na, welche Größe tragen Sie?“

„Ach so. Ähm…. ich glaube in Anzügen so 40 oder M-L.“

Mit einem wieder flüsternden „OK“ verschwand sie erneut. Die Tür schlug zu und ich versuchte mich erneut ans Werk zu machen. Die Türe schwang auf und Charles Buchanan kam hereingestürmt. Das hatte mir auch noch gefehlt. Er blickte mich mit einem überheblichen Grinsen an. Ich nickte ihm stumm zu und bevor er einer seiner dämlichen Sprüche ablassen konnte, verließ ich den Waschraum wieder, ohne auch nur einen Moment am eigentlichen Problem gearbeitet zu haben. Ich hatte mich kurzerhand dazu entschlossen, möglichst unauffällig zu meinem Büro zurückzukehren und darin auf Becca und die neue Hose zu warten. Zu meinem Erstaunen funktionierte das sogar. Ich traf unterwegs keine Menschenseele. Alle waren in ihre Büroräume zurückgekehrt oder saßen dort bereits seit acht Uhr oder länger und machten eben das, wofür sie hier waren. Da fiel mir siedendheiß die Anforderung von Mr. Clark ein. Ich sollte ja noch einen aktuellen Statusreport aus dem Hut zaubern. Ich betrat mein Büro und schloss die Tür hinter mir. Der Fleck war zwar längst nicht mehr heiß aber nass und ich fühlte mich zunehmend unwohl. Ich zog kurzerhand die Hose aus. Schließlich befand ich mich in meinem eigenen Büro mit Blick auf die Freiheitsstatue, die mir das bestimmt nicht übelnehmen würde. Ich freute mich kurz darüber, dass ich eines der wenigen Eckbüros ohne Glaswände hatte und warf die Hose über einen der Besucherstühle. Dann ließ ich mich selbst in meinen Sessel fallen. Ich fuhr den Computer hoch und wollte mich ans Zahlenwerk machen. Es klopfte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, schwang die Tür auf und Melanie Goldblum stand im Raum.

„Mr. Keene.“

Sie kam schnurstracks auf mich zu, bremste unvermittelt ab und ihr Blick verfestigte sich auf meiner über den Besucherstuhl hängenden Hose.

„Haben Sie etwa keine…“ Sie deutete zunächst auf die Hose, dann auf mich.

„Nein, Mrs. Goldblum. Habe ich nicht. Sie erinnern sich an das kleine Malheur von vorhin?“ gab ich halb gereizt, halb freundlich zurück. Sie musste grinsen. Offensichtlich wusste sie nicht, was sie als nächstes sagen sollte. Deshalb ergriff ich wieder das Wort.

„Becca ist so freundlich und besorgt mir unten bei „Huxley´s“ schnell eine neue. Ich hatte jetzt auch nicht wirklich Besuch erwartet.“ Diesmal grinste ich sie an.

„OK… Eigentlich wollte ich Sie auch nur darüber informieren, dass Sie bei dem Statusreport an die Zahlen des Spezial-Fonds denken müssen. Die werden nämlich bei mir separat geführt, müssen Sie wissen.“

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie da sprach.

„Spezial-Fond?“

„Ja. Ein Fond für Mittel- und Westeuropa, der Ende letzten Jahres ins Leben gerufen, aber erst zu Beginn dieses Jahres aktiviert wurde. Taucht bisher nirgendwo auf“, erklärte sie mir.

„Wenn Sie wieder eine Hose anhaben, Mr. Keene, können Sie gerne mal zu mir rüberkommen. Dann statte ich Sie mit den nötigen Zahlen aus.“ Jetzt grinste sie wieder. Es war fast wie in einem Tennismatch. Vorteil Goldblum.

Ich konnte gerade noch nicken, bevor sie wieder verschwunden war. Peinlich. Gut, dass gerade nicht noch jemand ins Büro gekommen ist. Hätte irgendwie komisch ausgesehen. Mindestens so peinlich fand ich aber die Tatsache, dass ich bisher noch nie von diesem Fond gehört hatte. Zumal ich eigentlich hauptsächlich für unser Europageschäft zuständig war. Ich widmete mich wieder meinem Rechner. Bluescreen. Shit! Was war denn nun schon wieder los? Gleich schmeiße ich das alte Ding aus dem Fenster! Das hat bestimmt Zuse noch persönlich zusammengeklöppelt! Seit Wochen hatte ich nur Probleme mit dem Teil. Die meiste Zeit starrte ich auf den Monitor und flehte den Computer an, endlich mit mir zu kommunizieren. Nach einer Weile kam dann meistens auch Leben zurück in das Ding, es dauerte aber zunehmend länger. Ich hatte das Problem bereits drei Mal an die IT gemeldet. Es passierte nichts. Die Arbeit musste immer schneller erledigt werden aber für aktuelle Technik war wohl kein Geld da. Ich versuchte es mit einem Kaltstart. Endlich schien die verdammte Kiste hochzufahren. Windows öffnete sich. Langsam. Ich entstieg meinem Sessel, ging zum Fenster und öffnete es ebenfalls. Ich brauchte dringend Luft. War wohl doch ein Whiskey zu viel gestern Abend. Das Gebäude war so konzipiert, dass man die Fenster trotz vorhandener Klimaanlage öffnen konnte. Es gab keine zwei Schichten von Glasfenstern, wie das heute bei Neubauten oft der Fall ist, von denen man nur die innere öffnen konnte. Wenn ich hier ein Fenster öffnete, erreichte ich unmittelbar die frische Luft. Nur getrennt von einem hüfthohen Edelstahl-Glas-Geländer. Ohne dieses Geländer hätte man den direkten Durchgang zum Tod aus dem 28. Stock gehabt. Ich weiß gar nicht, ob man heute so noch bauen darf, ging es mir durch den Kopf. Ich stand am offenen Fenster, blickte über den Battery Park in Richtung Ellis und Liberty Island, und sog einen tiefen Zug der Upper-Bay-Luft ein. Leichter Dieselgeruch war darin zu finden. Wahrscheinlich von den zahlreichen Fähren, die jeden Tag tausende von Touristen am Park verschlangen, um sie kurze Zeit später vor der Freiheitsstatue wieder auszuspucken. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, wandte ich mich wieder Richtung Schreibtisch. In dem Moment flog die Bürotür auf und Becca stand im Raum.

