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Zweiter Tag
ОглавлениеDer Erben Tränen sind ein verdecktes Lachen.
Sprichwort
Das Erben und was man sich von Anwälten gefallen lassen muss
Giesbert Romanowski und ich waren schon eine halbe Stunde vor Beginn des Treffens im Alten Krug. „Was ist denn deine Meinung zu dieser seltsamen Erbschaft?,” eröffnete ich das Gespräch, während ich meine Lederjacke über eine Stuhllehne hängte. „Ach komm, zwing mir keinen Dialog auf,” grummelte der Computerhacker sichtlich genervt und noch angeschlagen von gestern. Das Hemd hatte er gewechselt, und er trug keine überbreite Krawatte. Seine Hose war noch gezeichnet von den Spuren des gestrigen Abends, nur seine Schuhe glänzten wie immer. „Ich weiß es nicht, aber wir werden es erfahren,” brummte er und pustete sich die Haare aus dem Gesicht.
In dieses interessante Gespräch platzte unser Oberlehrer Döhlke - ebenfalls merklich überpünktlich. Er trug heute nicht seinen üblichen cappuccinofarbigen Anzug, sondern hatte sich in ein dezent gestreiftes Jackett geworfen, dem weiter unten eine dunkelblaue Jeans folgte. In dieser Aufmachung wirkte sein Gesicht mit der spitzen Nase, dem Mittelscheitel und den großen braunen Augen noch markanter als sonst. "Aller Anfang ist schwer - nur Müßiggang, aller Laster Anfang, nicht. Sprichwort,” brüllte er uns entgegen, während er seinen grauen Hut lang geübt auf den alterschwachen Ständer bugsierte. "Zuviel kann mal wohl trinken, doch nie trinkt man genug. Gotthold Ephraim Lessing. Ha. Ein Korn, ein Bier! Was war das wieder für ein grausamer Schultag. Ich kann nur sagen: Hurra, wir verblöden. Volksmund.” Er schnaufte tief, während ich ihm seine erste gerechte Belohnung für den erlittenen harten Beamntentag kredenzte.
In diesem Moment ging erneut die Tür auf, doch es war nicht Schmollenberg. Wie täglich - heute allerdings erheblich früher als sonst - durchmaß Schimmelpfennig den Raum, ohne das Gesicht irgendwo hinzuwenden, noch jemanden zu grüßen. Eilig verschwand er im Mantel auf der Herrentoilette, durchquerte nach zwei Minuten im gleichen raumfassenden Schritt die Gaststube und verschwand wie er gekommen war. Joschi hatte das immer geduldet. Ich werde dieses Thema mal ansprechen, obwohl die anderen Erben keinen Anstoß zu nehmen schienen.
Mit zehn Minuten Verspätung kam dann der Notar und Rechtsanwalt Oskar von Schmollenberg zu unserer Erbengemeinschaft. Jetzt konnte es ernst werden – oder vielleicht heiter? Erbengemäß zapfte ich eine Runde, während Giesbert Romanowksi kurz den Stammtisch wischte, um Döhlke und unserem Winkeladvokaten Platz und Sauberkeit für ihre Unterlagen zu schaffen. Joschis Liebling Siegel verpasste es nicht, sich gleich unter dem Tisch breit zu machen, um zumindest mir eine angenehme Sitzhaltung nicht zu ermöglichen.
Der Advokat tat nach dem ersten Schluck gleich geschäftig. „Kommen wir zur Umsetzung des Testaments,” knurrte er versöhnlich aber zielstrebig. Ja, warum sitzen wir denn hier?
