Читать книгу Die Rache des Waschbären - Christian Macharski - Страница 11
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ОглавлениеDonnerstag, 8. September 2011, 17.51 Uhr
Müde und abgekämpft betrat Hastenraths Will das Wohnzimmer. Es lag ein langer Tag auf dem Hof hinter ihm, der mit dem Melken der Kühe um halb sechs begonnen und vor wenigen Minuten mit dem Melken der Kühe auch wieder aufgehört hatte. Nun freute er sich auf seinen Fernsehsessel mit der automatischen Kippfunktion und den breiten Armlehnen, die ihn in wenigen Sekunden in Empfang nehmen und ungefähr bis zu den Tagesthemen liebevoll umschließen würden. Wie er diesen Moment liebte! Bevor er seine Gummistiefel abstreifte, um seine Füße auf dem gepolsterten Hocker abzulegen, stellte er sich noch ein Weinbrandglas und eine zu drei viertel gefüllte Flasche Dujardin auf dem Wohnzimmertisch zurecht. Daneben lagen ordentlich die aktuelle Ausgabe der Prisma und die Fernbedienung, deren Funktionstüchtigkeit er in letzter Zeit des Öfteren mit einem leichten Schlag auf die Tischkante hatte wiederherstellen müssen. Er zog die Stiefel aus und ließ sich gemütlich in seinen Ohrensessel sinken – nur, um eine Sekunde später wieder hochzuschrecken, weil die ohrenbetäubende Türklingel loskreischte und mit ihr Attila im Hof. Will fuhr mit seiner rechten Hand über sein Herz und musste zweimal schnell durchatmen. „Verdammte Klingel“, entfuhr es ihm. Nachdem er sich wieder gesammelt hatte, brüllte er mit lauter Stimme durchs Haus: „Marlene, geh mal nach die Tür. Es hat geklingelt.“ Ihre Antwort kam prompt, aber sehr gedämpft aus dem oberen Stockwerk. „Ich bin noch im Badezimmer. Geh du mal.“
Will verzog das Gesicht und erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel. Noch bevor er den Flur erreicht hatte, jaulte die Klingel ein zweites Mal los. Entnervt riss er die Tür auf. „Wer zum Teufel …?“
„Ich!“, antwortete Michael, „dein Lieblingsschwiegersohn.“ Der junge Mann grinste breit. Es gab Zeiten, dachte Will, da hätte der sich so einen vorlauten Satz bei mir nicht erlaubt. Aber mittlerweile mochte selbst er den freundlichen Computerfachmann, und sogar den Begriff Lieblingsschwiegersohn konnte er nach anfänglicher Skepsis inzwischen durchgehen lassen, auch wenn das nicht besonders schwer war. Schließlich hatte er nur eine Tochter – Sabine. Die wiederum winkte ihm vom Auto aus zu. Sie hatte das Fenster des schwarzen Audi A6 an der Beifahrerseite heruntergefahren und rief: „Hallo Papa, danke, dass du heute Abend da hingehst.“ Auch die Scheibe am Rücksitz war heruntergelassen und Wills Enkelkinder Kevin-Marcel und Justin-Dustin hingen in halsbrecherischer Weise übereinander aus dem Fenster. Während sie sich gegenseitig nach unten zu drücken versuchten, riefen sie ausgelassen: „Oppa ist eine Flitzpiepe.“
Will war überfordert. „Was ist denn? Wie … wo soll ich heute Abend hingehen?“, stammelte er.