„Herrje, Becca!“ rief ich erschrocken aus.

Sie starrte mich an, wie ich da so in meinen Boxershorts stand und grinste schon wieder.

„Können Sie denn nicht anklopfen?“, fragte ich ein wenig entrüstet.

„Entschuldigung, Mr. Keene. Habe ich vor Eile vergessen“ antwortete sie, immer noch grinsend.

„Außerdem habe ich schon mal einen Mann in Unterhosen gesehen.“

Davon war ich überzeugt. Und wahrscheinlich auch schon ohne.

„Ach was“ entgegnete ich wenig einfallsreich.

„Nun geben Sie schon her.“ Ich streckte meine rechte Hand nach der Tüte von „Huxley´s“ aus, die Becca bei sich trug. Becca reichte sie mir rüber.

„Ich hoffe sie passt. Sonderangebot, 39,99. Hier ist noch Ihr Wechselgeld.“ Sie hielt mir ihre Hand mit einem Zehndollarschein und einem Penny hin.

„Vielen Dank, Becca.“ Ich nahm auch das Wechselgeld an mich und wartete darauf, dass sich Becca nun zügig entfernte. Sie blieb jedoch noch immer stehen und blickte mich an. Ich weiß nicht, was sie sich genau ansah, konnte es auch nicht so richtig nachvollziehen. Ich war Ende vierzig, mittelgroß, eher der schlanke Typ aber mit Bauchansatz. Ich sag nur: Bier und Whiskey und Fastfood. No sports. Jedenfalls nicht übermäßig. Mal ne Runde Schwimmen oder Laufen, ein paar Klimmzüge und Liegestütz. Das war´s. Graue Haare blieben mir bisher erspart und die Geheimratsecken waren noch nicht sonderlich ausgeprägt. Ich selbst empfand mich als absoluten Durchschnittstypen.

„Danke, Becca. Dürfte ich mich dann anziehen?“ riss ich Becca aus ihrem Blick und mich aus meiner Selbstbetrachtung.

„Aber natürlich. Entschuldigen Sie, Mr. Keene.“ Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum und ich konnte mir endlich die Hose anziehen. Geschmack hatte Becca ja. Anthrazitfarben mit feinen bläulichen Streifen. Nicht gerade von Armani aber schick. Die kaffeegetränkte Armani würde ich dann wohl heute Abend direkt in der Reinigung abgeben. Ich stieg in Huxley´s Hose. Oben ein wenig zu weit, ansonsten passte sie wie angegossen. Ich zog den Gürtel aus der Armani und durch die Schlaufen der neuen Hose. Perfekt. Ich verstaute die Armani in Huxley´s Tüte und zusammen dann in meinem Aktenkoffer. Nun konnte ich mich endlich wieder dem Tagesgeschäft widmen. Mein Computer war mittlerweile auch so gnädig gewesen, komplett hochzufahren, sodass ich mit meiner Arbeit an dem Statusreport beginnen konnte. Mir fielen die Worte von Melanie Goldblum ein. Ohne ihre Daten würde mein Statusreport offenbar nur ein klappriges Gerippe werden können. Also beschloss ich, sie aufzusuchen. Ich verließ mein Büro und ging den Flur entlang, wieder vorbei an den Waschräumen. Melanies Büro befand sich auf der genau entgegengesetzten Seite der Etage. Praktisch mit Blick auf Downtown Manhattan, wären dort nicht zwei noch höhere Bürotürme im Weg. So konnte sie lediglich ihrem Pendant im Gebäude gegenüber nahezu die Akten vom Schreibtisch lesen. Ich ging schnellen Schrittes durch den langen Flur. Ein mit einem anthrazitfarbenen, weichen Teppich ausgelegten, nicht endend wollenden Gang mit Bürotüren alle fünf bis zehn Meter zu beiden Seiten und einer Art Kreuzung mit einem anderen Gang ungefähr in der Mitte der Etage. Ebenfalls im Abstand von etwa fünf Metern war das Firmenlogo im Teppich zu erkennen. Die ineinander verschnörkelten Anfangsbuchstaben des Unternehmensnamens – NYCII – in einem mittleren Grau auf drei von links unten nach rechts oben ansteigenden dicken schneeweißen Längsbalken. Das Logo prangte überall im Hause. Corporate Identity. Ich nannte es Profilneurose. Alleine die Beschilderung im und am Gebäude hatte sicherlich einige hunderttausende Dollar verschlungen. Die meisten Geschäfte des Unternehmens wurden telefonisch, online oder aber beim Kunden draußen in der ganzen Welt abgewickelt. Wofür zum Henker brauchte man dann alle fünf Meter ein Firmenlogo? Damit die eigenen Angestellten nicht vergaßen, wem sie ihr Gehalt und ihre Magengeschwüre zu verdanken hatten? Beinahe wäre ich an der Bürotür von Melanie Goldblum vorbeigegangen. Ich klopfte kurz an die Tür, trat jedoch ein ohne eine Antwort abzuwarten. Melanie saß hinter ihrem Schreibtisch, einer riesigen gläsernen Fläche mit Metallfüßen, vollgepackt mit Bilanzen und Ausdrucken von Zahlenkolonnen.

„Hi, Mrs. Goldblum“, begrüßte ich sie.