„Der gemeinsame Betrieb und die Fortführung des Alten Kruges überhaupt hängen ja von verschiedenen Faktoren ab. Hier das Testament, da öffentliche Interessen. Mich verunsichert zunächst die Beauftragung von euch drei Hallodris als Erben. Chaos. Ihr seid doch nicht fähig, das Testament zu erfüllen. Joschi war bei diesem Entschluss offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf. Ihr sollt quasi als Detektive ihre Geschichte entschlüsseln. Aber wahrscheinlich ist das alles nur dummes Gerede von ihr. So. Dies ist meine Meinung. Aber wir wollen das Beste aus der hoffnungslosen und verworrenen Situation machen. Ihr müsst euch unter dem Diktat des Testaments einigen, oder wir vergessen es besser.”
Hastig zapfte ich noch eine Runde, denn Oskar von Schmollenberg schaute permanent bedenklich auf seine Uhr und räusperte sich dabei mehrfach.
„Können wir jetzt endlich loslegen,” schnarrte er sichtlich ungeduldig, als ich mit den übermäßigen Schaumkronen an den Stammtisch trat. Döhlke und Romanowski nickten ergeben.
„Also, ich glaube, dass es durchaus im Sinne von Joschi ist, wenn ich zunächst einige Ausführungen mache,” eröffnete Schmollenberg unsere Erbensitzung. Giesbert Romanowski kratzte sich am Kopf und warf mir einen verstohlenen Blick durch seine dicken Brillengläser zu, den ich zu ignorieren versuchte.
„Ich will zunächst mit euch skurriler Erbengemeinschaft beginnen, bevor ich etwas über die möglichen Motive von Frau Beuteler für ihr Testament sage. Gehen wir nach dem Alter und beginnen mit dem frisch gebackenen Oberstudienrat Heinz Döhlke. Aus meiner Sicht schon mal kein leichter Fall. Griechisch und Latein. Schwerer Fall von Altphilologe. Er vertritt eine Gruppe, die nichts von toten Sprachen, sondern nur von alten und neuen Sprachen hören will. Die Existenzberechtigung seines Berufszweiges schöpft er aus überkommenen Studienordnungen der Geisteswissenschaften, Medizin, Rechtswissenschaft, Heilmittelkunde und Theologie, die nach Kenntnissen dieser mausetoten Sprachen verlangen.”
„Na, na,” versuchte Döhlke etwas verlegen gegenzuhalten, aber der bäuchige Winkeladvokat ließ sich so leicht nicht aus dem Konzept bringen. Irgendwer klopfte an`s Fenster.
„Ich zitiere aus einer Publikation von Ihnen: Während die Griechen im Vertrauen auf sich selbst in der Irrfahrt des Lebens Gott und die Ideen suchen, stoßen sie zur metaphysischen Schau des Guten durch. Sie philosophieren, fühlen sich dabei aber immer wieder menschlich schwach und irrend. Roms schöpferischer Lebensgrund dagegen ist die vielfältige Gebundenheit an Sitte, Religion, Familie, Sippe, Stand und Staat. Aus ihr entsteht die Virtus, die Gesamtheit und Vollendung der Kräfte des römischen Menschen. Roms Staatsschöpfung, eine hervorragende Gemeinschaftsleistung von Dauer. Nicht schlecht. Oder? Heinz, das ist ja ganz fein formuliert. Es führt mich aber zu seltsamen Vermutungen. Bildung – und das führst du uns jeden Tag vor – ist für dich ein Kanon, ein Sammelsurium von klassischen Zitaten...“
„Na, na, na,” protestierte Döhlke etwas heftiger, aber erfolglos. Dabei zog er sein Jackett aus und hängte es ordentlich unter seinen Hut an den Ständer.