In diesem Augenblick tauchte hinter ihm im Flur Marlene auf. Sie hatte sich in ein lindgrünes, trotz Übergröße hautenges Kleid gequält und wurde von einer aufdringlichen Fahne Tosca begleitet, als sie sich an Will vorbeizwängte. Kopfschüttelnd sah sie an ihm herunter und sagte: „Willst du dir nicht was anderes anziehen, wenn du gleich da hingehst? Zieh dir auf jeden Fall vernünftige Schuhe an. Und ein bisschen Febreze auf das Hemd könnte auch nicht schaden.“
„Moment mal“, Will stampfte mit dem Fuß auf, „was ist hier eigentlich los? Wo fahrt ihr alle hin? Und – vor allen Dingen – wo soll ich hin? Ich hab doch überhaupt keine Zeit. Ich muss mich noch physisch und mental auf meine Grabrede morgen früh vorbereiten.“
Marlene stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihren Mann böse an: „Mein lieber Wilhelm Hastenrath. Bald reicht es mir mit dir. Ich habe dir schon drei Mal gesagt, was heute ist. Das letzte Mal heute morgen beim Frühstück. Würdest du doch nur einmal zuhören, wenn ich was sage!“
„Wie jetzt? Ich … äh“, stotterte Will, kam aber nicht weiter, weil Marlene noch einen Gang höher schaltete. „Du gehst jetzt gleich zum Elternabend in die Grundschule. Für wegen das neue Schuljahr.“
Will war entsetzt. Sofort schossen ihm die Bilder seines Fernsehsessels und der Flasche Dujardin durch den Kopf. „Aber, wieso …? Ich? Ich war doch seit Jahren nicht da. Das machen doch immer Michael und Sabine. Oder du.“
Marlene verdrehte wütend die Augen und formte ihre rechte Hand zur Faust. Um das Schlimmste zu verhindern, fasste Michael ihr beruhigend an den Arm und schob sie sanft hinter sich. Betont ruhig übernahm er das Gespräch. „Will, die Marlene hat doch heute ihr Quartalsessen im Spanferkelhaus. Wo die katholischen Strickfrauen immer ihre Diäterfolge feiern.“
Will nickte schwach und fragte mit kaum überhörbarer Verzweiflung in der Stimme: „Und ihr? Was macht ihr?“
Michael zeigte zum Auto. „Wir müssen mit Kevin-Marcel und Justin-Dustin nach Geilenkirchen zum Kinderpsychologen. Wegen der Untersuchung. Heute ist doch der einzige Termin, den wir bekommen konnten.“
Langsam kehrte bei Will die Erinnerung zurück. Die Sache mit dem Kinderpsychologen hatte in den letzten Wochen für viele kontroverse Diskussionen im Hause Hastenrath gesorgt. Während Michael, Sabine und Marlene der Meinung waren, dass Kevin-Marcel und Justin-Dustin möglicherweise an einem Aufmerksamkeitsdefizitproblem leiden würden, war Will der Überzeugung, dass sie einfach nur etwas lebhaft und vor allem sehr aufgeweckt seien. In dem Alter müsse auch schon mal was kaputtgehen, fand Will. Auch wenn er natürlich nicht alle Aktionen seiner Enkel guthieß. So zum Beispiel die, als sie vor einiger Zeit Attila eine Kordel mit zehn leeren Coladosen am Schwanz festgeknotet hatten. Am Ende musste der Tierarzt den tobenden Hofhund mit einer Betäubungspistole außer Gefecht setzen, bevor man die Kordel wieder entfernen konnte. Aber so sind Kinder halt, argumentierte Will dann immer. Meist stand er mit seiner Meinung jedoch auf verlorenem Posten. Und so verzichtete er diesmal darauf, die Diskussion erneut anzustoßen. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass gerade nicht der richtige Moment war. Und so sagte er: „Na klar. Elternabend. Natürlich habe ich dadran gedacht.“
Marlene ging einen Schritt auf ihn zu und zischte mit beschwörender Stimme: „Und wehe, es gibt wieder Ärger wegen irgendwas. Setz dich einfach da hin, hör zu und halt vor allen Dingen die Klappe. Nicht wie sonst immer.“
