Читать книгу Kinder des Atoms - Christian Lentz - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

Nachdem Michael seine Jeans, den Pullover, die dunklen Lederstiefel und den braunen Mantel in der zweckmäßigen Umkleide gelassen und gegen einen Trainingsanzug und bequeme Sportschuhe eingetauscht hatte, war er bereit. Das MI6 hatte ein straffes Programm zusammengestellt, das jeder Agent, der in den Außeneinsatz wollte, durchlaufen und abschließen musste. Ein finaler Test, der Körper und Geist nochmal an die Grenzen bringen sollte. Michael waren solche Tests bekannt. Zumindest die Richtung, die sie im Laufe des Tages nehmen würden. Denn wie er vermutete, würden sie die Disziplinen zwar regelmäßig abwandeln, so dass sich auch gut informierte Rekruten nicht sicher sein konnten, was auf sie zukam. Die Aufgaben, da war er sich recht sicher, würden sich nicht sehr von denen Unterscheiden, die er zu Beginn seiner SAS-Zeit über sich ergehen lassen musste.

An diesem Tag hatten sie sich eine Version der Prüfung einfallen lassen, deren Reihenfolge Michael komisch vorkam und die sicherlich auf Olders und Stones Mist gewachsen war. Anstatt mit einer sportlichen Disziplin zu beginnen, wurde Michael in einen Raum geführt, den wenig später ein glatzköpfiger Mann mit schwarzgefärbtem Bart und einer großen, goldenen Brille betrat. Dieser stellte sich als Dr. Hartmut Winters vor. Er sei der Psychologe des MI6, habe schon viele Agenten in den Außeneinsatz geschickt oder sie, wenn er begründete Zweifel hatte, davon abgehalten. Michael ging durch den Kopf, dass die Psychologin, die ihm damals das finale Okay für seine Eignung für das SAS gegeben hatte, deutlich jünger und attraktiver gewesen war als der Mann, der nun über seine mentale Tauglichkeit entscheiden würde.

»Sie werden mir ein paar Fragen beantworten. Diese Zeichnungen hier kennen sie ja sicher«, erklärte Winters und hielt einen Stapel mit Bildern des Rohrschachtests hoch. Nachdem Michael die zehn Tintenkleckse, die der Psychologe ihm nacheinander gezeigt hatte, ruhig und sachlich beschrieben hatte, schien der Arzt zufrieden. Er notierte etwas auf eine einzelne, auf ein Klemmbrett befestigte Seite und verließ dann den Raum.

Michael kannte diesen Test zu Genüge, was nicht nur an seiner Ausbildung lag, sondern auch der Tatsache geschuldet war, dass er in den vergangenen Wochen mehrfach solche und andere Tests rund um die psychologische Interpretation von Farben, Formen und Schattierungen im Zuge seiner Reha machen musste. Verwundert, wo der Arzt hingegangen sein könnte, stand Michael einige Minuten später auf und trat aus der Tür, nur um dort auf einen Hünen von Mann zu treffen, der ihn direkt wieder zurück in den Raum drängte. Michael wich zurück und beobachtete gespannt, wie der über zwei Meter große Mann die Tür hinter sich schloss, den stiernackigen Kopf einmal nach links und einmal nach rechts krachen ließ und Michael anschließend herausfordernd anfunkelte.

»Und sie sind der Punchhing Ball nehme ich an?«, sagte Michael mit ruhiger, fester Stimme. Neben den beiden Männern befanden sich nur noch zwei Stühle sowie der große Tisch im Raum. Plötzlich stürmte der Riese vor, schneller als es Michael von so einem Fleischberg von Mann erwartet hatte. Er konnte gerade noch ausweichen und achtete darauf, dass sich immer der Tisch als Abstandshalter zwischen ihnen befand. Das ging einige Momente gut, bis sein Angreifer den Tisch mit beiden Händen ergriff und das am Boden festgeschraubte Metallmöbel mit brachialer Gewalt aus der Verankerung riss. Diese imposante zur Schaustellung purer Kraft dauerte nur wenige Sekunden. Mehr Zeit benötigte Michael nicht. Er hatte im ersten Moment, als er den Mann sah, verstanden, worum es hier ging. Sie hatten die Tests ein wenig anders angeordnet, als er es erwartet hatte. Früher oder später kam es aber immer zum Kampf Mann gegen Mann. Er hatte jedoch eher mit einem gleichstarken Kontrahenten auf einer Sportmatte gerechnet und nicht mit so etwas.