„...die unsere Kultur bewahren helfen soll. Ich würde mich freuen, wenn es so wäre. Latein und Griechisch sollen den Schüler im Innersten berühren, ihm ein Gefühl der inneren Werte unserer heutigen Gesellschaft vermitteln. Schöner Anspruch. Da fällt mir gerade ein: Ganz witzig war ja die Idee mit Asterix und Obelix. So mal das Umgekehrte. Transport des Aktuellen in eine fertige Sprache. Was haben die Schüler da für einen Spaß und merken gar nicht, dass ihnen gerade Humanismus pur eingehaucht wird. Hahaha. Na ja. Ich will das mit den alten Sprachen und ihr kulturtragendes Element nicht weiter vertiefen, es geht ja um dich. Du willst eine Gastwirtschaft führen?“
Mit durchdringendem Blick musterte er den Oberstudienrat, der es aber vorzog, in sein Glas zu starren. Langsam wendete er sich dem zweiten Erben in spe zu. „Giesbert,” hob der Notar seine Stimme merklich und drohend, während seine Augen Romanowski von oben bis unten abtasteten. „Giesbert, von der althumanistischen Dudelei bist du ja gänzlich unbeleckt. Deine Welt ist die Tastatur mit der dahinter steckenden Computermaschinerie. Entsprechend gräbst du auch nicht in grottenhaften Kulturandenken, sondern beteiligst dich aktiv an deren Zerstörung...“
„Reformierung, euer Gnaden, Reformierung,” konterte der Computerhacker und Internetjunkie keck.
„Wie dem auch sei,” reagierte Oskar von Schmollenberg sichtlich gelassen, um sich dann ruckartig gerade aufzurichten. „Du bist ein typischer Vertreter des Globalismus, nicht des humanistischen Gesamtheitsideals oder so ähnlich, sondern des neoliberalen Wirtschaftsglobalismus.........”.
„Gewöhnlicher Kapitalismus,” warf ich betont ernst ein. Unwirsch drehte der Paragraphenverdreher sein Gesicht in meine Himmelsrichtung. „Zu dir komm ich gleich auch noch. Vorher kannst du aber noch ein paar Bier zapfen. Aber bitte im Stil von Joschi.” Ich trollte mich mit dem Leergut an den Tresen und lauschte für sieben Minuten den Ausführungen aus sicherer Distanz.
„Du bist ein Denglischmann. Als deine Softwarebude vor ein paar Wochen dicht machte, habt ihr hier `ne Pink-Slip-Party veranstaltet, ein super Event, oder war es gar ein Mega-Event? Seid ihr über die Wupper gegangen, weil ranpowern nicht mehr lief? Stattdessen nur noch der große Burn-Out? Warst nicht mehr im Mainstream, der Turn zum Job per Inline-Skater plötzlich nicht mehr hip?“
Oskar von Schmollenberg lehnte sich zurück und genoss sichtlich die rhetorische Power seiner Fragen. Döhlke und Romanowski sehnten sich nach dem nächsten Bier. Das war alles, was ich aus ihren Gesichtern lesen konnte. Ich näherte mich dem ruhenden Kampfgetümmel mit dem bestens bestückten Tablett. Jemand hämmerte gegen die Tür. Diese Suchtbolzen.
Endlich durchbrach Schmollenberg das Schweigen. „Also Döhlke hier, Romanowski da. Zwei Welten - eine Erbschaft. Aus meiner Sicht ein schwieriger Fall und noch ein schwieriger Fall. Aber Joschi wollte es ja noch chaotischer.”
Jett sollte das Donnerwetter über mich hereinbrechen.
„Herr Thomas Krümel,” gab sich der Redegewaltige plötzlich ganz förmlich und wendete sich mir auffällig langsam zu. Hastig griff ich zu meinem Bier um seinem stechenden Blick wenigstens für Sekunden aus dem Weg zu gehen. Unerbittlich bildete sich auf der Stirn des Notars die erste Schweißperle. Dessen ungerührt hob er zu seinem dritten Schlag an. „Du bist ja wirklich die härteste Nummer. Mir wird es für immer das eigentliche Beutlerische Geheimnis bleiben, was für einen Stein du bei ihr im Brett hattest.”
Die Gesichtszüge von Döhlke und Romanowski entspannten sich sichtlich. Ihr genüssliches Schlürfen am Bier hatte etwas Perfides. Ich werde es ihnen heimzahlen. Irgendwann – Schluck für Schluck.
