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ERSTER TAG
ОглавлениеTrunken müssen wir alle sein! Jugend ist Trunkenheit ohne Wein; Trinkt sich das Alter wieder zu Jugend, so ist es wundervolle Tugend.
Goethe,Westöstlicher Divan
Das bierselige Begräbnis von Joschi. Ein nicht vermutetes Testament sorgt für Aufsehen
Alle Kampftrinker, wehmütige Versicherungsagenten, leidenschaftslose Lastwagenfahrer, verhärmte Ehemänner, der Bürgermeister Müller mit seinem Fraktionsvorsitzenden Hohl und die leichte Lola standen ganz benommen vor dem klaffenden Erdloch. Der Pastor mit seiner rosigen Nase stammelte pathetisch vom ewigen Leben und den reichlichen Verfehlungen der Toten im hiesigen – nur weil sie einige Jahre lang mit einer anderen kultischen Gottesanbetung geliebäugelt hatte. Dieser Infame! Es war wirklich reineweg zum Heulen. Ich wusste allerdings nicht genau warum.
Mit dem Tod der Wirtin Anna Magdalena Josephine Beuteler – kurz Josephine oder für engste Stammgäste „unsere Joschi“ - war für uns alle eine Ära endgültig zu Ende gegangen. Schließlich hatte sie mit ihrem Bier, ihren Schnäpsen, fettigen Frikadellen und ihren ausschweifenden Erzählungen im Alten Krug bei allen Gästen beträchtliche Löcher in den Geldbeutel gerissen und uns pompöse Erheiterung, aber auch etliche Blackouts beschert – von persönlichen Zerwürfnissen, Verbrüderungen und Eheanbahnungen gar nicht zu reden. Für uns ging das Leben aber doch noch ein Stück weiter – wie für Joschis Mischlingsköter Siegel. Während die Glöcklein der nahen Seelenabschussrampe genüsslich bimmelten, spürte ich auf meiner rechten Wange eine eiskalte Krokodilsträne. Unglaublich. Das komische Gefühl in der Magengrube wurde noch durch Yankos Requiem verstärkt, die er kurzfristig für diesen Abschied fertig gestellt hatte und die nun von CD abgespielt wurde. Yanco war kein Stammgast des Alten Kruges, aber ein begnadeter Musiker. Man musste ihn nur anrufen uns sagen: „Junge, hau rein. Wir brauchen für das Begräbnis von Joschi noch eine passende Musik“ – schon saß er an seinen Computern und werkelte los. Meine Stimmung hatte er mit seinem Requiem für Joschi umfassend getroffen.
Als danach aber noch der Frauengesangsverein unseres Ortes langmähnig und kurzröckig ein Lied irgendwo zwischen F und Fis anstimmte, benetzte sich auch meine zweite Kopfbacke mit einem salzwässerigen Tropfen. Herrje, was würde der Umtrunk mit begleitendem Schmaus gleich für aussichtslose Perspektiven erbringen! Ich trocknete meine Tränen und richtete meinen Blick entschlossen über die Friedhofsmauer in Richtung des Alten Kruges, der schwarze, silber melierte Schnauzermischling Siegel folgte meinen Augen nicht weniger entschlossen. Schließlich hatten wir die Schlüsselgewalt. Ha! Irgendwie würde ich wenigstens für einen Abend Joschi auferstehen lassen und einen persönlichen Schlusspunkt setzen können.
Wenn die Damen vom Chor noch etwas zum Besten geben sollten, würde ich sie in ihren Übungskeller neben der Kegelbahn verbannen. Der Pastor wird gleich abgefüllt und der Fraktionschef mitsamt seiner Pappnase an den Tisch neben dem Klo verbannt. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht für einen Abend das Erbe von Joschi würdig übernehmen könnte. Doch wohin dann am Sonntag zum Frühschoppen? Etwa in die „Ilse“ oder den „Wilden Eber.” Unvorstellbar. Die Zukunft musste neu sortiert werden.
