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Lernort 1 Exkursionsziel Auschwitz

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Auschwitz zählt zu den am häufigsten von deutschen Schulen besuchten Exkursionszielen im Ausland. Tausende von Schülerinnen und Schülern reisen alljährlich zur dort eingerichteten Gedenkstätte mit dem offiziellen Titel Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau.[1] Ziel der Studienfahrten ist es, bei einem Besuch am historischen Ort dessen angebliche authentische Dimension zu erfahren und für das Lernen über die Shoah nutzbar zu machen.[2] Schließlich ist es gerade jene »Aura« des Geschehensortes, der ein hohes Motivationspotenzial für das individuelle historisch-politische Lernen zugeschrieben wird.[3] Wenn also Auschwitz, das in Deutschland lange ein »eigentümlich ortloser Ort«[4] geblieben war, inzwischen alljährlich von Hunderten deutscher Schulgruppen besucht wird, verwandelt sich der Schauplatz des »größten Verbrechens der Geschichte der Menschheit«[5] zunehmend zu einem »Lern-Ort«. Er wird damit absichtsvoll in den Unterricht miteinbezogen und ausschließlich zum Zwecke des Lernens besucht.[6] Das vormalige Lager wird auf diese Weise zum Gegenstand des schulischen Unterrichtens und die Exkursion ergänzt das zuvor im Klassenzimmer erworbene Wissen über den Nationalsozialismus und die Shoah.

An der Eignung der Gedenkstätte im Süden Polens als Lernort scheint in der Öffentlichkeit keinerlei Zweifel zu bestehen,[7] zumal mit dem Ortsnamen Auschwitz häufig viel beachtete bildungspolitische Kontroversen verbunden waren und sind.[8] Um gegen wiedererstarkenden Antisemitismus und Rassismus sowie gegen Vorurteile aller Art vorzugehen, schlagen Politikerinnen und Politiker quer durch alle demokratischen Parteien immer wieder vor, schulische Besuche an Gedenkstätten früherer NS-Lager weiter auszubauen oder sogar verpflichtend in den Curricula zu verankern.[9] Zuletzt hat Wolfgang Benz der seit Jahren in unregelmäßigen Abständen aufflammenden politischen Debatte um Pflichtbesuche eine »erstaunliche Wiedergängerqualität in der deutschen Öffentlichkeit« attestiert und auf die völlig überhöhten Erwartungen hingewiesen.[10] Doch finden derartige Mahnungen aus Geschichtswissenschaft und Gedenkstättenpädagogik in der Öffentlichkeit selten Gehör. Ausweislich einer Umfrage vom Januar 2020 sollen 75 Prozent der Deutschen schulische Pflichtbesuche in ehemaligen NS-Lagern befürworten und damit ausdrücklich einem Schlussstrich unter die Erinnerung an den Nationalsozialismus eine Absage erteilen.[11]

Die Mehrheit der Deutschen vertraut wohl weiterhin auf die Lerneffekte der Bildungsangebote und pädagogischen Programme in Gedenkstätten.[12] Bei einem Besuch sollten die Gäste überzeugt werden, »durch ihr eigenes Leben zu einer Welt beizutragen, in der ein Schrecken von der Art des erinnerten sich nicht mehr ereignen darf oder kann«.[13] Der Eindruck entsteht, als wären die ehemaligen Tatorte inzwischen zu Bildungsstätten transformiert.[14] Dabei beschränkt sich das Vertrauen selbstredend nicht auf Einrichtungen in Deutschland, sondern schließt – dies vielleicht sogar in noch verstärktem Maße – Gedenkstätten in anderen Ländern ein. Formal verankert ist diese Internationalisierung seit Dezember 2014, als die Gemeinsame Kultusministerkonferenz der Länder das Konzept Erinnern für die Zukunft. Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule[15] verabschiedete. Darin forderten die Ministerinnen und Minister ihre Schulen auf, nicht nur verstärkt historische Exkursionen in den Unterrichtsalltag aufzunehmen, sondern zudem bewusst Ziele im Ausland anzusteuern. Seither reisen Lernende, wenn sie KZ-Gedenkstätten aufsuchen, nicht mehr »nur« zu Stätten innerhalb Deutschlands, wie etwa Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau oder Sachsenhausen, sondern zunehmend auch ins Ausland. Neben Fahrten baden-württembergischer Schulen nach Frankreich in die nahe gelegene Gedenkstätte Natzweiler-Struthof[16] oder bayerischer Gruppen ins österreichische Mauthausen sind dies vor allem Exkursionen nach Oświęcim. Das dortige Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau wird von der bundesdeutschen Bildungspolitik immer wieder hervorgehoben und seine Bedeutung als Lernort für deutsche Schülerinnen und Schüler unterstrichen.[17] Namentlich scheint man dem Besuch der Überreste des vormals größten Lagers innerhalb des NS-Terrorsystems[18] zuzuschreiben, worüber sich schon Überlebende wie Maurice Goldstein, der langjährige Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, sicher waren: Besuche in Auschwitz veränderten Menschen – jeden Menschen.[19]

