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Mittwoch, 7. September 2011, 17.33 Uhr

Will, Marlene und Peter Kleinheinz saßen um den Küchentisch und genossen den Käsekuchen und einen frisch aufgebrühten Kaffee, den Marlene sogar mit aufgeschäumter Milch verfeinert hatte. Ein Trick, den ihr eine Freundin von den katholischen Strickfrauen verraten hatte. Marlene hatte sich frisch gemacht und umgezogen, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie jetzt einen Haushaltskittel trug. Während dieser Zeit hatte Kleinheinz Will mit großem Interesse beim Füttern der Tiere über die Schulter geschaut.

Der Landwirt goss sich gerade die zweite Tasse Kaffee ein, als er Kleinheinz fragte: „Na, wär das Landleben nix für dich? Jetzt, wo du etwas kürzer treten willst? Ich hatte eben der Eindruck, dass du viel Spaß an die kleinen Ferkelchen hattest.“

„Das stimmt“, strahlte Kleinheinz. „Mir war gar nicht bewusst, was Schweine für süße Tiere sind. Wie viel Lebensfreude die ausstrahlen! Ist das eigentlich normal, dass die auch alle Namen haben?“

„Bei uns hat das Tradition“, sagte Will stolz und goss Kleinheinz ebenfalls nach, obwohl der zaghaft abwehrte. „Schon als ich ein Kind war, da hatten bei uns auf dem Hof alle Tiere Namen. Bis auf die Hühner, die konnte man so schlecht auseinanderhalten. Ich kann mich sogar erinnern, dass wir eine Zeit lang so viele Schweine hatten, dass wir manche Namen sogar doppelt vergeben mussten. Das hat natürlich auch schon mal zu Verwechslungen geführt. Wenn nachmittags zum Beispiel ein Schulkamerad von mir klingeln kam und gefragt hat: „Kommt der Will zum Spielen raus?“, da hat meine Mutter schon mal für dem gesagt: „Nee, der Will kann nicht. Der hat eben Beruhigungstabletten bekommen, der wird gleich kastriert.“

Kleinheinz verzog das Gesicht.

„Will!“, ermahnte Marlene ihren Mann.

„Ist ja gut. Aber, für noch mal dadrauf zurückzukommen: Hier in Saffelen kann man gut und billig leben. Und im Neubaugebiet werden demnächst bestimmt ein paar schöne Häuser versteigert. So, wie die Zugezogenen sich da teilweise übernommen haben.“

„Ich weiß nicht“, sagte Kleinheinz kauend, „ich glaube, ich bin eher ein Stadtmensch.“

„Und warum wohnst du dann in Heinsberg?“, lachte Will.

„Jetzt ist es aber gut, Will“, schimpfte Marlene. „Hör endlich auf, der Peter zu verulken. Sag mal, Peter, warum trägst du eigentlich deine Pistole am Gürtel? Ich denk, du hast Urlaub?!“ Kleinheinz blickte auf sein Holster und strich mit der Hand über seine Dienstwaffe. „Ach, weißt du, die trage ich eigentlich immer seit dem Überfall. Als ich damals im Büro niedergeschossen wurde, hatte ich keine Waffe, um mich zu verteidigen. Und das hat mich wohl irgendwie traumatisiert. Ich geh heute nicht mehr ohne Pistole vor die Tür. Aber mein Psychologe sagt, das wär völlig okay.“

Will verschluckte sich. Verständnislos sah er den Kommissar an: „Was ist los? Du gehst nach ein Psychologe? Bist du denn …?“

„Verrückt?“ lächelte Kleinheinz. „Ich denke nicht. Oder besser: Ich hoffe nicht. Da ist doch nichts dabei, zu einem Psychologen zu gehen. Durch den Angriff hatte ich eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Und da arbeiten wir dran. Das hat mir wirklich sehr geholfen. Ich fühle mich richtig gut. Das solltest du auch mal machen, Will. Gerade du. Was dir alles so passiert ist in den letzten Jahren! Das ein oder andere hat dich sicher auch traumatisiert.“

Will schüttelte energisch den Kopf. „Unsinn! Also, für traumatologisiert zu werden, da habe ich nun wirklich keine Zeit. Meinst du, so ein großer Hof macht sich in der Zwischenzeit von alleine?“

„Was hat das denn damit zu tun, Will?“, schaltete sich Marlene entrüstet in das Gespräch ein. „Als wenn man sich das aussuchen könnte! Der Dr. Hoppe hat gesagt, die Frau Jaspers braucht jetzt auch dringend ein Psychologe, für damit klarzukommen. Das ist doch nix Schlimmes.“

Doch Will ließ sich nicht bremsen. „So weit kommt es noch! Natürlich ist das nicht schön, wenn einer stirbt, aber wenn man dann jedes Mal so ein Psychoheini rufen würde, für wieder klarzukommen … Die machen sich doch alle bloß die Taschen voll, diese …“

„Ach so, das weißt du ja noch gar nicht“, unterbrach Marlene den Redeschwall ihres Mannes. „Es geht sich nicht dadrum, dass der Theo tot ist, sondern um das, was der auf dem Sterbebett für die Anneliese gesagt hat.“

Und dann erzählte Marlene den beiden Männern, was soeben in der Aerobicstunde Gesprächsthema Nummer eins gewesen war: Julia, der letzte Name, den Theo Jaspers vor seinem Tod erwähnt hatte. Und vor allem, dass er eben dieser Julia seine Liebe gestanden hatte.