Die Zeremonie hätte gut und gerne noch Stunden weitergehen können. Glücklicherweise war es jetzt ausgestanden. Irgendwie ist Joschi auch ein Ekel gewesen. Diese sinnlosen Intrigen, dieses aufreizende Schmatzen bei der letzten kalten Frikadelle am Abend und diese ewigen ominösen Verweise auf die totale Erfahrung des Alters und die dunklen Andeutungen über ihre Wirtschaft und die Notwendigkeit des Gleichgewichtes. Endlich war dies alles ausgestanden. Bei dem Gedanken an den Senf im Alten Krug überfuhr mich eine Gänsehaut. Würde ich ihn missen können? Woher hatte Joschi ihn bezogen? Momentan unwichtig. Siegel wurde vorahnungsvoll unruhig.
Aufbruch. Das betretene Schweigen löste sich allmählich in leichtes Raunen auf, Lola hörte man schon am Friedhofstor kichern. Dies war unserer Joschi bestimmt recht. Stolz und Steil hielt ich den Schlüssel zum Alten Krug in meiner Rechten. Irgendwie bin ich der rechtmäßige Erbe, nicht die Stadt mit ihrem Vorkaufsrecht. Ruhe! Was soll dieser Quatsch. Hier wird jetzt etwas absolut zu Ende gebracht. Ich bin nur der Vollzugsbeamte. Basta.
Demütig verbeugte sich der Pastor, als ich ihn mit einem höflichen, dennoch leicht angetäuschten ironischen Schlenker durch die Tür des Alten Kruges bat. Immer auf Seelenfang. Der Fraktionsvorsitzende und der Bürgermeister reichten mir unmotiviert, aber überzeugend fotoreif beim Eintreten die Hand. Immer auf Stimmenfang. Endlich bin ich wer. Zumindest heute – selbst für unseren galligen Besitzer der Molkerei. „Ausnutzen!,” schoss es mir durch den Kopf. Besonders bei dem adretten Töchterlein.
Geschwind und etwas unsicher drehte ich den Zapfhahn um und zapfe ein Probebier. Unsere Joschi ist tot, aber das Bier läuft wie eh und je. Das wird über den ersten bizarren Schmerz retten. Schon nach einigen Probeschnäpsen schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Wie konnte ich denn jetzt auch schon ahnen, dass mir und der ganzen Trauergemeinde noch eine große Rede des Bürgermeisters, des Fraktionsvorsitzenden und des Notars drohten und einigen Trunkenbolden ein zukunftsweisender Plan offeriert würde? Ein Angebot mit apokalyptischen Folgen.
Noch einmal das Frühschoppenritual. Gierig saugte ich die altbekannte abgestandene Luft und den angemufften Flair ein. Vor mir am Tresen hatten sich die üblichen Spezialisten aufgebaut. Zu erwähnen sind insbesondere der Forstsekretär Wilhelm von Schliepstein, der ewige Psychologiestudent Jonny Buchart, der Großmolkereibesitzer Theodor Klarmann und natürlich die ausufernde Lola.
Die Reihenfolge an der Bar war rituell festgelegt. Lola stand in ihren engen Jeans und den unzähligen Ringen an ihren Fingern immer am Ende des Tresens und hatte stets ein halbvolles Glas mit süßem Landwein vor sich. Sie mochte so um die dreißig sein und arbeitete irgend etwas mit Alten Menschen. Solch einer war ihr Nachbar Wilhelm von Schliepstein. Auch heute trug er seine grüne Forstjacke mit etlichen Ehrennadeln der hiesigen Feuerwehr und des Schützenvereins von 1642. Sie waren wie immer blitzblank geputzt. In seinen Hut hatte er sich aus dem feierlichen Anlass eine neue Feder gesteckt. Neben ihm stand die geballte Wirtschaftsmacht unseres Ortes, der ehrwürdige Molkereibesitzer Klarmann. Er hatte ein ähnliches Alter wie der Forstwirt, war aber nicht so aus dem Leim gegangen. Stets gut gebräunt, trug er einen grauen Anzug und sprach sehr wenig. Ganz im Gegensatz zu seinem Nachbarn auf dem Barhocker direkt neben dem Zapfhahn, Jonny Buchart. Der sabbelte in der Regel unermüdlich, wobei er jeden zweiten Tag weitschweifig das gerade aktuelle Thema seiner anvisierten Examensarbeit im Fach Psychologie den Tresennachbarn auseinanderlegte.
„Es ist doch wirklich fast wie immer. Man könnte denken, dass unsere Joschi gerade in der Küche neue Frikadellen zubereitet,” trällerte Lola gefasst frohgemut, um gleich darauf in gekonnter Manier das Pudergesicht in leidende Halbjungfalten zu legen.