Es ist nicht schwer, auf dem Buchmarkt entsprechende Titel zu finden, die diesen Optimismus weitertragen.[20] Manche Berichte im Nachklang zu Gedenkstättenfahrten spiegeln dieses Bild ebenfalls wider.[21] Zu fragen ist aber, ob es tatsächlich so einfach ist, die inzwischen klassisch gewordene Forderung Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1966 zu erfüllen. Kann bereits der einmalige Besuch des ehemals größten NS-Lagers und der dort heute existierenden Gedenkstätte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei«[22]? Dieser Überlegung will die vorliegende Studie nachgehen, indem sie das Potenzial des Lernortes Auschwitz ausleuchtet und diskutiert.

Wenig strittig dürfte zunächst sein, dass sich in Oświęcim sehr günstige Rahmenbedingungen für schulisches Lernen finden lassen. Die geschichtsdidaktische Forschung hat als Voraussetzungen für einen ertragreichen Einbezug historischer Orte in den schulischen Geschichtsunterricht vier Kriterien formuliert,[23] welche das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zu garantieren scheint. In der Tat haben sich, erstens, auf dem Areal der ehemaligen Lager geschichtlich höchst bedeutsame Ereignisse abgespielt, deren Behandlung zu den kanonischen Themen des Geschichtsunterrichts (nicht nur in Deutschland) gehört. Zweitens lassen sich bei einem Besuch an den heute noch sichtbaren Relikten sowohl in Auschwitz I als auch in Auschwitz II relevante Strukturen der Geschehenszeit ablesen und rekonstruieren. Das Agieren der Täter ebenso wie das Leiden der Opfer kann bestimmten Räumen zugeordnet werden. Daneben wirkt Birkenau auf die Gedenkstättenbesucher durch seine unglaubliche Dimension. Bereits die Größe des früheren Lagerkomplexes von mehr als 191 Hektar belegt bei einem Besuch die Unmenschlichkeit der NS-Ideologie. Drittens werden Lernende bei einem Besuch des heutigen Staatlichen Museums erkennen, wie stark sich der historische Ort seit 1945 verändert hat. Er entspricht nicht mehr dem zeitgenössischen Zustand am Tag der Befreiung des Lagers. Noch weit weniger ist er deckungsgleich mit den Filmkulissen, die den Lernenden schon vor ihrer Reise an den Geschehensort aus Leinwandproduktionen wie Schindlers Liste vertraut sind. Vielmehr waren die zu besuchenden Räume schon in den Jahren zwischen 1940 und 1945 einem ständigen Wandel unterworfen,[24] was sich für die Zeit nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 weiter beschleunigt hat. Besonders in der musealen Gestaltung des seit 1947 existierenden Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau schlägt sich diese geschichtskulturelle Prägung nieder.[25] Die erinnerungspolitische Nutzung des Ortes bis in die Gegenwart stellt eine vierte Dimension dar, die Lernende bei ihrer Fahrt nach Oświęcim erfahren und ergründen können.