»Dann wollen wir mal«, rief Michael und machte einen Satz in den nun frei gewordenen Raum auf seinen Gegner zu. Dabei drehte er seinen Oberkörper leicht nach links, holte er mit seinem linken Bein Schwung und trat dem Hünen mit voller Wucht in dessen Familienplanung. Jaulend ließ der schwer getroffene Mann den Tisch zu Boden fallen und hielt sich sein schmerzendes Skrotum. Den letzten wachen Moment für einige Minuten hatte der Mann schließlich, als er Michael voller Hass aufgrund seines hinterhältigen Angriffs ansah. Dann beendete Michael den Kampf, indem er mit einem heftigen Schlag beider Handunterkanten einen Wirkungstreffer am Hals des Gegners landete, der die Blutzufuhr zum Gehirn für einen Moment unterbrach und den Riesen japsend zu Boden gehen ließ.

Michael trat sofort an den Mann heran, testete seinen Puls und überprüfte, dass er nicht seine Zunge verschluckt hatte und noch atmen konnte. Dann rollte er ihn auf die Seite und ließ ihn liegen. Anschließend stellte er den noch intakten Stuhl wieder auf die Füße, setzte sich und wartete geduldig ab, bis sich die Türe wieder öffnete und eine Frau eintrat, die den am Boden liegenden Mann nur beiläufig ansah.

»Sie können ruhig sagen, dass sie beeindruckt sind. Der Kerl ist ganz schön groß«, sagte Michael frech, der die Reaktion der Frau nicht wirklich zu deuten vermochte.

»Es kommt nicht immer auf die Größe an, das müssten sie doch wissen Mr. Zain«, konterte die Frau kühl. Michael mochte sie gleich, auch wenn er nicht wusste, welche Disziplin sie ihm diesmal abverlangen würde. »Die Verführung wird es wohl nicht sein«, sagte Michael zu sich selbst und seine Mundwinkel zuckten kaum sichtbar. »Wenn sie dann fertig sind, folgen sie mir. Ich könnte mir vorstellen, das wird ihnen Spaß machen, was als nächstes auf dem Programm steht.«

»Todsicher«, sagte Michael und folgte der dunkelhaarigen Frau, die eine körperbetonte, schwarze Anzughose und einen dazu passenden Blaiser trug, über den Gang bis zu den Aufzügen. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, fuhren sie drei Etagen tiefer und mussten nun beinahe ebenerdig mit dem Grund der Themse sein. Was er beim Betreten des Areals, das sich hinter den Aufzugstüren befand, sah, zauberte Michael tatsächlich ein Lächeln ins Gesicht. Das MI6 hatte hier unten einen eigenen Schießstand errichtet, so wie er sie, allerdings obererdig, von den Trainingsplätzen seiner Einheit kannte. Wobei die Bezeichnung nur unzureichend beschrieb, was er hier vor sich sah. Es war wie ein Spielplatz für Erwachsene. Zwar auf einer professionellen Ebene, aber es sah nach Spaß aus. Der Fahrstuhl endete auf einem Gerüst, auf dem ein kleiner, zweckmäßiger Beobachtungsraum errichtet war. Von dieser Position aus hatte man einen idealen Überblick auf den Parcours, der von hier oben aussah, wie das Testlabyrinth für Mäuse in einem Labor.

Das Team um die Quartiermeisterin Elisabeth Doloris Quelham hatte hier einen Parcours mit unzähligen Zielen, Hindernissen und Möglichkeiten aufgebaut, um die Fähigkeiten der Probanden in verschiedenen Waffenklassen und Schießpositionen zu testen. Sie ging mit ihm die Treppe herunter, sodass er nun direkt vor dem Eingang des Schussbereichs stand.