„Hätte sie mehr Milch getrunken statt diese ewigen Doppelkörnchen, würde sie bestimmt auch gleich aus der Küche kommen,” rückte der Kleinmolkereibesitzer Klarmann aus seiner Standessicht die Verhältnisse gleich wieder ins rechte Licht und schaute dabei bedeutsam in die Runde, während der bärtige Wilhelm von Schliepstein schon seine Gehirnschubladen emsig nach der forstpolitischen Dimension dieses Todes durchstöberte. „Der alte Strauß ist an der Ehrfurcht der Ärzte gestorben,” flüsterte der alternde Forstsekretär schließlich. „Als Franz-Josef dalag ist kein Quacksalber entschlossen hingesprungen und so erstickte er in seiner Größe an ordinärer Kotze. Er hätte doch noch so viel machen können, wie die Homo-Ehe verhindern und und ....”
„Genau wie Jimmy Hendrix. Der Kerl spielte einfach zu gut Gitarre, kein Arzt hat sich an ihn rangetraut, es war aber auch gar keiner da,” fiel Jonny Buchart wie gewöhnlich dem trauernden Tattergreis ins Wort und holte schon Luft, um noch einen freudschen Psychologieklassiker draufzusetzen. Entschlossen griff ich nach einem hastigen Schluck Bier ein. „Aber unsere Joschi war doch einfach alt. Da hätte der Doktor“ – dabei nickte ich bedeutsam in Richtung Stammtisch, wo unser Kurpfuscher gerade sein zweites Körnchen an die Wulstlippen führte – „auch nichts machen können. Ihre Uhr war einfach abgelaufen.”
Lola griente unmotiviert aber überzeugend, während der Molkereibesitzer expertenhaft seine abgekauten Fingernägel studierte.
Hastig orderte unser Waldkenner Pils und Korn für den ganzen Tresen, um sich dann sogleich erneut an die frisch Gekauften zu wenden. „Das schon, aber sie hatte auch eine gewisse innere Größe. Nicht ganz so pompös wie Franz-Josef...“ - „Oder Jimmy Hendrix,” ergänzte der werdende Psychologe trotzig. „Ja, aber diese innere Größe lässt die Ärzte nun einmal in Ehrfurcht erstarren und das“ – bedrohlich reckte er seinen Zeigefinger gegen die Thekenfunzel – „ist der Nachteil des Genies,” beharrte der Altersstarrsinnige und forderte damit den Psychologenanwärter Buchart endgültig heraus.
Na ja, das lief ja ganz wunschgemäß an. Beruhigt konnte ich den nun anstehenden Freudeneskapaden entfliehen und den Zapfhahn der inzwischen neben mir stehenden emsigen Michaela, der Tochter des Molkereibesitzers, überlassen. Keine schlechte Partie, dieser betörende Schmollmund. Ich müsste sie nur irgendwann irgendwo mal alleine stellen! Doch dazu später. Mich trieb es jetzt trotz der milchmolkeverlockenden Michaelanähe an den Stammtisch, wo die Stimmung nach der dritten oder vierten Runde schon ein erstes bedenkliches Hoch erreicht hatte. Es galt nichts Obszönes und Unwesentliches an diesem Gedenktag zu verpassen.
Unser Medizinmann Samuel Trunkheim – nomen est omen – hatte schon erste rührige Schweißperlen auf seiner immensen brillenbestückten Nase, eine ideale Rutschbahn für das altertümliche Nasenfahrrad. Kaum sah er mich mit dem Tablett Bier nahen, unterbrach er seine Exegese über den natürlichen Tod der Wirtin Anna Magdalena Josephine Beuteler. „Wieso ist ein Vagabund und Possenreißer wie du hier der Schlüsselgewaltige?,” polterte er mich unvermittelt an, während seine rechte Fettflosse einladend auf den einzigen freien Platz neben sich zeigte. Seine Augen fixierten dabei entschlossen das Tablett. Kein Körnchen fürs Wohlergehen signalisierten seine kurz zusammenzuckenden Augen.