„Hallo, Mr. Keene. Kommen Sie doch rein“, entgegnete sie mit einem etwas strengen Blick. Auch sie trug Bürouniform. Ein schwarzes Kostüm und eine weiße Bluse. Der Unterschied zu anderen weiblichen Büroangestellten höherer Stellung lag bei ihr darin, dass ihr Rock recht kurz und ihre Bluse recht eng ausfielen. Zudem hatte sie immer die ersten zwei bis drei Knöpfe offen. Sie wusste durchaus mit ihren Reizen zu kokettieren. Ich dachte kurz darüber nach, wen aus der oberen Etage sie eigentlich derzeit am Wickel hatte, als sie mich aus meinen Überlegungen holte.

„Sie kommen, um etwas über den Spezialfond zu erfahren, richtig, Mr. Keene?“ Nein. Ich war natürlich hier, um Dir ein unmoralisches Angebot zu machen, dachte ich.

„So ist es, Mrs. Goldblum. So ist es“, gab ich stattdessen zurück. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich keine Ahnung von diesem Spezialfond hatte.

„Dann schauen sie mal her“, wies sie mich mit einer Geste an, um ihren Schreibtisch herum neben sie zu treten. Gleichzeitig griff sie nach einem offenbar bereitgelegten Heft. Es war eines dieser Hefte, das im eigenen Unternehmen gebunden wurde, zum Beispiel für Präsentationen, Exposés und Ähnlichem. Natürlich prangte als Deckblatt das Logo der NYCCI darauf.

„Der Fonds wurde wie gesagt im letzten Jahr bereits aufgelegt aber erst in diesem Jahr aktiviert“, begann sie zu erklären.

„Es ist ein Spezialfond für ausgewählte europäische Kunden. Kunden, die namentlich nicht in Erscheinung treten wollen. Daher wird jede Einlage anonym über einen Notar in Genf abgewickelt. Bei den Kunden kann es sich um Privatiers, um reichere Geschäftsleute oder um ganze Konzerne handeln. Wir wissen das selber nicht. Was wir wissen, Mr. Keene, ist jedoch, dass der Fond bisher Einlagen in Höhe von 150 Milliarden US-Dollar erreicht hat.“

„150 Milliarden US-Dollar!?“ stieß ich unvermittelt hervor.

„Ja, Mr. Keene. Ein nettes Sümmchen, nicht wahr?“

Ich rang nach Fassung. Wenn das stimmte, war das Unternehmen, in dem auch ich meine Brötchen verdiente, der größte Global Player im Investmentbereich. Mir waren einige Fonds in Europa bekannt, die jeweils eine Einlage von bis zu 100 Millionen US-Dollar hatten. Aber selbst in der Summe kamen sie nicht auf den Betrag des Spezialfonds. Und wir redeten hier ja nur über Europa. Kommt der amerikanische und asiatische Markt hinzu, würde die gesamte Einlagesumme einen Betrag ausmachen, der jenseits meiner – und wohl nicht nur meiner – Vorstellungskraft liegt. Wie konnte ein Fond dieser Größenordnung an mir vorbeigegangen sein? Und wofür brauchte man so viel Geld?

„Wofür wird denn da so viel Geld eingesammelt“ wiederholte ich meine Frage laut.

„Die Details kenne ich auch nicht. Ich verwalte hier nur die Beträge. Ich glaube aber in einem Vertrag gelesen zu haben, dass unser Vorstand bis Ende des Jahres entschieden haben muss, in welche Projekte das Geld investiert wird. Aber wie gesagt, Genaueres weiß ich auch nicht. Tatsache ist aber, dass Sie bei Ihrem Statusreport diese Zahlen berücksichtigen müssen.“ Sie tippte auf die gebundenen Seiten in ihrer Hand.

„Na, dann geben Sie mal her.“ Ich hielt ihr die offene Hand hin und sie legte den Bericht hinein.

„Vielen Dank, Mrs. Goldblum. Dann werde ich mich mal da durchkämpfen.“

„Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie ruhig an“, bot sie mir an.

„Das werde ich, vielen Dank nochmals.“ Mit diesen Worten verließ ich ihr Büro und schlängelte mich wieder durch einen der vielen Logotunnel des Unternehmens. Also nicht nur eine ausgeprägte Profilneurose, sondern mehr Geld als alles und jeder andere auf der Welt, dachte ich. Meine Güte, was für Beträge. Man hätte die meisten Staaten der Erde damit aufkaufen können. Na, das würde ein Statusreport werden, der alle Rahmen sprengte. Mir war flau im Magen. Immer noch der Whiskey von gestern Abend? Gemischt mit hohen Zahlen? Zu hohen Zahlen. Plötzlich fiel mir ein, dass ich außer zwei Schlucken Kaffee bisher heute noch nichts zu mir genommen hatte. Kein Wunder, dass der Magen rebellierte. Ich könnte Becca bitten, mir etwas aus dem hauseigenen Café in der zehnten Etage zu besorgen. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als hätte sie heute schon genug für mich getan. Dann musste der Report eben fünf Minuten länger warten. Ich bog an der Kreuzung links in Richtung der Fahrstühle ab und drückte dort angekommen den Knopf. Es dauerte. Drei Aufzüge und nie kam einer, wenn man einen benötigte. Ich blickte auf die Anzeigetafeln hoch. Einer steckte im zweiten, einer im zwölften und einer im einundvierzigsten Stockwerk. Es dauerte. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich mit einem Klingeln eine Fahrstuhltüre und ich stieg ein. Der Aufzug war leer. Als ich gerade den zehnten Stock als Ziel auswählen wollte, setzte sich der Fahrstuhl bereits wieder in Bewegung. Nach oben. So ein Mist. Ich wollte doch nach unten. Jetzt sah ich auf der Lampenleiste, dass jemand den Fahrstuhl in den zweiunddreißigsten Stock beordert hatte. Ich drückte auf die Zehn. Na toll. Jetzt machte ich hier auch noch eine Spazierfahrt. Ich blickte auf meine Breitling Navitimer, einem Weihnachtsgeschenk von Julie. Julie. Ich musste sie nachher unbedingt anrufen. Es war bereits kurz vor elf. Verdammt. Die Zeit verging ja heute wie im Fluge. Nicht dass ich grundsätzlich etwas dagegen hätte, wenn es auf Feierabend zuging. Aber die warteten da oben auf meinen Statusreport und für Geduld waren die nun wirklich nicht bekannt. Eigentlich versuchte ich immer, mich von dem künstlichen Stress, den andere hier immer so zu verbreiten pflegten, fern zu halten. Aber heute stand ich auch irgendwie unter Strom. Der Tag war bisher nicht besonders gut verlaufen und er war noch lange nicht um. Der Aufzug kam mit einem leichten Ruck zum Stehen und die Tür öffnete sich. Herein trat Charles Buchanan.