„Hier ein abgebrochenes Studium, da ein Job in der Taxizentrale, der deinem Chef täglich die Tränen in die Augen treibt. Hier ein Spaziergang mit Siegel, dort ein bisschen Rockmusik. Dazwischen die kläglichen Baggerversuche bei ehrenwerten Frauen unseres Ortes. Immerhin besitzt du ja als verkanntes Rockgenie und von der Kritik unberücksichtigter Texter schon einen Bass mit fünf Saiten.”
Ich ahnte, was jetzt kommen würde und musste. Und tatsächlich kramte der schneidige Kritiker einen schmuddeligen Zettel aus seiner Advokatentasche. Eine meiner poetischen Sternstunden würde gleich zum Vortrag kommen, geschrieben spontan während eines Mega-Events – äh, abendlichen Gesumpfes - hier an diesem Stammtisch. Drei Tage später aufgeführt mit meiner Hardrockcombo in E-Dur auf dem Stadtfest im benachbarten Blomberg. Unerbittlich begann Oskar mit leicht singender oder vielleicht auch empört zitternder Stimme zu zitieren:
„Ich weiß nicht, was ist in dich gefahren
seit einiger Zeit machst du mich nur noch an
mein Bauch hängt raus, die Füße stinken
ich kriege bald `ne Glatze, sagst du mir
Ich seh den Teufel in deinen Augen
dein Wahn bricht mir noch das Genick
Ich weiß noch wie schön es früher war
betörende Blicke aus verliebtem Herz
kuschelige Wärme bei Kerzenlicht
Ich weiß nicht was ist in dich gefahren
deine Tiere werden immer größer
früher war ich deine süße Schnecke
heute bin ich nur noch ein doofes Kamel
früher war ich dein kleines Mäuschen
heute bin ich nur noch ein Trampeltier
Ich seh den Teufel in deinen Augen
dein Wahn bricht mir noch das Genick
Ich weiß noch wie schön es früher war
betörende Blicke aus verliebtem Herz
kuschelige Wärme bei Kerzenlicht
Ich weiß nicht was ist in dich gefahren
du stehst doch nur noch auf meinen Lohn“
Kein tosender Beifall, keine der Ohnmacht nahen Girls mit nassen Slips, nur stumpfes Schweigen.
Der Ziatatenhai Döhlke zischte leise: „So was würde ich nie zitieren. Nie und nimmer.” So hatte ich es mir auch nie erhofft. Verlegen, aber entschlossen kramte ich ebenfalls einen Zettel aus meiner Hosentasche.
Mein neuestes Werk. Auch in E-Dur, ist für die Gitarre am einfachsten.
„Ich bin besser geworden – glaub` ich. Obwohl der Text von eben ja durchaus menschliche Tiefe zeigt, so das Verhältnis der Menschen zueinander ... und die Tiere.
„Weiter“ knurrte Schmollenberg etwas ungeduldig. Ich räusperte mich und nahm einen Schluck.
Geteiltes Leid
Ich koch hier in der Feuersbrunst und denk
wo bist du ?
die Flammen züngeln um mich her und ich schrei
wo ist das Meer
das Meer, das brodelt heiß und ich hör
da klopft doch wer
tritt ein Gevatter Belzebub mit hellem Feuerschein
um ihn die engste Mannschaft mit glühendem Wein
hinter sich ziehen sie ein verkohltes Schwein
Sau
Die Hitze hier wird unerträglich und ich frag mich
wo bist du
sie drücken mir die Zangen auf und ich schrei
wo ist das Meer
das Wasser ist siedend heiß und ich hör
da klopft doch wer
Herein trittst du in deinem glitzernden Gewand
die Teufel lassen von mir ab und blicken ganz gebannt
und schon springst du in meinen Kochtopf hinein und schreist
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Leid
Sichtlich gerührt blickte ich von meinem Manuskriptzettel auf. Wir haben in unserer Musikgruppe beschlossen, diesen Text als schlichten, aber harten Punk unter das Publikum zu bringen. Hier am Tisch war aber nicht das passende Kulturvolk. Nur Giesbert Romanowski schien sich mit der Grundidee anfreunden zu können. „Ist zwar nicht Denglisch, Mann, aber wenn die Musik stimmt, können wir es ja mal als MP3 ins Internet stellen,” versuchte er mir Mut zu machen.