Die Frage hatte ich befürchtet und sehnlichst erhofft. „Franz. Franz heißt die Canaille. Schillers Räuber. Haha. Schlimm sind die Schlüssel, die nur schließen auf, nicht zu,” prustete der frisch gebackene Oberstudienrat Heinz Döhlke in seinem cappuccinofarbigen Anzug, bevor ich antworten konnte, und lieferte die Quelle gleich nach: „Rückert, Weisheit der Brahmanen.“ Ich werde das mal nachprüfen, schwor ich mir. Wenn es stimmt, hat er seine Beförderung ja vielleicht sogar verdient.
Übermäßig sorgsam und bedächtig verteilte ich die Biere. Da ich jetzt spontan die Zitate von Heinz Döhlke – gelernter Altphilologe - nicht nachprüfen konnte und Lehrern schon seit meiner Schulzeit misstraue, bekam er seine Trinkration zuletzt. Unser Doktor Trunkheim, der selbsternannte Kulturattaché und Zitatenhai Döhlke, der Hobbyschauspieler Breiheim und seine aufgedonnerte, aber wie auch er nicht speckfreie Gemahlin Mona und der blasse Computerhacker Giesbert Romanowski zogen an Zigaretten oder zerkauten Strohhalmen oder schlabberten aber einfach nackt an ihren Getränken und starrten mich neugierig irgendwie zwischen hinterhältig und unverhohlen an.
In diesem Moment ging die Tür auf. Wie jeden Tag durchmaß Schimmelpfennig den Raum, ohne das Gesicht irgendwo hin zuwenden, noch jemanden zu grüßen. Eilig verschwand er im Mantel auf der Herrentoilette, durchquerte nach zwei Minuten im gleichen raumfassenden Schritt den Schankraum und verschwand wie er gekommen war.
„Tja,” begann ich langsam. „Äh, unsere Joschi hat mir vor zehn Tagen ihren Hausschlüssel gegeben, weil sie sich nicht mehr so gut auf den Füßen fühlte und ich mich bereit erklärt hatte, Siegel für zwei Bier und einen Klaren dreimal am Tag um den Weiher zu führen.” Der gespannte Blick der Stammtischrunde löste sich in allgemeinem Desinteresse auf. Jetzt erst bemerkte ich, dass der Fraktionsvorsitzende mit seinem Bürgermeister gespannt meinen tiefschürfenden Ausführungen gelauscht hatte. Die Reaktion vom Katzentisch ließ nicht lange auf sich warten.
In der Ecke brach ein ungeheuerliches Getöse los. Der Bürgermeister wurde vom Fraktionsvorsitzenden mit beiden Händen auf seinem Stuhl festgenagelt. Dieser zurgelte wild mit seinen Händen und stieß ein halbvolles Weizenbier um. Klassischer Fall von Alkoholmissbrauch.
Schließlich konnte er sich doch aus den Hinterzimmerklauen des Fraktionsvorsitzenden befreien und stürzte in die Mitte des Schankraumes. Schnaufend nahm er die lang geübte Position des Stadtoberhauptes ein. „Liebe Freunde,” krächzte er wenig honorig, schon etwas debil und mächtig betrunken. „Unsere Joschi ist tot. Gott sei ihrer Seele gnädig. Heute trauern wir in würdigem Rahmen um sie, doch unsere Stadt lebt weiter und entwickelt sich – ich möchte nur an den neuen Gewerbepark erinnern. Zwar noch nicht vermietet, aber eine zukunftsträchtige Investition der ganz besonderen Art.”
Die nun eintretende Zwangsbäuerchenpause nutzte der ewig uneinsichtige Opponent Buchart zu dem respektlosen Einwurf, was Müller denn nun wolle. Bisher wäre ja alles bekannt, und wir Steuerzahler müssten ja nun sowieso für den schwachsinnigen Gewerbepark einstehen. Das wäre ja eh allen klar. „Gut, gut!,” näselte der sichtlich ertappte Bürgermeister. Während der Fraktionsvorsitzende seine Stirn nervös massierte und die Mehrheit gelangweilt in ihre Gläser stierte, illuminierte plötzlich eine erschrockene, längst tot geglaubte Birne im Kronleuchter das Gesicht des Stadtoberhauptes.
Bürgermeister Müller drückte entschlossen sein Rückgrat durch. „Also, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der Alte Krug hat ja nun schon ein paar Jährchen auf dem Buckel und steht unter Denkmalschutz. So wichtig er für unsere Geschichte ist, so bedenklich ist sein Zustand. Hier muss etwas passieren. Gerade, wo Joschi keine Erben hinterlassen hat! Die Stadt steht somit in der Pflicht! Er ist keine Augenweide mehr für die reichlich strömenden Touristen. Allein im letzten Jahr hatten wir nach Mitteilung des Fremdenverkehrsvereins....”