„Mr. Keene. Wenn Sie den Statusreport abliefern wollen, haben Sie sich aber verdrückt.“ Er blickte mich an und begann gleichzeitig ob seiner sagenhaft mehrdeutigen Wortwahl herzhaft zu lachen. Dann wählte er per Knopfdruck den 28. Stock als sein Fahrziel aus und sah, dass ich offenbar in den 10. wollte.

„Sie haben Zeit für die Caféteria?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Haben Sie denn den Report schon an Mr. Clark abgeliefert?“

„Noch nicht, Mr. Buchanan. Ich wollte mir nur schnell ein Brötchen oder so besorgen. Mir ist schon ganz flau“ gab ich zurück.

„Flau? Ihnen wird noch flau, wenn Mr. Clark nicht bald den Report in Händen hält!“ blaffte er mich an.

„Mann! Was glauben Sie eigentlich, wo Sie hier sind? Sie können sich vollstopfen, wenn Ihre Arbeit erledigt ist!“

Alles klar, Du Arsch. Plustere Dich hier mal nicht so auf. Am liebsten hätte ich Charly im Nacken gepackt und mit der Nase so lange auf den Knopf für die 10. Etage gedrückt, bis wir diese endlich erreicht hätten.

„Machen Sie, dass Sie wieder in Ihr Büro kommen“ fuhr er mich weiter an.

„Natürlich, Mr. Buchanan.“ Mehr konnte ich nicht erwidern. Aber irgendwann lass ich Euch mit dem ganzen Scheiß hier alleine. Der Aufzug hielt und Charly stieg aus. Nicht ohne darauf zu achten, dass ich ihm auch ja folgte, was ich tat. Er sprintete in Richtung Konferenzraum los. Wahrscheinlich hatte er etwas vergessen. Ich trottete in Richtung meines Büros. Jetzt war mir noch schlechter als vor diesem sinnlosen Ausflug. Kurz bevor ich mein Büro erreichte, hörte ich Becca.

„Mr. Keene. Da sind sie ja. Ich hatte sie schon gesucht.

„Ja, Becca. Was ist denn schon wieder?“ herrschte ich sie fast an, was mir im selben Moment bereits leidtat. Sie konnte ja nichts dafür, dass mich Charly gerade rund gemacht hatte.

„Ähm… Mr. Andersen hatte erneut für Sie angerufen. Er bittet nochmals dringend um Rückruf“, sagte sie leicht irritiert.

„Es tut mir leid, Becca. Ist ein bisschen hektisch heute. Danke. Ich werde ihn zurückrufen.“

„Soll ich Ihnen etwas aus dem Café besorgen? Haben Sie schon gefrühstückt?“ Ein Goldstück diese Becca. Und ich machte sie auch noch blöd an.

„Das wäre echt toll, Becca. Ich bin noch nicht dazu gekommen auch nur einen Happen zu mir zu nehmen.“ Schon war sie weg. Dieses Mal hatte ich ihr noch nicht einmal Geld geben können. Ich betrat mein Büro, ging zum Schreibtisch und setzte mich an den Computer. Jetzt wurde es höchste Zeit, den Report irgendwie zusammenzuzimmern. Rick musste warten. Rick war Rick Andersen, der schon zwei Mal heute Morgen um meinen Rückruf gebeten hatte. Er war ein ehemaliger Schulkollege und mein ältester Freund. Wir kannten uns nun schon über dreißig Jahre. Eine verdammt lange Zeit. Wir hatten uns zwar mal einige Jahre aus den Augen verloren, uns in New York aber dann wiedergetroffen. Seither hatten wir regelmäßig Kontakt, gekrönt von mehreren Treffen im Monat. Vorzugsweise in einer guten Bar. Vorzugsweise mit stundenlangen Gesprächen und gutem Single Malt. Wenn er heute schon zwei Mal angerufen hatte, musste es wohl wichtig sein. Verdammt, ich rufe ihn doch sofort an. So lange kann der Bericht auch noch warten. In dem Moment, in dem ich den Telefonhörer ergriff, klingelte es, sodass ich sofort dran war und etwas verdutzt meinen Namen in die Muschel blies. Gleichzeitig hörte ich eine laute Stimme.

„Hier Clark. Wann habe ich den Statusreport, den ich angefordert hatte?“ blaffte es weniger fragend als verärgert von der anderen Seite der Leitung.

„Ich arbeite daran, Mr. Clark“ erwiderte ich wenig einfallsreich.

„Ich muss noch den europäischen Spezialfond einarbeiten, von dem ich bis eben noch keine Kenntnis hatte“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.

„Welchen europäischen Spezialfond? Wovon faseln Sie da, Keene?“ bellte es in mein Ohr. Jetzt war ich einigermaßen erstaunt. Der Big Boss wusste auch nichts von diesem Fond?