Will nickte, während Marlene sich umdrehte und zum Wagen ging. Michael blieb noch einen Moment stehen und kramte in seiner Jackentasche. „Mach dir nix draus, Will“, sagte er. „Frauen reagieren schon mal ein bisschen empfindlich. Hier, ich hab was für dich.“ Er zog ein Plastikdöschen mit Visitenkarten hervor und hielt es Will hin. Auf dem Deckel klebte ein Musterexemplar mit der Aufschrift: „Hastenraths Will – Landwirt, Ortsvorsteher und Hobbykriminologe“. Darunter stand eine Handynummer. Seine Handynummer. Denn seit Kurzem war er stolzer Besitzer seines ersten eigenen Handys, das Michael ihm besorgt hatte. Will nahm die Visitenkarten und strahlte voller Stolz. „Danke, mein Lieblingsschwiegersohn.“
Will betrat mit zehn Minuten Verspätung das Klassenzimmer der 4a. Alle anderen sahen sich um, als er die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen ließ. Das Quietschen seiner Gummistiefel auf dem Linoleumboden hatte ihn verraten. Während er sich in der hinteren Reihe einen Platz suchte, wendeten sich alle Köpfe wieder nach vorne und beobachten Schulrektor Peter Haselheim, der leise fluchend damit beschäftigt war, den Overheadprojektor auf dem Lehrerpult in Gang zu setzen. So ganz wollte es ihm offensichtlich nicht gelingen, denn an seinem Hals hatten sich bereits hektische Flecken gebildet. Ohne aufzusehen, sagte er: „Ah, unser Ortsvorsteher, der Herr Hastenrath, gibt sich persönlich die Ehre. Das freut mich.“ Er richtete sich auf und lächelte Will an. An die anderen gewandt, ergänzte er: „Das ist der Mann, der immer mit vollem Engagement auf politischer Ebene für den Erhalt unserer kleinen Grundschule kämpft. Bis jetzt mit großem Erfolg.“ Im Raum setzte ein anerkennendes Murmeln ein, vereinzelt wurde sogar auf die Tischplatten geklopft. Will sah sich um und nickte den Leuten, die sich umgedreht hatten, staatsmännisch zu. Erstaunt stellte er fest, dass er fast niemanden kannte. Lediglich die Tochter seines Schützenkameraden Schlömer Karl-Heinz konnte er zuordnen. Beim Rest ging er davon aus, dass es sich um junge Ehepaare aus dem Neubaugebiet handelte, deren Anzahl ständig wuchs – sehr zum Ärger der alteingesessenen Einwohner, die die alte Infrastruktur bedroht sahen. Dass es sich um Zugezogene handeln musste, erkannte Will schon daran, dass meist beide Elternteile erschienen waren. Das wäre früher undenkbar gewesen. Elternabende waren seit jeher Frauensache gewesen. Aber das begann schon sich zu ändern, als der junge Peter Haselheim im Jahr 2000 die Rektorschaft übernommen hatte. Damals hatte er den strengen, aber hoch angesehenen Direktor Franz-Josef Offermanns abgelöst, der aus Altersgründen in den Ruhestand verabschiedet worden war. Vor einigen Jahren war er verstorben. Offermanns war bereits 1961 an die damalige Volksschule Saffelen gekommen, zunächst als Lehrer für Mathematik, Deutsch und Geschichte, kurze Zeit später zusätzlich als Rektor. Auch Will war noch unter ihm zur Schule gegangen. Franz-Josef Offermanns galt zeitlebens als glühender Verfechter einer sehr autoritären Erziehung. Will konnte sich daran erinnern, dass er etliche Schulstunden von der Zimmerecke aus im Stehen verfolgen musste – mit einer Eselsmütze aus Pappe auf dem Kopf. Auf diese Weise bekam er aber zumindest mehr vom Stoff mit als die vielen Male, die er draußen vor der Tür verbringen musste. Natürlich mit heruntergedrückter Türklinke, damit er nicht weggehen konnte. Das war aber alles immer noch besser gewesen, als die körperlichen Züchtigungen, die eigentlich Offermanns’ Spezialgebiet waren. Nicht umsonst trug er stets einen schweren Ledergürtel. Schläge gab es aber nicht etwa, wenn die Hausaufgaben nicht gemacht waren, denn das traute sich ohnehin niemand. Schläge gab es in der Regel schon, wenn die Schönschrift nicht schön genug war. Na ja, so gesehen, haben die Schüler von heute es schon besser, dachte Will. Aber geschadet hat es mir ja auch nicht. Aus mir ist ja euch ein erfolgreicher Landwirt und charismatischer Ortsvorsteher geworden.