„Zum Thema, oder willst du uns jetzt etwas über die Übernachtungsrituale Jungverheirateter in unserer Stadt erzählen?,” johlte Doktor Trunkheim unter lautem Beifall der Trauergemeinde. Der Fraktionsvorsitzende lief grünlich an.
Unruhe war inzwischen ausgebrochen und die schnarrende Stimme von Heinrich Müller konnte das überstürzte Getuschel nicht mehr zähmen. Wenn der Bürgermeister einen gehoben hatte, konnte er fast richtig formulieren und fabulieren. Doch diesmal waren die Menschen, die sonst seinen Reden zum Jahrestag des Kaninchenzüchterverbandes oder des Schützenvereines von 1642 ergeben lauschten, über den angedeuteten Inhalt gestolpert. Der Fraktionsvorsitzende hatte inzwischen sehr zu meinem Leidwesen intensiv mit der Molkereibesitzertochter getuschelt. Jetzt knetete er zum Glück wieder rastlos seine Hände und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Dann sprang der mächtige Hintermann entschlossen auf. Mit seiner tiefen Stimme brüllte er lange gelernt die aufkeimende Empörung nieder.
„Wir wollen den Alten Krug natürlich erhalten. Er ist ein Sinnbild unserer Stadt und der Regionalgeschichte. Mein Parteikollege und unser Bürgermeister Müller wollte ja auch nur ausdrücken, dass wir alles für den Alten Krug und unser Stadtbild tun wollen. Doch angesichts der Gefahr, dass kein Käufer dieses uralte Gemäuer übernehmen will und die Stadt nicht das Geld zur Komplettsanierung hat, sollten – Nein, dürfen wir uns keine Denkblockaden auferlegen. Retten, was zu retten ist – denken, was möglich ist. Der Alte Krug lebt! Eine Runde für alle!“
Glauben wollte es keiner der durstigen Trauergäste. Die unerhörte Ehrlichkeit seines Dummboddels von Bürgermeister lag unheilschwanger im Saal. Doch die sofort von der aufmerksamen Michaela servierten Parteigetränke stellten eine gewisse trügerische Entspannung her.
Unser Hacker Giesbert Romanowski stieß mir mit seinem linken Ellbogen deftig in die Rippen und verdrehte dabei vielsagend seine Augen hinter den dicken Brillengläsern. Während ich wie ein Maikäfer nach Luft schnappte, realisierte mein Gehirn die schmerzhafte Botschaft. Herr Romanowski bat mich zu einer Privataudienz an den einzigen noch freien Tisch neben der scheppernden Musikbox. Siegel hatte auch schon kapiert und trollte sich in Richtung unseres neuen Standortes. Den hatte ich nun wohl am Hals, oder besser am Futternapf und an der Leine.
„Also du weißt doch, dass ich Ungerechtigkeit nicht ertragen kann,” begann er salbungsvoll seine Rede. Während ich die peinlich genau gewienerten schwarzen Schuhe, den schmucklosen Pullover und die grünlichen Jeans des Twens studierte, musste ich unwillkürlich an Romanowskis nicht unerhebliche Schulden bei mir, Joschi und allen anderen Trauergästen denken. Ungerechtigkeit? Da lag ich doch wohl mal wieder falsch mit meiner ehrlichen Trauer. Der Hacker hatte sein angedeutetes Doppelkinn in seriöse Falten gelegt und bereitete durch ein nachdenkliches Saugen an seinem Glimmstengel den entscheidenden Schlag vor.
„Hier ist die Kacke doch voll am Dampfen. Kaum ist Joschi abgemeiert, wollen der Fraktionsfuzzi und sein Golem hier abgekartet abgefeimt voll reinhauen. Ist doch ganz logo.” Er starrte mich fast hypnotisch an. „Merkst du nicht, dass die hier `ne Straße oder sonst was durchhauen wollen. Kneipe weg, Straße durch, Einkaufspassage”. Herausfordernd formte er seine linke Hand zum Kamm und fuhr durch sein wirres Haar. Ich stierte verlegen nachdenklich auf seinen affentittengeilen Ohrclip.