Vielleicht ist es tatsächlich diese fast idealtypische Passung des historischen Ortes zum Geschichtsunterricht, vielleicht zieht viele Gruppen aber nur primär die Prominenz des Namens an: Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau ist inzwischen kein »Geheimtipp« mehr für deutsche Schulen. Besaß der Besuch im Süden Polens bis in die 1990er Jahre noch einen Hauch von Exklusivität,[26] so finden Exkursionen dorthin inzwischen in sehr hoher Zahl statt, wie die vorliegende Arbeit noch ausführlich darstellen wird. Die schulischen Fahrten tragen damit ihren Teil zum enormen Ansturm der Besucherinnen und Besucher bei, dem sich das Staatliche Museum seit Jahren gegenübersieht. Lag die Zahl der jährlichen Gesamtgäste noch bis Mitte der 1990er Jahre bei etwa 500.000, so stieg das Interesse danach rasch an und hat sich bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie bei über zwei Millionen Gästen eingependelt.[27] Wenn aber etwa zwei Drittel der Gäste Jugendliche sind, demonstriert das das große Interesse von Bildungseinrichtungen an Besuchen in Oświęcim, vor allem von Schulen – nicht nur aus Deutschland.[28]

Mit der enormen Nachfrage einher geht eine häufige Überfüllung der Gedenkstätte. Die Menschenmassen, die sich dort vornehmlich in den Hauptreisezeiten des Sommers regelrecht ballen, lassen einen ungehinderten Besuch des historischen Ortes oft kaum mehr zu. Für die Bundeszentrale für politische Bildung resultierte aus dieser Situation schon im Jahr 2017 die Notwendigkeit, eine umfangreiche Publikation vorzulegen, die deutschen (Gruppen-)Reisenden bewusst Alternativen zu Besuchen in Oświęcim nahebringen will.[29] Der Band will aufzeigen, dass nicht alle, die einen historischen Ort der Shoah besuchen wollen, ausschließlich zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau fahren müssen. Weil sich besonders in Osteuropa eine Fülle an Schauplätzen von NS-Gewaltverbrechen nachweisen lässt, sei der gängigen Engführung der Shoah auf den industriell abgewickelten Massenmord in Birkenau entgegenzuwirken. Beispielsweise könnten historische Orte von Massenerschießungen, die in der aktuellen Forschung weit stärker fokussiert werden als die zentralen Lager,[30] besucht werden.[31] Insgesamt sei dementsprechend die Zentrierung auf den Lernort Auschwitz dringend zu überdenken, zumal sich an anderen historischen Orten ebenfalls pädagogisches Potenzial ausmachen lasse,[32] so der Tenor des Bandes der Bundeszentrale für politische Bildung.[33]

Allerdings sagen hohe Besucherzahlen wenig über die spezifische Zielsetzung der Gäste oder einen wie auch immer gearteten Lernerfolg aus,[34] zumal das Streben nach einem reflektierten und demokratischen Geschichtsbewusstsein nicht bei allen Reisenden zwingend vorauszusetzen ist. So zieht besonders der Schauplatz des »schrecklichste[n] Schlachthaus[es] der Menschheitsgeschichte«[35], wie es ein Polen-Reiseführer in DDR-Zeiten einst zugespitzt formulierte, heute Gäste des sogenannten »Dark Tourism« an, die sich am Schrecken des dort Vorgefallenen ergötzen wollen, aber in der Regel kein grundlegendes Bildungsinteresse verfolgen.[36] Daneben ist der Ort des Verbrechens zugleich Erinnerungsort einer internationalen extremen Rechten, die sich gegenüber gedenkstättenpädagogischen Intentionen strikt abgrenzt und ausdrücklich kein Interesse an einer universellen Menschenrechtsbildung oder an Fragen der Antisemitismusprävention zeigt.[37] Doch auch im klassischen Tourismus, der Oświęcim inzwischen vollständig erfasst hat und den Besuch dort zumeist mit einem Aufenthalt in Krakau verbindet, herrscht keineswegs immer ein aus Sicht der Geschichtswissenschaft angemessener Umgang mit den historischen Orten vor.[38] Vielmehr jagen die Besuchermassen einer Fiktion von »Authentizität« hinterher, die sich an den besuchten Orten ohnehin nicht mehr vorfinden lässt.[39] Wenn nun Jugendliche das Staatliche Museum in sehr hoher Quantität nicht zuletzt im Rahmen von schulischen Gruppenexkursionen aufsuchen, garantiert das noch nicht, dass die Besuche bei den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Auf- und Ausbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins beitragen.[40]



Die Überfüllung der Gedenkstätte lässt sich auch in den Fotos der Schulgruppen gut nachweisen, beispielhaft eine Abbildung aus einer Reisedokumentation aus dem Jahr 2014. Quelle: ASEE A14-111-331

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