„Wer ist denn Julia?“, fragte Kleinheinz neugierig, während Marlene ihm ein zweites Stück Kuchen auf den Teller schaufelte.

Will rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ja, meinst du denn, der meinte die Julia von damals?“

„Kennst du irgendseine andere?“, fragte Marlene.

„Das ist komisch“, sagte Will, während er sich wieder Kleinheinz zuwandte. „Julia war ein hübsches Mädchen hier aus Saffelen. Eine ganz traurige Geschichte. Die hat sich im Sommer 1982 hier im Wald an ein Hochsitz erhängt. Die war erst 25 Jahre alt. Das war schrecklich. Vier Tage vorher hatte sich auch der ihr Freund umgebracht. Der war aus dem Nachbardorf, aus Uetterath. Der Freund hieß zwar Robert, aber die ganze Geschichte wurde von der Lokalpresse ‚Romeo und Julia‘ genannt, wegen weil die ineinander drin verliebt waren und aus zwei verschiedene Dörfer kamen. Weil in dem berühmten Roman von diesem William Dingsbums, da war ja auch ein Pärchen am pussieren.“

„Ja, ja, richtig. ‚Romeo und Julia‘“, erinnerte sich Marlene. „Das war damals wochenlang das große Thema hier. Will, erinnerst du dich auch noch dadran, wie unser alter Pastor damals im Pfarrblättchen geschrieben hat, dass die Julia sich nicht erhängt hat, sondern von der Maskenbär mit ein Lasso eingefangen worden wär?“

„Wer ist denn der Maskenbär?“, fragte Kleinheinz verwirrt.

Will zeigte seiner Frau einen Vogel. „Sag mal, Marlene geht’s noch? Wie kannst du der Peter so ein Blödsinn erzählen! Der denkt doch, wir hätten sie nicht mehr alle. Außerdem musst du das anders erzählen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder an den Kommissar. „Also, unser damaliger Pastor war zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen verkalkt. Der ist auch kurz nach diesem Vorfall vom Bistum Aachen mit 96 Jahren gegen dem sein Willen in der Vorruhestand versetzt worden. Auf jeden Fall hatte der ein Problem mit die Julia, weil die immer so Miniröcke getragen hat und alle Männer im Dorf verrückt waren nach die … außer ich jetzt. Auf jeden Fall hat der dann im Pfarrbrief das alberne Gerücht mit der Maskenbär in die Welt gesetzt. Der hat geschrieben, dass der Maskenbär die Julia an der Hochsitz aufgehängt hat, wegen weil die immer so rumgelaufen ist. Der Maskenbär gilt hier in Saffelen nämlich als Todesbote. Aber was Pastor da geschrieben hat, war natürlich absoluter Blödsinn – der Maskenbär holt sich im Prinzip nur kleine Kinder, die nicht vom Spielen reinkommen, wenn es dunkel wird. Außerdem benutzt der überhaupt kein Lasso, sondern erwürgt die Kinder mit seine Tatzen. Das weiß doch jeder.“

Der Irlandurlaub hatte Kleinheinz Ruhe und Gelassenheit gelehrt. Und so hakte er amüsiert nach: „Und der Maskenbär lebt im Saffelener Wald?“

Marlene nickte betreten und Will führte weiter aus: „Richtig. Also, genau genommen ist das nur eine Sage, für die kleinen Saffelener Kinder pädagogisch zu erziehen. Obwohl der Eidams Theo behauptet, dass der der Maskenbär mal leibhaftig begegnet wäre – wie der betrunken vom Schützenfest nach Hause kam. Der sagt, der Maskenbär wäre ein zwei Meter großer Waschbär gewesen. Also, der heißt deshalb Maskenbär, weil Waschbären immer so eine schwarze Maske quer über den Augen haben.“

„Da muss ich kurz eine Zwischenfrage stellen“, warf Kleinheinz belustigt ein. Er wusste plötzlich wieder, weswegen er das schrullige Ehepaar in den letzten anderthalb Jahren gelegentlich vermisst hatte. Käsekuchen kauend fragte er: „Im Saffelener Wald gibt’s also Waschbären? Ich dachte, die leben hauptsächlich in Nordamerika.“