„Die wollen doch retten, was zu retten ist. Von einer Straße oder Konsumtempel war doch überhaupt nicht die Rede,” wendete ich vorsichtig ein. „Naives Gequatsche,” war die zu erwartende Reaktion unseres Computerkillers. „Für so dämlich hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Entweder hast du dir den Kopf weggesoffen oder du willst einfach nicht raffen, was angesagt ist.” Konsequenterweise setze ich meinen Humpen an.
Worauf will dieser Spargeltarzan hinaus? Gute Bürger aufwiegeln? Zu Revolution und Brandschatzung anstiften? Ich entschloss mich, zurückgelehnt den Lässigen raushängen zu lassen. „Wie kommst du denn darauf, dass hier kapitalistische Spekulationsprojekte angesagt ist?“ Romanowski zerknautscht seine Zigarette im Aschenbecher und blinzelt mir bedeutungsvoll zu. „Ich will es dir erklären, also sperr deine Lauscher mal richtig auf. Die Naumeierschen Wiesen hinter dem Haus sind riesig und nur von hier zu erschließen. Bauland, Gewerbe, Panik, Chaos, Wahnsinn. Ha, ha! Auf der einen Seite sind Bahngleise, auf der anderen Häuser und gegenüber die Frellenbieke mit Auen. Naturschutz und so, du verstehst?“ Ich verstand blitzartig und Siegel knurrte kurz. Beste Pinkelplätze für den Hund Siegel schienen plötzlich in Gefahr. Wow! Bürgermeister und Fraktionsvorsitzender hatten wohlmöglich eine Absicht.
„Wie bist du darauf gekommen?,” fragte ich so cool wie möglich.
Unser Hacker Romanowski zog seine Unterlippe noch schräger als im Normalgebrauch. „Von dir als Stammgast hätte ich echt mehr erwartet,” raunte er leicht verächtlich, um dann seinen stahlharten Hackerblick aufzusetzen. „Die Wiesen hat die Stadt vor der letzten Kommunalwahl aufgekauft, nachdem die Knilche immer damit geworben haben, dass dieses Naherholungsgebiet für uns Bürger erhalten werden muss. Das hat wohl die entscheidenden Stimmen gebracht, um dann das Gegenteil durchzuziehen. Nun“ – er dehnte seine Stimmbänder bis ins Unendliche und griff nach einem neuen Sargnagel – „ist bis zu den nächsten Wahlen noch Zeit genug, um hier was hochzuziehen. Natürlich kein Park und auch keine Wohnungen,” setzte er mit belehrendem Blick hinzu.
Ich entschied, dass dies bei einem neuen Bier ernsthaft bedacht werden musste. Endlich eine Gelegenheit, der netten Joschivertreterin am Tresen kurz nahe zu sein und vielleicht auch noch den triefenden Fraktionsvorsitzenden von dort zu vertreiben.
Während ich mich dem Tresen näherte, hörte ich den Fraktionsvorsitzenden wild auf unseren Forstrat einreden. „Schmeißfliegen, alles Schmeißfliegen. Wir müssen alle Krankenhäuser privatisieren. Nur so hätte Franz-Josef überlebt.” - „Und Jimmy,” warf unser Halbpsychologe ein. „Das ist doch schon viel zu lange her, da hatten wir hier noch nicht die absolute Mehrheit,” tönte unser eigentlicher Ortsfürst. „Wählen Sie uns und alles fluppt,” schnorrte er mit einem kühnen Blick durch die Runde und ließ dann seine Augen zielsicher und mit sichtlichem Wohlgefallen auf dem Ausschnitt meiner Molkereibesitzertochter landen. Erst musste ich mich zurückhalten, doch dann entschädigte mich ihr warmer Silberblick. Zu einem kleinen Gespräch mit meiner Molkereitochter war es nicht gekommen, aber sie überreichte mir das elegant gezapfte Bier mit angenehm warmer, auffallender Freundlichkeit.
An unserem Krisentisch hatte sich ein weiterer Gast eingefunden. Der Rechtsanwalt und Notar Oskar von Schmollberg steckte mit Giesbert die Köpfe eng zusammen. Sie tuschelten sehr angespannt und aufgeregt, wie ich aus dem hochroten Computerhackerkopf herauslesen konnte. Bloß nichts verpassen. Kaum hatte ich mich auf meinem speckigen Stuhl zurechtgerückt, zischelte Giesbert auch schon los. „Es gibt ein Testament. Joschi hat es vor einem Jahr gemacht und verfügt, dass es beim Schmaus nach ihrem Begräbnis verlesen wird. Vorher durfte nichts bekannt werden.”