„Aus, Ende,” beschied uns Oskar von Schmollenberg mit leicht aggressivem Unterton. „Ich will hier jetzt keine vertiefende Debatte über die geteilten Leiden bruzzelnder Liebender führen. Es geht hier darum, ob ihr die Erbschaft von Joschi antretet oder nicht. Ihr wisst, daran sind verschiedene Bedingungen verknüpft, aber auch rechtliche Aspekte zu beachten. Ich nenne hier nur das Stichwort `Übernahme möglicher Schulden´. Dazu kommen wir gleich. Ich wollte bisher nur skizzieren, dass mir diese Erbschaftsangelegenheit mehr als spanisch vorkommt. Ich will bisher festhalten: Ihr seid eine total heterogene Truppe – ich sehe keine Gemeinsamkeiten - außer dem Saufen bei Joschi. Aber da kämen ja noch einige andere ehrenwertere Bürger in unserem Ort in Betracht. Ihr seid vielleicht am ehesten eine Zwangsgemeinschaft von Heimatlosen. Eure Heimat ist nicht irgendein Zuhause, nicht in dem, was ihr tut, nicht, wie ihr lebt. Eure sinnlose Heimat ist hier im Alten Krug, aber auch in euren Lebensentwürfen spiegelt sich für mich nur die innere Hilflosigkeit. Ein Tasten am Leben vorbei. Schutz, Lug und Trug. Überlegt euch die Annahme der Erbschaft genau.”
Hier hielt unser gnadenloser Richter kurz ein. Dann schob der entschlossen nach: „Jungs, egal, was kommt. Ihr werdet mit dem ganzen Erbschaftsschwumpf nicht glücklich werden. Bleibt euch treu. Eure Zukunft liegt woanders.”
Sichtlich geschafft lehnte sich der Weltphilosoph zurück, wischte sich die Stirn und ich – die Situation ausnutzend - wollte flugs zum Tresen springen. Ein energisches „Nein!“ hielt mich von diesem produktiven Vorhaben ab.
„Joschi muss ein spezifische Interesse verfolgt haben, euch Dummboddel als Erben eines total maroden Ladens bestellt zu haben, wo höchstens noch Eckhard Henscheid im Hinterzimmer ein Symposium über das Katzenfüttern in Maria Schnee abhalten würde. Ich will es kurz machen. Neben dem Testament hat Joschi mir einen Brief aus dem neunzehnten Jahrhundert übergeben, der euch Erben zusammenschmieden soll. Ich habe nicht verstanden, warum. Sie wollte es so. Neben den ganzen rechtlichen Aspekten ist dieser Brief anscheinend ein entscheidender Punkt für die Annahme oder Ablehnung eurer schweren Erbschaft. Denn ihr wisst, dass es vermutlich auch noch andere Interessen gibt, in die ich sicherlich auch involviert sein werde.” Der Geldhai wischte sich über die Stirn, lächelte jetzt etwas entspannter und die Dagoberttaler begannen dezent in seinen Augen zu glänzen. Ach, wie viele Herzen kann man in seiner Brust haben. Davon kenne ich was.
Schmollenberg öffnete erneut seine elegante Ledertasche. Diesmal zauberte er keinen Rocktext von mir hervor, sondern Kopien eines Briefes, der uns schon von der Schrift her vor größte Probleme stellen sollte. Als erstes wurde der Altphilologe blass, während Giesbert und ich das Geschreibsel von oben nach unten drehten und ziemlich desorientiert waren. Kyrillisch? Slang aus Madagaskar?
Der Altphilologe fand als erster seine Stimme wieder. „Ist aber schlecht geschrieben. Schlichtweg unleserlich, diese Handschrift. Ich würde mich weigern, so etwas zu lesen und zu benoten.”