Marlene beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorne und antwortete ernst: „Normal ja. Aber 1969 hat der Wildtierpark Gangelt aufgemacht und ein Jahr später ist da ein Waschbärehepaar weggelaufen und hat sich in den umliegenden Wäldern vermehrt. Und wie! Anfang der 80er gab es hier in der Gegend sogar eine richtige Waschbärenplage. Und zu der Zeit ist auch die Sage von der Maskenbär entstanden. Da gab es hier eine Zeit lang eine richtige Maskenbär-Hysterie. Mittlerweile sind die Waschbären aber wieder ausgestorben. Also, ich habe jedenfalls schon ewig keinen mehr gesehen.“

„Ah, verstehe“, nickte Kleinheinz, „ein Neozoon also.“

„Nee, der Wildtierpark ist kein Zoo“, sagte Will.

„Nein, nein. Neozoon nennt man ein Tier, das durch menschlichen Einfluss irgendwo angesiedelt wurde, wo es nicht heimisch ist.“

Marlene sah Kleinheinz voller Bewunderung an. Nie war ihr jemand begegnet, der so attraktiv wirkte, obwohl er Fremdwörter gebrauchte. Will entging der schmachtende Blick seiner Frau nicht und so versuchte er, wieder das Thema zu wechseln. „Na ja, wie auch immer. Auf jeden Fall hat sich die Julia 1982 im Wald aufgehängt.“

„Ach ja, richtig“, sagte Kleinheinz. „Und was hat jetzt Theo Jaspers damit zu tun?“

Will hob die Schulter. „Ja, das wusste ich bis eben auch nicht, dass der Theo in die Julia drin verliebt war.“

„Ach hör doch auf“, Marlene stieß ihn an. „Du hast doch eben selbst gesagt, dass alle Saffelener Männer hinter die Julia her waren. Die war die beste Partie im ganzen Dorf.“

„Ich war nicht in die drin verliebt“, verteidigte sich Will lautstark, „außerdem war ich doch schon mit dir verheiratet. Da hatten wir ja sogar Sabine schon.“

„Der Theo war auch schon mit die Anneliese verheiratet. Und die hatten auch schon der Fredi.“

„Ach, sieh an“, Kleinheinz schürzte genüsslich die Lippen, „von wegen heile Welt. Sodom und Gomorrha ist das hier in Saffelen. Also, wenn ich jetzt im Dienst wäre, würde ich sagen: Das riecht nach einer Beziehungstat. Na ja, aber andererseits hat die Spurensicherung ja den Selbstmord festgestellt.“

„Spurensicherung?“, fragte Will. „Also, du meinst jetzt so Leute, wie die, die damals hier waren, wie der Kaufladen von Eidams überfallen worden war?“

Kleinheinz nickte.

„Nee, so was gab es damals noch nicht“, widersprach Will. „Zu der Zeit hatten wir noch ein Dorfpolizist, Jütten Karl-Josef. Ein ganz scharfer Hund. Der hatte in der Grundschule eine eigene Wache und hat damals zusammen mit der Dr. Hoppe der Selbstmord von die Julia festgestellt. Also mit der tote Dr. Hoppe. Der Vater von der jetzige Dr. Hoppe.“

„Ach?“, murmelte Kleinheinz und zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen.

„Warum sagst du denn so komisch ‚Ach‘?“, fragte Marlene.

„Das muss nichts zu bedeuten haben. Ich kenne das nur so, dass ein Suizid immer von der KTU Aachen untersucht und bestätigt werden muss. Das gilt für alle unnatürlichen Todesfälle. Aber früher war das wahrscheinlich schon mal öfter so, dass das dann ein Hausarzt machte oder, wie hier, ein Hausarzt und ein Dorfpolizist. Allerdings kann man gerade bei ‚Erhängen‘ viel übersehen. Was meint ihr, wie viele Morde nicht als solche erkannt werden.“

Will und Marlene starrten ihn entsetzt an. Fast gleichzeitig sagten sie: „Mord? Du meinst …?“

Als Kleinheinz gewahr wurde, was er angerichtet hatte, wedelte er hektisch mit beiden Händen, so als wolle er versuchen, seinen letzten Gedanken aus dem Raum zu vertreiben. „Um Gottes willen, nein! Ich habe doch nur laut gedacht. Das war nur eine blöde Idee. Natürlich war das damals ein Selbstmord. Das liegt doch auf der Hand. Zuerst der Freund und dann …“

Doch Hastenraths Will hörte schon längst nicht mehr zu. In Gedanken begab er sich bereits auf die Spur eines unheimlichen Meuchelmörders. Verwegen, furchtlos und nur bewaffnet mit seinem messerscharfen Verstand.

Die Rache des Waschbären

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