Will wurde aus seinen Gedanken an die gute, alte Zeit gerissen, als Peter Haselheim lautstark vor der Technik kapitulierte. „Ach, so ein Mist. Diese alten Overheadprojektoren. Dass wir die überhaupt noch einsetzen im Computerzeitalter. Darüber sollten wir auf jeden Fall noch mal mit dem Förderverein sprechen.“ Zustimmendes Gemurmel im Raum. Eine Frau mit halblangem, brünettem Haar, die allein in der ersten Reihe saß, sprang auf und trat neben Haselheim. „Ich kann gerne versuchen, Ihnen zu helfen“, sagte sie. Will schätzte die Frau auf Mitte, Ende dreißig. Sie war hübsch, wenn auch nicht unbedingt im klassischen Sinne. Vielleicht ein paar Kilo zu viel, aber dennoch gut verteilt auf einem wohlproportionierten Körper. Ihre Kleidung war sportlich-modern und ihre Ausstrahlung enorm. Mit ihrem offenen Lächeln nahm sie auf der Stelle die Leute im Klassenzimmer für sich ein. Mit anderen Worten: Sie gefiel Will nicht. Außerdem hatte er sie noch nie in Saffelen gesehen. Und er sollte recht behalten. Haselheim nutzte die Gelegenheit, die Dame vorzustellen. „Oh, ach ja. Danke. Ja, liebe Eltern“, begann er, während die junge Frau sich an dem Overheadprojektor zu schaffen machte, „das ist Frau Bettina Hebbel, unsere neue Kollegin. Sie wird ab nächster Woche die 4a übernehmen und damit die Nachfolgerin von Herrn Rehbein, der sich ja, wie die meisten wissen dürften, bereits seit einigen Monaten in … ja, wie soll ich sagen, in … sich also erfolgreich in den Burn-out verabschiedet hat.“ Haselheim biss sich auf die Lippe. Ihm wurde gerade bewusst, wie unglücklich er sich ausgedrückt hatte. Zum Glück rettete ihn das grelle Licht, das plötzlich der Overheadprojektor auf die Tafel warf. „Voilá! Er läuft wieder“, sagte Frau Hebbel, während sie sich zufrieden die Hände rieb.
„Ja, was für ein hervorragender Einstand“, scherzte Haselheim mit spürbarer Erleichterung darüber, dass sein kleiner Fauxpas dadurch in den Hintergrund geriet.
Will hatte zwar mitbekommen, dass Herr Rehbein offenbar schon länger nicht mehr unterrichtete, weil er gerne mal in Kur war, aber dass er überhaupt nicht mehr wiederkommen würde, überraschte ihn jetzt doch. Dabei war Will so froh gewesen, dass Herr Rehbein der Lehrer seines Enkelkindes Justin-Dustin gewesen war, weil er als Letzter an der Saffelener Grundschule noch zu der goldenen Lehrergeneration gehört hatte. Jener Generation, für die Strenge und Disziplin keine Fremdwörter waren. Man musste es ja nicht übertreiben wie Herr Offermanns, aber zu viel Kuschelpädagogik tat den Kindern nach Wills Meinung auch nicht gut. Das alles führte doch nur zur Verweichlichung der Jugend. Will konnte diesem ganzen Psychogequatsche nicht viel abgewinnen. Es begann sogar, ihn regelrecht zu nerven. Deshalb meldete er sich zu Wort.
Haselheim legte gerade die erste Folie auf, als er aus dem Augenwinkel das Handzeichen sah. „Ja bitte?“, sagte er und wandte sich gleichzeitig an seine neue Kollegin, die assistierend neben ihm stand. „Das ist, wie gesagt, der Herr Hastenrath, unser Ortsvorsteher. Sein Enkel geht in die 4a.“ Dann nickte er Will lächelnd zu.