»Sie haben zwei Minuten pro Durchlauf. Ich will, dass sie den Parcours zweimal bewältigen. Freie Wahl der Waffen. Zeigen sie uns, was sie können«, erklärte Quelham und nickte mit ihrem Kopf auf eine Tür mit einem Sicherheitsschloss. Michael legte seinen Finger auf den Scanner. Nach wenigen Sekunden gab ein lautes Piepen das Signal, dass seine Identität bestätigte und die Tür zur Waffenkammer schwang auf. Als er den Raum betrat, bemerkte Michael, dass es eine Ewigkeit her war, dass seine Hände kalten Stahl berührten. Er schritt die Wände des Raums ab, an denen Waffenhalterung befestigt waren, deren Inhalt keine Wünsche offenließ. Von Pistolen verschiedenen Kalibers über halbautomatische und vollautomatische Gewehre bis hin zu Schrotflinten und Scharfschützengewehren fand er hier alles vor, was das Herz begehrte. So sehr sein Gedächtnis, bezogen auf den Mord an seiner Familie, gelitten hatte, so sehr erinnerte er sich an die Waffen, denen er in der Vergangenheit am meisten vertraut hatte. Zwar hatte er nur selten tatsächlich die Wahl, da er meist mit dem Arbeiten musste, was ihm vor Ort zur Verfügung stand. Aber wenn man schon mal in den Genuss eines solchen Arsenals kam, würde er gerne selbst wählen. Seine Finger glitten über die Läufe einiger Sturmgewehre und blieben auf dem Belgischen SCAR-L liegen. An die Zuverlässigkeit dieses Gewehrs auch in den stürmischen Sandgebieten des mittleren Ostens konnte er sich noch gut erinnern und er griff beherzt zu.

Vor dem Regal mit den Handfeuerwaffen musste er nicht lange überlegen. Seine bevorzugte Pistole war schon immer die Walther P22. Sie war recht kompakt, nicht größer als seine Hand und begleitete ihn stets zuverlässig durch viele seiner Einsätze. Er legte die beiden Waffen auf den Tisch in der Mitte des Raums, ging zu den Munitionslagern, die neben dem jeweiligen Waffenregal angebracht waren und lud jeweils zwei Magazine mit den .22er lfB-Patronen für seine Walther und den 5,56mm-Patronen für das Sturmgewehr. 10 Schuss pro Magazin für die Pistole und 30 Schuss pro Runde für das Sturmgewehr sollten mehr als genug sein, um die Aufgabe der Quartiermeisterin zu bestehen. Nachdem er beide Waffen geladen und gesichert hatte, ging er zurück zu Dos Quintos die nun, da es um ihre Leidenschaft ging, doch etwas aufgetaut war. Neugierig sah sie sich die Wahl des Agenten an, den sie gleich auf die Probe stellen würde. Ohne Zains Waffen zu kommentieren nickte sie nur, führte ihn zum Start und ließ ihn dann mit dem Hinweis alleine zurück, dass es auf ihr Signal hin losgehen würde.

Michael stand in dem künstlich angelegten Gang, der dunkel vor ihm lag. Gleich würde sie das Signal geben und das Licht würde über ihm aufleuchten. Dann offenbarten sich die Ziele von allen Seiten und er würde versuchen, so viele so tödlich wie möglich zu treffen, während er den Parcours durchlief. Er atmete ruhig, zog den Schlitten der Pistole zurück, um die erste Patrone in die Kammer zu laden und entsicherte den Sicherungsbolzen. Dann steckte er die Waffe zurück in das Holster an seiner Hüfte und lud das Gewehr, indem er den Ladehebel auf dem Lauf nach hinten zog. Mit seinem rechten Daumen entsicherte er das Gewehr und stellte den Feuermodus auf Einzelschuss.

Er war gerade fertig, als er den Countdown auf der Uhr über dem Parcourseingang runterlaufen sah. Er spannte seine Muskeln an, konzentrierte sich und versuchte so gut es ging, seinen Instinkten das Feld zu überlassen. »Du hast das hundertmal gemacht. Du kannst das!«, sagte er zu sich selbst und stürmte mit dem Klang der Sirene los. In den ersten zwei Minuten legte Michael ein Tempo vor, dass Quelham ernsthaft überraschte. Der Agent hatte das optimale Tempo gewählt, um schnell voranzukommen, gleichzeitig aber so viel Atem übrig zu lassen, um die Ziele präzise unter Feuer nehmen zu können.