„Na, von dem 150 Milliarden-Dollar-Fond, der erst dieses Jahr aktiviert wurde, Mr. Clark.“ Stille.

„Mr. Clark?“, fragte ich vorsichtig auffordernd.

„… 150 Milliarden! Haben Sie getrunken, Keene! Sind Sie jetzt völlig durchgedreht!“ Offenbar schnappte er nach Luft.

„Nein, Sir. Mrs. Goldblum hat mich soeben darüber informiert“, antwortete ich, ohne auf seine Unverschämtheit einzugehen.

„Sie schnappen sich jetzt sofort Mrs. Goldblum und sind in fünf Minuten in meinem Büro! Haben Sie verstanden, Keene?“

„Selbstverständlich, Mr. Clark“, erwiderte ich. Und schon hörte ich, wie der Big Boss den Hörer auflegte, wobei das nicht wirklich die richtige Beschreibung dafür ist, wie er sich des Hörers entledigte. Er knallte ihn derart fest auf sein Telefon, dass mir das Ohr klingelte. Dankeschön, Mr. Clark! Ich drückte die Unterbrechungstaste auf meinem Telefon und unmittelbar danach die Ziffern 9 und 3. Das war die Durchwahl von Melanie Goldblum. Es klingelte vier Mal, bis sie abhob.

„Melanie Goldblum.“

„Hier ist noch mal Keene, Mrs. Goldblum. Ich hatte gerade eine recht laute Unterredung mit dem Big Boss. Es ging um den Report bzw. diesen Spezialfond. Er möchte uns beide sofort in seinem Büro sehen.“

„OK. Treffen wir uns am Aufzug“, beendete sie das Gespräch kurz und bündig ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. Ich legte den Hörer auf, nahm die Mappe, die Melanie mir eben mitgegeben hatte, ein paar weitere Ausdrucke hinsichtlich des noch nicht fertiggestellten Reports und hastete aus meinem Büro. Weit kam ich nicht. Vor der Türe stieß ich mit Becca zusammen, die alles fallen ließ, was sie bei sich trug. Sah nach meinem Frühstück aus. Schade.

„Sir, was ist denn los?“, fragte sie erschrocken, sich bereits bückend nach den einzelnen Sachen auf dem Boden ausstreckend.

„Sorry, Becca. Es tut mir leid. Ich muss sofort zum Big Boss“ antwortete ich und bewegte mich weiter schnellen Schrittes Richtung Fahrstühle. Becca schaffte es aber noch, mir einen halbvollen Becher Kaffee in die Hand zu drücken.

„Dann trinken Sie wenigstens den!“ forderte sie mich lächelnd aber bestimmt auf. Ich nahm ihr im Gehen den Becher aus der Hand und schlürfte hektisch daran rum, während ich meinen Weg zu den Fahrstühlen fortsetzte. Ich blickte mich noch einmal kurz um und sah Becca auf dem Boden herumkriechen, offenbar vor sich her fluchend. Sie tat mir leid. Sie hatte mir extra etwas zu essen besorgt und jetzt das. Ich schaute wieder nach vorne und sah Melanie schon vor den Aufzügen stehen.

„Hallo, Mrs. Goldblum.“

„Hi, Mr. Keene. Was macht der denn für´n Stress?“ fragte sie mich und zeigte mit ihrem rechten Zeigefinger nach oben.

„Keine Ahnung. Aber ich habe den Eindruck, dass er bisher ebenso wenig von diesem Fond wusste wie ich, bevor ich mit Ihnen sprach. Ich dachte, der kriegt ´nen Herzinfarkt“ fasste ich mein Telefonat mit dem Big Boss kurz zusammen. Dass er mich für irre oder mindestens betrunken hielt, verschwieg ich ihr. Seine Laune würde sie schon früh genug am eigenen Leib zu spüren bekommen, fürchtete ich. Die Aufzugtüre öffnete sich und wir stiegen ein. Ich nippte an meinem Kaffee. Er schmeckte furchtbar. Melanie drückte den Knopf zur 41. Etage, der höchsten des Gebäudes. Dort saß der Vorstand. Ich glaube, ich war in den über fünfzehn Jahren, die ich jetzt hier arbeitete, lediglich zwei Mal bis in diese Etage vorgerückt. Das war beide Male während der Finanzkrise. Eine sehr stressige Zeit, keiner wusste mehr, wo ihm der Kopf stand. Damals musste ich auch irgendwelche Berichte in Rekordzeit fertigen und nach oben bringen. Ansonsten hörte man entweder von Dritten oder nur per Telefon von Mitgliedern des Vorstandes. Nun sollte ich also in ein paar Sekunden wieder einmal die heiligen Hallen betreten. Zugegeben – ich war nervös. Und das ließ sich offenbar nicht verbergen.

„Nervös, Mr. Keene?“ fragte mich Melanie prompt, als könne sie meine Gedanken lesen.