Oskar von Schmollenberg rumorte schon wieder in seiner Tasche herum und blinzelte uns dabei listig an: „Hab ich mir schon gedacht, dass ihr schon an diesem ersten Problem grausam scheitern würdet. Daher hab ich den Brief übersetzen lassen. Haha, kommt alles mit auf die Rechnung.” Mit einer eleganten Handbewegung, die man ihm gar nicht zutraute, ließ er uns die Zettel zuflattern.
Lieber Bruder.
Es hat mich sehr gefreit das Du wieder ein mal an uns dänkst, aber mit den bar worden bin ich nicht zu frieten weil man dar garnichts Hört was du zum Geschenk bekommen hast und auch sonst keine Neiigkeiten schreibst - . und Du wielst doch immer was neies wißen - es Hat dies schon Hermann geschrieben, das wier uns alle wohl Befinden und wier sind so weid mit unsern Einkünften zufrieden. Gott Helf weiter es hat sich Hermann in diesem Jahre einen großen Mantel geschaft und auch noch antere Sachen das es sich auf achtzig betregt und ich Habe mier und meiner Emilie auch sehr fiel geschaft und Habe auch einige vierzig Schulten bezahlt die noch vom Seligen Bernardt ab stammen soweit geht alles gut bis auf dieser Wiederwärtigkeit mit dem Siegel der ist nun ein großer Mann der gebraucht seine Freinde nicht mehr nun das wegen gehts auch fort ein anter mal mehr aber Lieber Bruder wenn du wieder schreibst so befritige unsere Neugierte aufs beste. Lebe wohl ich verbleibe deine aufrichtige Schwester Frietze.
Unter den Brief hatte Joschi sechs Worte und ein Ausrufungszeichen gekritzelt.
Ky thmi do te kete moter !
Das war doch was für unseren Zitatenhai Hans Döhlke. Ich war jetzt schon sehr auf sein Gesicht gespannt. Er ließ sich aber nichts anmerken.
Nach einer Minute eisernen Schweigens räusperte sich Schmollenberg vernehmlich. Goldwägerische Aufmerksamkeit war jetzt angesagt. Es folgten lange bürokratische Ausführungen zum Erbschaftsrecht, besonders zu dem Kapitel, wie man eine Erbschaft wirkungsvoll ausschlägt und wie es um den Umgang mit Erbschulden bestellt ist. Irgendwann war der Winkeladvokat sichtlich geschafft, die Schweißperlen tanzten über sein ganzes Gesicht und ich fühlte mich auch nicht mehr so ganz frisch. Die Gedanken drehten sich im Kreise, verwickelten sich zu einem Knäuel und ließen sich momentan nicht entwirren. Es klopfte erneut an`s Fenster.
„So weit für heute. Ihr habt laut Testament zwei Wochen Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Meine Meinung habe ich euch gesagt. Lasst die Finger von der Sache. Also, bis übernächste Woche zur selben Zeit.” Sprach`s, packte seine Tasche, tätschelte kurz Siegel und verschwand, ohne uns noch einmal zuzuwinken. Die Tür ließ er offen. Wir schwiegen eisern und verlegen. Schmollenberg kannte uns anscheinend besser als wir Erben uns untereinander.
Die offene Tür war unsere Rettung, strömten doch nacheinander die ersten vier täglichen Gäste ein, darunter Lola, die heute einen besonders engen Pullover trug. Wir hatten uns im Moment auch nichts weiter zu sagen. Döhlke zischte uns nur noch zu: „Kein Wort über die heutige Sitzung. Morgen um drei treffen wir uns hier und besprechen alles.” Wir nickten ergeben. Der Abend konnte seinen Lauf nehmen. Um kurz vor Mitternacht waren die letzte Gäste aufgebrochen und ich konnte mit Siegel den Weg in mein Bett antreten. Ich sollte unruhig schlafen.