Ich blickte wohl sehr ungläubig. Oskar von Schmollenberg lehnte sich lässig zurück und streichelte selbstbewusst seine ansehnliche Wampe. „Junger Mann, es ist so und ich werde gleich zur feierlichen Verlesung des Testaments schreiten.” Honorig tätschelte er dabei meinen rechten Oberarm. „Worauf warten wir“ knurrte Giesbert Romanowski erwartungsfroh. „Auf ein neues Bier,” antwortete der Winkeladvokat ohne sichtliche Anspannung.
Ha! Das war eine kleine Revolution und ein neuer Grund zum Tresen zu wanken. Sichtlich aufgekratzt orderte ich Bier, Körnchen und Schnaps bei meiner Lieblingszapferin. Niemand schien etwas zu ahnen. Der Geräuschpegel näherte sich dem Geräusch einer Dampframme. Bürgermeister und Fraktionschef palaverten sehr gelockert mit unserem Zitatenhai Döhlke am Klotisch. Goethes Gespräche mit Eckermann über Versteinerungen waren irgendwie angesagt. Dass die nicht Besseres zu besprechen hatten, zum Beispiel warum die Akkus der verfluchten Smartphones, besonders meines, andauernd alle war. Sehnsüchtig schob mir die Milchfrau das Tablett zu. Ich quittierte mit einem verführerischen Lächeln – unsicher, ob es gelungen war. Gleich war es soweit.
Genüsslich nippte der Notar an dem Bier und zog dann unmissverständlich seine Augenbrauen hoch. Ich sprang auf und schrie ungehalten „Ruhe!“ in die feiernde Trauergemeinde. Ungläubige Blicke waren die erste Reaktion. „Schlüsselgewaltiger, willst du uns etwa rausschmeißen und vom Trauern abhalten,” rief mir der schweißüberströmte Doktor Trunkheim entgegen und Zitatenhai Döhlke kreischte irgendetwas von Schillers Don Carlos, dass Tote nicht mehr aufstehen und somit kein Anlass wäre. Patzig kommentierte der Fraktionsvorsitzende, ich würde jetzt bestimmt keinen ausgeben wollen, sondern nach einem neuen Herrchen für Joschis Köter Siegel fahnden.
Mein zweiter Schrei führte die erwünschte Ruhe herbei.
„Liebe Trauergemeinde. Ich muss euch eine ganz besondere Mitteilung machen.” - „Gibt es endlich Frikadellen mit Senf,” schrie irgendjemand Ungehobeltes dazwischen. „Nein. Aber ein Testament. Herr Notar Schmollenberg hat von unserer Joschi den Auftrag bekommen, es erst jetzt bekannt zugeben und vorzulesen.” Absolut unheilverkündende Stille im Schankraum, besonders am Klotisch. Alle schienen auf den Absturz einer Nähnadel zu warten und wollten den betörenden Krach auf keinen Fall überhören.
Der ehrenwerte Rechtsanwalt und Notar zog elegant seine Lesebrille auf die Nase und kramte umständlich in seiner verbeulten Jackentasche herum. Schließlich entfaltete er unter den staunenden Augen aller Trauergäste ein stinknormales Schriftstück. Die Spannung im Raum begann zu sieden. Etliche sogen aufgeregt an ihren Getränken, aber niemand wagte eine Nachbestellung.
Oskar von Schmollenberg genoss die Situation sichtlich, soviel Zeit ließ er sich. Endlich räusperte er sich resultativ. „Frau Anna Magdalena Josephine Beuteler, genannt Joschi, hat in meiner Kanzlei vor einem Jahr ein etwas ungewöhnliches Testament aufsetzen lassen und verfügt, dass es jetzt zu diesem Zeitpunkt – bei der Trauerfeier nach ihrem Begräbnis verlesen werden soll.” Überzeugend führte er die Gerstenkaltschale an seine Lippen.