Der Landwirt erhob sich und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Das war seine Welt. Hier, wo bedeutungsschwangere Worte gefragt waren, wo Politik und Diplomatie die Herzen der Menschen öffnen konnten, da fühlte er sich zu Hause, da war er in seinem Element. Mit großer Geste steckte er eine Hand in die Tasche seines verwitterten grünen Parkas, so wie er das mal bei Gerhard Schröder gesehen hatte. Sekundenlang ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Will beherrschte die hohe Kunst der Stehgreifrede wie kaum ein anderer in Saffelen. Diesmal wollte er nichts dem Zufall überlassen. Er war bereit, seine gefährlichste Waffe einzusetzen. Nämlich den berüchtigten Hastenrathschen Stufenplan, mit dem er noch in jeder Dorfversammlung eindrucksvoll seine Ziele durchgesetzt hatte. Die alteingesessenen Saffelener klebten dabei regelmäßig an seinen Lippen. Wieso sollte es hier anders sein? Seine Ansprache begann Will traditionell mit Stufe 1, dem Lob: „Mein lieber Herr Haselheim, oder – Peter – wie ich ja für dich sagen darf. Zunächst einmal muss ich dir sagen, dass dir dieser unmoderne Pullunder sehr gut steht und dass ich kaum jemanden kenne, der mit eine herausgewachsene Frisur noch so passabel aussieht wie du, aber …“, Stufe 2 – Scheinangriff, „das kann natürlich nicht über die unselige Schulfest-Affäre hinwegtäuschen, in die du verwickelt bist. Ich gehe zwar davon aus, dass der Untersuchungsausschuss, dem ich zusammen mit Schlömer Karl-Heinz leite, zu dem Ergebnis kommt, dass die zehn Euro wohl einfach bloß falsch herausgegeben worden waren an der Kuchentheke. Dennoch …“, Stufe 3 – Untergrabung, „hat dadrunter natürlich deine Führungsqualität und vielleicht auch ein wenig deine Intrigität, oder wie das heißt, gelitten. Aber …“, Stufe 4 – angetäuschter Schulterschluss, „für dich in dieser schweren Zeit zu unterstützen, sind Freunde wie ich ja da. Und deshalb …“, Stufe 5 – Todesstoß, „denke ich, sollten wir alle erst mal in Ruhe dadrüber nachdenken, ob es richtig ist, einen der letzten noch verbliebenen brauchbaren Lehrer durch einen vorlauten, unreifen Backfisch – das richtet sich jetzt nicht persönlich gegen Sie, Frau Hempel – zu ersetzen. Deshalb ….“ Als Will gerade zu Stufe 6, dem fulminanten Schlussplädoyer, ansetzen wollte, schien irgendetwas schiefzulaufen. Statt langsam anschwellenden Applauses erhob sich nämlich plötzlich Unruhe unter den Anwesenden. Wills Rede wurde von lauten Buh-Rufen und grellen Pfiffen unterbrochen und aus einer Ecke flog ihm sogar ein Radiergummi ins Gesicht. Offenbar hatte er die Zugezogenen rhetorisch nicht ganz auf seine Seite ziehen können – warum auch immer. Peter Haselheim ruderte hilflos mit den Armen und versuchte, die Elternschaft zu beruhigen. Doch seine dünne Stimme verlor sich in dem tumultartigen Lärm, aus dem man Satzfetzen wie „reaktionärer Sack“ oder „Halt’s Maul“ heraushörte. Haselheim musste sogar einen Zwei-Meter-Mann davon abhalten, auf Will loszugehen. Doch dann sorgte ein energisches und lautes „Jetzt reicht’s aber!“ schlagartig für Ruhe. Es war allerdings nicht Haselheim, der diesen Satz rief, sondern Frau Hebbel. Alle sahen erschrocken nach vorne. Die junge Frau setzte ein freundliches Lächeln auf und sagte mit wieder deutlich sanfterer Stimme: „Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch alle wieder beruhigen. Ich kann verstehen, dass schon mal Emotionen hochkochen, wenn Veränderungen anstehen. Aber ich bin ja auch deshalb heute Abend hier, um Vorbehalte auszuräumen und Ihnen mein Konzept vorzustellen. Und ich finde, in einer Demokratie ist es wichtig, jeden zu Wort kommen zu lassen.“ Dann wandte sie sich an Will, der immer noch stand und eine trotzige Miene aufgesetzt hatte. „Herr Hastenrath, ich kann Sie nur zu gut verstehen. Sie sind hier groß geworden, Sie sind hier zur Schule gegangen, Sie sind ein echter Einheimischer, dem bestimmte Werte wichtig sind.“ Will nickte.