„Ein wenig“, untertrieb ich und zeigte ihr ein gequältes Lächeln. Ihr schien es nichts auszumachen, nach dort oben zu müssen. Der Fahrstuhl hielt und die Tür öffnete sich. Wir betraten den 41. Stock. Ich wollte mich zunächst orientieren doch Melanie schien den Weg genau zu kennen und ging zielstrebig in Richtung Nordseite. Ich folgte ihr, nachdem ich den leeren Kaffeebecher in einer der Stahlmülleimer, die links und rechts die Aufzüge flankierten, entsorgt hatte. Offensichtlich war Melanie – aus welchen Gründen auch immer – öfter auf dieser Etage. Wir hasteten durch die langen Gänge. Auch hier alle 5 Meter das Firmenlogo. Allerdings nicht in einen anthrazitfarbenen Teppich eingewebt sondern in Parkett geschnitzt. Die ganze Etage schien mit Parkettboden ausgelegt zu sein. Gerade als ich mich fragte, ob es auf den Toiletten wohl auch Parkettboden gab, bremste Melanie vor mir abrupt ab, sodass ich um ein Haar in sie reingerannt wäre. Sie klopfte an die massive Holztür – erstaunlicherweise ohne Logo –, vor der wir zum Stehen gekommen waren und wartete ein schroffes „Herein!“ ab. Sie öffnete die Tür und wir betraten den Raum. Mir präsentierte sich ein grandioses Bild, sowohl vom Zimmer selbst als auch von der Aussicht. Ich schätzte, der Raum war fast so groß wie ein Tennisplatz. Er war komplett in hellen und dunklen massiven Holzmöbeln eingerichtet. Aber nicht so viele, dass es erdrückt hätte. Sehr geschmackvoll. Und sehr teuer natürlich. Ich weiß nicht, wie viele – eigentlich illegalen – Tropenholzarten hier verbaut worden waren, aber es wirkte alles äußerst elegant. Noch mehr faszinierte mich aber der Ausblick. Hier auf der obersten Etage überragte das Gebäude alle umliegenden, sodass man einen unverbauten Blick auf den Financial District hatte. Und das bedeutete auf das One World Trade Center, das so gut wie fertiggestellt war. Ein Turm, der mit 541 Metern über drei Mal so hoch in den New Yorker Himmel ragte, wie das Gebäude, in dem ich mich jeden Tag befand, und damit das größte Gebäude in der Stadt und das dritthöchste der Welt war. Selbst ohne die riesige Antenne auf seinem Dach kam es auf über 400 Meter Höhe. Ein Bau der Superlative, der über 4 Milliarden Dollar verschlungen hatte oder haben würde, wenn er endgültig fertiggestellt war. Ein Zeichen Amerikas an die Welt: Wir sind unbesiegbar! Nehmt Ihr uns unser Wahrzeichen, bauen wir ein noch imposanteres! Sowohl das Gebäude als auch die damit verbundene Botschaft waren keineswegs unumstritten. Viele Stimmen sagten, dass es sich um reine Provokation handele, die irgendwann zu einer neuen Katastrophe führen könnte. Aber so war die Welt eben, und die Vereinigten Staaten von Amerika erst recht: immer höher, schneller, weiter. Egal was passierte. Von dem Gebäude ging einerseits Faszination aus, andererseits war es durchaus in der Lage Ängste zu schüren. Ängste vor einer Wiederholung von 9/11. Dieses Gebäude schien ja geradewegs dazu einzuladen, so sagte sich wohl mancher. Meine Ansicht dazu war recht ambivalent. Zumal ja ohnehin niemand so genau wusste, was am 11. September wirklich geschehen war. Ich war zwar fernab jedweder Verschwörungstheorie. Aber den offiziellen Berichten war schon aufgrund physikalischer Unmöglichkeiten kein Glauben zu schenken. Stahlträger schmelzen nun mal nicht bei einem auf Kerosin basierenden Feuer und Flugzeuge verschwinden nicht einfach in Hochhäusern, wie uns die angeblichen Live-Aufnahmen weismachen wollten. Und zwei der höchsten Gebäude der Welt verschwinden auch nicht einfach als Staubhäufchen im Boden, ganz zu schweigen von einem dritten (WTC-7), das von den angeblichen Angriffen noch nicht einmal unmittelbar betroffen war. Was auch immer da passiert war, konnte mit dem neuen Gebäude wieder passieren.

„Wenn Sie dann soweit wären, Mr. Keene!“ durchbrach der Big Boss meine Gedankenschwaden. Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und richtete ihn auf Mr. Clark, der hinter seinem mächtigen Holzschreibtisch stand. Er blitzte mich mit funkelnden Augen an, hatte ich ihn doch noch nicht einmal angesehen, als ich den Raum betrat. So sehr war ich von der Aussicht und dem Interieur erfasst. Ein Fauxpas! Jetzt musste ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen, um das wieder geradezurücken. Auf die Eitelkeit eines Mannes der obersten Etage bauend erwiderte ich:

„Selbstverständlich. Entschuldigen Sie, Mr. Clark, aber der Ausblick ist einfach grandios. Und Ihr Büro zeugt von sehr gutem Geschmack, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“ Der Blick vom Big Boss wurde ein wenig weicher und ich meine, den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht erkannt zu haben. Nicht so bei Melanie, die mich scharf anblickte und mir mit den Augen den Gang zu den Besuchersesseln geradezu befahl. Deswegen und weil sie bereits auf dem Weg dorthin – es waren gute vier, fünf Meter – war, folgte ich ihr.

„Vielen Dank, Mr. Keene, aber Sie sind nicht hier, um den Ausblick zu genießen“, erwiderte Mr. Clark trocken. Er wies uns mit der Hand an, Platz zu nehmen, was wir taten.

Daniel Clark, schätzungsweise Mitte sechzig, höchstens eins fünfundsechzig groß, ein wenig rundlich, wenig Haare, randlose Brille, millionen- wenn nicht milliardenschwer, war der absolute Herrscher über sein Unternehmen. Er hatte es bereits von seinem Vater übernommen und die Mehrheitsanteile nie aus der Hand gegeben. Es gab zwar einige Topmanager hier, die was zu sagen hatten, aber er konnte alleine über alles entscheiden, wenn er wollte. Er hatte alle Fäden in der Hand. Dachte er bis zu diesem Vormittag jedenfalls. Dachte ich bis zu diesem Vormittag jedenfalls.