„Das Testament hat folgenden Wortlaut.” Man hörte Stühle rücken, ein letztes Räuspern. Der Fraktionsvorsitzende und sein seniler Knecht standen sogar auf und näherten sich angestrengt lauschend einige Schritte. Vielleicht sollte ich ja in die Testamentshörgeräteindustrie einsteigen.
„Ich, Anna Magdalena Josephine Beuteler, genannt Joschi, möchte hiermit den versammelten Trunkenbolden und Schluckspechten meinen letzten Willen kundtun. Nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Entschluss gekommen, meine Wirtschaft an ein vertrauensvolles Konsortium von Leuten zu vererben. An die Erbschaft sind allerdings einige Bedingungen geknüpft.
1 Erstens. Die Wirtschaft muss im überkommenen Sinne weitergeführt werden, d.h. Änderungen dürfen nur in vertretbarem Umfang vorgenommen werden.
2 Zweitens. Meine Frikadellen sollen weiterhin jeden Abend für die Gäste bereitstehen. Das Frikadellenrezept und die Adresse der Mosterei sind in der Zuckerdose in der guten Stube.
3 Drittens. Die Erben müssen neben der Weiterführung der Wirtschaft auch dem Geheimnis des Gleichgewichts auf die Spur kommen, sonst ist die Zukunft nicht garantiert.
4 Viertens. Die Erben müssen sich innerhalb von zwei Wochen entscheiden, ob sie das Erbe annehmen.
5 Fünstens. Nehmen die Erben das Testament nicht an, hat das Ungleichgewicht gewonnen und das Drama wird sich vollziehen. Dann habe ich es nicht besser gewusst.
Aus diesen Gründen setze ich als Erben den Computerhacker Giesbert Romanowski, den Illyrienkenner Heinz Döhlke und den miserablen Taxizentralenmitarbeiter Tommy Krümel als meine Universalerben ein. Krümel erbt zusätzlich meinen Hund Siegel. Ich bedauere es zutiefst, dass ich keine Frau als Erbin einsetzen konnte, aber zu meinen Stammgästen zählte nur die eiserne Lola, der ich aber nicht die nötige Aufmerksamkeit zutraue, da sie als Leiterin eines Altenheimes genug beansprucht ist.
Sollten die drei Personen das Erbe nicht annehmen, so soll mein ganzer Besitz ohne Vorbedingungen in die Hände der Bergbaugenossenschaft Hilsentrup fallen.“
Der Notar setzte seine Brille ab und schaute bedeutungsvoll in die Runde. Es schepperte unheimlich. Nicht die erwartete Stecknadel, sondern das Feuerzeug des Fraktionsvorsitzenden. Er schien ziemlich unbeherrscht. Dies war der Auftakt zu einem bisher in diesen heiligen Hallen unbekannten Getöse. Schreie, Lachsalven und Flüche kämpften verbissen um die höchste Phonzahl, während Bürgermeister Müller und sein Chef überstürzt die Trauergemeinde verließen. "Wie, jetzt noch einen Kindergarten einweihen,” schrie Doktor Trunkheim und Zitatenhai Döhlke rannte den beiden zur Tür nach, um ihnen irgendetwas aus Goethes Goetz nachzuschmeißen.
Schließlich sammelten wir drei Erben uns am Tresen, umringt von einer geifernden Masse um den Waldkenner und die fesche Lola. Giesbert rang sichtlich um Fassung und man hörte ihn immer nur etwas über die Beleuchtung stammeln. "Die, die, diese Pissbudenbeleuchtung müssen wir aber ändern dürfen, ohne gegen die Bestimmungen des Testaments zu verstoßen,” stieß er unentwegt hervor.
Nur der Molkereibesitzer Klarmann beteiligte sich nicht an dem allgemeinen Chaos. Still und nachdenklich sah er dem Thekentreiben zu.
Der Rest war Alkohol und Lallen, bis die Mützen voll herunterfielen. Tatternd fand jeder seinen Weg. Oberstudienrat Döhlke, um noch ein Paar Zitate für den morgigen Unterricht zusammensuchen und Lola, um sich um ihren Pyjama und die Teddybären zu kümmern. Der Notar erklärte sich bereit, die Details der Testamentsvollstreckung am nächsten Abend mit uns zu besprechen – so soll es sein.
Nach den Nichtigkeiten des Leichenschmauses senkte sich das Nichts über die Nacht.
Warum küsst mich niemand auf die Stirn?