Als er aus dem Fahrtstuhl getreten war, hatte Michael bereits die Zielpositionen des Parcours ausgemacht. So wusste er zum einen, von wo die Zielscheiben und Pappkameraden auftauchen würden. Zudem hatte er danach seine Waffen ausgewählt, da er wusste, dass er maximal 20 Ziele pro Durchgang treffen musste. Er versetzte jeder der Gegnerattrappen, die aus einer menschlichen Silhouette bestanden, auf die eine Zielscheibe aufgezeichnet war, zwei Körpertreffer. Wie er es gelernt hatte, um Feinde effektiv auszuschalten, ging eine Kugel in die Brust und eine in den Kopf. Nach den ersten 15 Zielen ließ er das leergeschossene Gewehr an dem daran befestigten Riemen auf seinen Rücken rutschen und zog seine Pistole. Auch die letzten fünf Ziele wurden auf diese Weise beschossen. Nachdem er den Parcours beendet hatte, drückte er auf den Knopf am Ausgang und wollte kurz verschnaufen.

»Was machen sie denn? Weiter!«, rief die Quartiermeisterin von ihrem Sitz oben auf dem Gerüst. Michael rannte los. Er musste einmal um das künstlich angelegte Konstrukt herumlaufen, um wieder an den Start zu gelangen. Im Laufschritt griff er an seinen Gürtel, wo er an zwei Munitionsclips die Ersatzmagazine befestigt hatte und ersetze zunächst das halbvolle Pistolenmagazin durch ein neues und steckte schließlich auch ein frisches Magazin in das Gewehr, kurz bevor er den Start erreichte. Ohne abzustoppen sprintete er erneut in den Parcours. Anders als beim ersten Mal, kamen die Ziele aber von anderen Seiten. Quelham hatte von ihrem Kontrollpult aus die Frequenz und Reihenfolge geändert, sodass sich Michael in Sekundenbruchteilen neu orientieren musste. Aber obwohl er mit sich und seiner Kondition kämpfen musste, bestand er auch diese zweite Runde unter den erschwerten Bedingungen mit Bravour.

Außer Atem erreichte er auch diesmal den Ausgang, betätigte das Signal und konnte mit sich selbst im Reinen sein. Er hatte alles gegeben und dabei nicht die schlechteste Figur gemacht. Nachdem er seine Waffen gesichert und einem Mitarbeiter der Quartiermeisterin übergeben hatte, der diese reinigen und warten würde, ging er nach oben und sah sich mit Quelhamdie Ergebnisse des Tests an. Diese waren beachtlich. Sie rief die digitale Akte des Agenten auf und verglich die Zeiten und Treffsicherheit eines vergleichbaren Tests beim SAS vor einigen Jahren mit dem heutigen.

»Mr. Zain, sie haben sich tatsächlich nochmal verbessert. Meinen Glückwunsch, aus meiner Sicht steht einem Einsatz im Felde nichts entgegen.«

»In Ordnung. Sagen sie, haben sie einen Spitznamen oder so? Ihr Name ist ja doch etwas uneingängig«, fragte er noch etwas außer Atem und nahm einen großen Schluck aus einer Wasserflasche. »Nennen sie mich einfach DQ«, antwortete sie ihm während sie sich bereits auf halbem Wege zum Aufzug befand. Verdutzt über die Forschheit dieser Frau blieb Michael allein vor dem Bildschirm zurück, warf noch einen halbherzigen Blick auf seine Statistik und schloss seine Akte, woraufhin der Bildschirm schwarz wurde. Nachdem er sich den Parcours noch ein letztes Mal ansah und fand, dass DQ mit ihren Leuten hier wirklich saubere Arbeit geleistet hatte, machte er sich auf den Weg zum Leiter des MI6, um seine wohl nur noch formale Freigabe für den Außeneinsatz und seine damit zusammenhängende Einstellung in den neuen Job zu empfangen.


Kinder des Atoms

Подняться наверх