„So, Mr. Keene, dann zeigen Sie mir mal diesen angeblichen Mega-Fonds“, forderte er mich mit ausgestrecktem Arm und geöffneter Hand auf. Offenbar hatte er sich zwischenzeitlich wieder ein wenig beruhigt, denn er sprach in einer normalen Lautstärke. Ich drückte ihm die von Melanie vorhin erhaltene Mappe in die Hand. Er begann sofort, darin zu blättern und zog einige Male die Augenbrauen hoch, während er die Zahlen studierte. Zwischendurch blickte er über seine Brille hinweg immer mal wieder abwechselnd zu Melanie oder zu mir. Nach gefühlten zehn Minuten – wahrscheinlich war es nur eine einzige – warf er die Mappe auf den Schreibtisch und wandte sich wieder an mich, diesmal wieder deutlich lauter:

„Wo zum Henker haben Sie nur diese Zahlen her, Keene!?“

„Ähm … von Mrs. Goldblum, Sir“, antwortete ich.

„Ich hatte bis eben noch keine Ahnung davon, bevor mir Mrs. Goldblum diese Mappe übergeben hatte.“ Ich blickte ein wenig hilfesuchend zu Melanie hinüber, die mich allerdings mit riesigen fragenden Augen anstarrte, was bei mir wiederum eine Art Schockstarre hervorrief.

„Ich habe Ihnen diese Mappe gegeben, Mr. Keene?“, fragte sie gespielt erstaunt.

„Ich glaube, Sie verwechseln da gerade etwas.“ Ich traute meinen Ohren nicht.

„Darf ich mal bitte sehen, Mr. Clark“, hörte ich sie wie durch Watte sagen. Ich merkte, wie mir flau wurde und sich eine Art Nebel auf Gehör und Sehnerv legte. Was war hier nur los, verdammt? Was sollte dieser Blödsinn? Ich war zunächst nicht in der Lage etwas zu sagen, so sehr war ich von Melanies Reaktion überrascht. Sie nahm sich die Mappe vom Tisch, die sie mir vor nicht ganz einer Stunde selber gegeben hatte und starrte darauf, als wenn sie sie das erste Mal sehen würde. Sie blätterte kurz darin und legte sie wieder auf Mr. Clarks Schreibtisch zurück.

„Tut mir leid, Sir“, wandte sie sich an Mr. Clark.

„Diese Mappe habe ich noch nie gesehen und über einen Spezialfonds ist mir nichts bekannt.“ Bang!!! Das saß. Ich wusste nicht, wie mir geschah und blickte Melanie und den Big Boss abwechselnd fassungslos an. Ich muss in diesem Augenblick wirklich eine erbärmliche Figur abgegeben haben. Ich rang noch nach Fassung, als sich bereits Mr. Clark wieder an mich wandte:

„Mr. Keene, was soll das Ganze hier?“ Er schenkte mir einen durchdringenden Blick.

„Äh … also, ich weiß auch nicht … aber Mrs. Goldblum hat mir diese Mappe soeben erst überreicht. Ich weiß nicht, warum sie jetzt etwas anderes behauptet“, stieß ich hervor, meinen ganzen Mut zusammennehmend.

„Also, das ist doch eine Unverschämtheit!“ entgegnete Melanie sofort.

„Ich hatte mich schon gefragt, warum ich mit Ihnen hier hoch soll“, log sie weiter. Für diesen Auftritt hätte sie einen Oscar verdient, Scorsese hätte diese abstruse Szene nicht besser umsetzen können. Doch eigentlich erinnerte mich das Ganze eher an einen David Lynch-Film, wenn ich länger darüber nachdachte. Dazu war aber jetzt eigentlich so gar keine Zeit und ich versuchte erneut, zu einer Erklärung anzusetzen, als Mr. Clark die Mappe wieder vom Tisch nahm, eine bestimmte Seite weiter hinten aufschlug und mir diese mit fuchtelnden Bewegungen unter die Nase hielt.

„Hier steht doch Ihr Name, Keene, oder etwa nicht?“ brüllte er jetzt wieder. Ich blickte auf die Seite und konnte – aufgrund des aufgebrachten Herumgefuchtels nur schwerlich – meinen Namen unter dem Bericht erkennen. Nicht als Unterschrift aber in Druckbuchstaben. Da stand es schwarz auf weiß: BERICHT VERFASST VON: CHRIS KEENE, F.D.C.W.E. Letzteres stand übrigens für Financial Department for Central and Western Europe. Ich blickte ungläubig auf diese Zeile.

„Ja, schon…“, erwiderte ich stockend.

„Aber dieser Bericht ist nicht von mir.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass jemand anderes den Bericht in Ihrem Namen abgefasst hat, Keene?“ fragte mich Mr. Clark mit einem Tonfall, der bereits die Antwort auf seine Frage suggerierte. Er hielt es offenbar nicht für möglich.

„Offenbar ist es so, Sir“, antwortete ich in dem Versuch und der vagen Hoffnung, ihn dennoch zumindest davon als Möglichkeit überzeugen zu können. Was mir nicht gelang.

„Jetzt hören Sie aber auf, Keene!“ schrie er mich regelrecht an.

„Was soll das denn? Wer sollte so etwas und aus welchem Grund tun? Was wollen Sie mir hier erzählen?“

Ich blickte noch einmal Melanie an, die meinem Blick allerdings sofort auswich und stattdessen lieber dem Big Boss mit unschuldigem Augenaufschlag begegnete. Da wurde mir klar, dass ich hier keine Chance hatte. Ich war offensichtlich hereingelegt worden, konnte aber bisher noch keinen Grund dafür erkennen. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Ich sah aus dem Fenster, in die Häuserschluchten von Lower Manhattan. Meine Gedanken verliefen sich im Nichts. Ich dachte, ich müsse vielleicht hyperventilieren. Stattdessen versuchte der Nebel, der mich bereits zu Beginn des Gesprächs zu umhüllen begonnen hatte, sich nunmehr vollends auszubreiten. Ich hörte den Big Boss noch sagen oder doch eher brüllen:

„Keene! Hallo-oh! Bekomme ich bald mal eine Antwort!“

Dann zollte mein Körper den Ereignissen offenbar gepaart mit der Tatsache, dass ich heute noch nichts gegessen hatte, Tribut und versagte seinen Dienst. Mir sackte der Kreislauf weg und ich im Sessel zusammen.