„Aber“, fuhr sie fort, „der Lauf der Dinge ändert sich manchmal. Was gestern gut war, kann man heute vielleicht noch besser machen.“
Will verschränkte die Arme vor der Brust: „Und was, bitte schön, ist verkehrt dadran, mal mit ein stabiles Holzlineal für Ruhe zu sorgen? Einmal hat der Herr Offermanns mir sogar eins auf dem Handrücken drauf kaputtgeschlagen. Aber danach habe ich nie mehr die Hausaufgaben vergessen.“
„Und was hat Ihre Mutter dazu gesagt?“
„Die hat sich natürlich dadrüber aufgeregt.“
„Sehen Sie.“
„Wieso? Die hat sich dadrüber aufgeregt, dass die wegen mir ein neues Lineal kaufen musste.“
Frau Hebbel seufzte. „Na ja, sagen wir mal so, es gibt verschiedene Methoden. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich hervorragend ausgebildet bin und auch schon viele Jahre in Norddeutschland unterrichtet habe.“
Will zog die Augenbrauen hoch, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben. „Jaa, Frau Hempel. Aber Norddeutschland ist nicht Westdeutschland. Sie können vielleicht gut Rollmöpse zusammenrollen, aber das heißt nicht, dass Sie was von der Erziehung verstehen, die hier nötig ist. Hier in Saffelen herrscht noch das Gesetz der Prärie … also im übertragenen Sinne. Und dadrauf müssen wir unsere Kinder vorbereiten.“
Der Zwei-Meter-Mann mit dem breiten Kreuz, den Haselheim zuvor noch mühsam hatte zurückhalten können, erhob sich erneut und sah Will tief in die Augen. In seinen Pupillen spiegelten sich Hass und Verachtung. Er ballte die Faust und rief drohend: „Das Gesetz der Prärie kannst du haben. Wir gehen jetzt vor die Tür und ich haue dir eins auf die Fresse.“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Will schluckte. Er wägte die Situation ab und kam zu dem Schluss, dass es diplomatische Sackgassen gab, aus denen man sich als guter Staatsmann vorläufig zurückziehen sollte. Nicht allerdings, ohne ein eindrucksvolles Schlusswort zu hinterlassen. Er überlegte kurz, wie es lauten könnte, und sagte dann „Pffft …“, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und mit erhobenem Haupt das Klassenzimmer verließ.
Nachdem er auf den Bürgersteig getreten war, atmete er mehrmals kräftig durch und sog in tiefen Zügen die frische Luft ein, die durch ein kurzes Gewitter am Nachmittag angenehm diesig war. Nachdenklich überquerte er die Straße, als auf dem Weg zu seinem Wagen plötzlich sein neues Handy klingelte. Umständlich fischte er es aus der Parkatasche und nahm das Gespräch entgegen. Zunächst drangen nur laute Kneipengeräusche an sein Ohr. Doch dann brüllte seine Frau am anderen Ende gegen den Lärm an. „Hallo Will, ich hoffe, ich stör nicht! Ich wollte nur schnell fragen, wie der Elternabend läuft.“ Will überlegte kurz und antwortete: „Ich würde mal sagen: Wie immer.“