Das erste, das ich wieder wahrnahm war die Stimme von Becca, meiner selbsternannten Privatsekretärin, die sich über mich beugte und „Mr. Keene. Mr. Keene?“ zischte. Ich öffnete die Augen und ersparte mir das obligatorische „Wo bin ich?“. Stattdessen fragte ich Becca:

„Was zum Teufel machen SIE hier?“ was wohl drastischer klang, als es gemeint war. Becca zeigte mir ein enttäuschtes Gesicht, das mich dazu veranlasste, gleich ein „Schön, dass Sie hier sind“ hinterherzuschicken. Jetzt strahlte Sie mich wieder an.

„Mr. Keene. Was machen Sie denn für Sachen?“ Sie ließ selbstverständlich diesen Satz nicht aus.

„Ich wurde von Mrs. Goldblum darüber informiert, dass Sie in Mr. Clarks Büro ohnmächtig geworden sind, und Sie erlaubte mir, Ihnen ins Krankenhaus zu folgen, um nach Ihnen zu sehen. Seither sind bereits zwei Stunden vergangen.“

Zwei Stunden? Was zum Henker…? Ich erinnerte mich schlagartig an den Inhalt des Gespräches mit dem Big Boss und Melanie und merkte, wie mein Puls wieder unmittelbar zu rasen begann. Die Geräte neben mir piepten in einer Frequenz, die nicht gesund klang. So dauerte es auch nur wenige Sekunden, bis die Tür zum Krankenzimmer aufflog und eine Schwester hereinwehte. Sie blickte kurz auf die Geräte und schon hatte ich Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand an meinem rechten Handgelenk.

„Beruhigen Sie sich, Mr. Keene. Alles ist in Ordnung“, sagte sie mit einer auffordernden aber zugleich sanften Stimme. Dabei blickte sie mir tief in die Augen und ich erkannte, dass sie ein wahrlich hübsches Gesicht hatte. Wenn sie sich da mal nicht täuschte, diese nette, wirklich hübsche Krankenschwester. Nichts war in Ordnung. Heute wurde mir an meinem Arbeitsplatz offenbar ein ominöser Milliarden-Fonds untergeschoben, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Das bedeutete ganz sicher nicht, dass alles in Ordnung war. Dennoch beruhigte sich mein Puls allmählich. Vielleicht aufgrund der Sanftheit der wirklich außerordentlich hübschen Krankenschwester. Ich war von ihr offenbar so sehr abgelenkt, dass meine Aufregung über die heutigen Ereignisse immer mehr nachließ. Die arbeiten aber auch wirklich mit allen Mitteln in diesen modernen Kliniken. Ich ertappte mich kurz bei dem Gedanken, dass ich froh darüber war, dass nicht Dr. House mein Handgelenk hielt. Verdammte Fernsehserien.

„Das sieht doch schon besser aus“, sagte die kaum-zu-fassen-hübsche Krankenschwester, die übrigens Vivianne hieß, wenn man ihrem Namensschild Glauben schenken konnte, als sich auch die Geräte neben mir wieder beruhigt hatten.

„Ich sehe dann später noch mal nach Ihnen, Mr. Keene.“ Aber auf jeden Fall, dachte ich.

„Am besten schlafen Sie jetzt ein wenig. Die Beruhigungsmittel wirken noch nach.“ Mit diesen Worten entschwand sie meinem Anblick und dem Krankenzimmer. Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, dass Becca ja auch noch im Raum war. Sie war ein paar Schritte zur Seite getreten, ja regelrecht gesprungen, als Vivianne zur Tür hereingestürmt war. Jetzt kam sie dem Bett, in dem ich lag, und damit mir wieder näher.

„Wie geht es Ihnen?“ fragte sie vorsichtig.

„Ein bisschen schlapp. Aber sonst ganz gut“, erwiderte ich. Tatsächlich fühlte ich mich sehr müde. Die müssen mir echte Hämmer verpasst haben.

„Wahrscheinlich hat die Schwester recht und ich sollte noch ein wenig schlafen. Fahren Sie mal wieder ins Büro zurück und berichten Sie, dass ich noch lebe“, bat ich Becca und versuchte dabei ein Lächeln hervorzubringen, was aber nicht so richtig gelingen wollte.

„Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, hierher zu kommen, Becca.“ Sie lächelte mich wieder an.

„OK, Mr. Keene. Dann fahre ich mal wieder. Sie sagen Bescheid, wenn Sie etwas brauchen oder ich Sie abholen soll oder so etwas, ja?“ fragte sie übertrieben fürsorglich.

„Ich werde ja wohl nicht allzu lange hierbleiben müssen, schätze ich. Wir sehen uns dann im Büro.“

„Ruhen Sie sich erst mal aus. Nehmen Sie das nicht so auf die leichte Schulter, Mr. Keene. Die werden im Büro auch mal ohne Sie auskommen.“ Darauf wette ich. Wahrscheinlich ist die Intrige, oder was das auch immer sein sollte, gegen mich gerade voll im Gange. Nope. Ich musste so schnell wie irgend möglich wieder an meinem Schreibtisch sein und herausfinden, was dort gespielt wurde. Aber momentan war daran nicht zu denken. Ich konnte vermutlich noch gar nicht wieder aufstehen. Auf einen Versuch ließ ich es besser nicht ankommen.

„Danke, Becca“, sagte ich, drehte mich auf die Seite und schloss meine Augen. Ich hörte noch, wie Becca leise den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss. Das monotone, nun wieder langsame Piepen der Geräte ließ mich unmittelbar in den Schlaf sinken.

EINE WOCHE

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