Читать книгу Jupiter 4: Syndikat der Kristallfischer - Christian Montillon - Страница 6
Aus den Fugen
ОглавлениеEin Heulen ertönte, dann schweres, metallisches Ächzen, als sei die Micro-Jet in eine gewaltige Schrottpresse geraten. Wäre es nur so, dachte Perry Rhodan. Dabei hätte es sich wenigstens um eine überschaubare Situation gehandelt – ganz im Gegensatz zu dem Hexenkessel, der unvermutet um sie herum ausbrach.
Wieder erklang das Geräusch, schriller diesmal und so durchdringend, dass es in den Ohren schmerzte. Die Intensität nahm zu.
Wie ein abschmierendes antiquiertes Kleinflugzeug. Die Assoziation erheiterte den Terraner trotz des allseitigen Chaos: Wie viele Jahrhunderte waren vergangen, seit er dieses Geräusch zuletzt gehört hatte? Und doch steckte die Erinnerung noch genau in ihm und wartete offenbar nur darauf, abgerufen zu werden. Gerüche vergaß man angeblich nie; ob das auch für Geräusche und die damit verbundenen Emotionen galt?
»Es ist der Alarm!«, rief Mondra Diamond. »Aber warum klingt er so verzerrt und ...« Sie unterbrach sich. »Wir stürzen ab!«
Nahezu sämtliche Energie verschwand blitzartig aus der Micro-Jet, fast alle Maschinen hielten inne. Totenstille herrschte ringsum, wie in einem metallenen Sarg, der durchs All raste – oder eben durch die Gas- und Nebelfelder der äußeren Jupiteratmosphäre. Bräunliche und rötliche Schwaden peitschten gegen das Sichtfenster.
Die Jet raste genau einem gigantischen Strudel entgegen, der die Wirklichkeit aufzureißen schien. Vor ihnen tobten Gewalten, die sie zwischen sich zermalmen würden.
Kräfte, dachte Rhodan, die zweifellos tausendmal stärker sind als jede nur denkbare Schrottpresse. »SERUNS sofort schließen! Atemluft sparen!«
Mit einem pneumatischen Zischen schloss sich der Helm seines Schutzanzugs. Noch war die Atemluft in der Micro-Jet nicht knapp, noch gab es keinen Auslöser für eine automatische Sicherheitsreaktion der Schutzanzüge. Im Innern der Jet war offenbar alles beim Alten geblieben – mit dem einen Unterschied, dass das Fluggefährt unkontrolliert dem Kern des Jupiters entgegenraste und niemand an Bord auch nur das Geringste dagegen unternehmen konnte. Der Atmosphärendruck, der auf den Rumpf einwirkte, stieg von Sekunde zu Sekunde. Irgendwo vor ihnen wurde er so stark, dass Jupiters Gashülle in einen flüssigen Zustand überging.
Doch dort würden sie niemals ankommen. Vorher würde sie der Strudel verschlucken, der wohl das äußere Zeichen eines gigantischen Wirbelsturms war, dem Großen Roten Fleck ähnlich.
Nur – woher kam ein solcher Sturm? Er konnte sich nicht einfach so bilden. Etwas Unfassbares musste geschehen sein.
Das Stahlskelett der Jet ächzte. Ein tausendfach verästelter Blitz zuckte über die kleine Schutzschildblase, die flackerte, als würde sie jeden Augenblick brechen wie eine Eierschale.
»Wir brauchen Antriebsenergie.« Mondra klang ruhig und überlegen. Natürlich. Jemand wie sie geriet ebenso wenig in Panik wie Rhodan selbst. Nur wenn alle nüchtern und klar handelten, konnten sie vielleicht einen Ausweg finden und ihr Überleben sichern. Und daran würden sie bis zum letzten Atemzug arbeiten.
»Fragt sich nur, wo die herkommen soll.« Während Rhodan sprach, untersuchte er mögliche Ursachen des völligen Ausfalls. Dass so etwas von einer Sekunde zur anderen und erst recht ohne äußere Anzeichen geschah, war eigentlich unmöglich – wobei der Terraner die Vokabel eigentlich längst aus seinem Wortschatz gestrichen hatte, seit das eigentlich Unmögliche zu seinem Alltag gehörte ...
Also im Grunde genommen seit dem Tag, an dem er mit der STARDUST erstmals ins All aufgebrochen war. Selbst vor der kosmischen Haustür, mitten im Solsystem, gab es immer wieder Phänomene, die niemand vorhersehen konnte.
»Völliges Systemversagen«, stellte Mondra fest. »Nicht das kleinste Fünkchen Triebwerksenergie.«
Rhodans Gedanken überschlugen sich. Sie mussten etwas tun! Sollten sie aussteigen? Aus der Jet ausschleusen und sich auf die SERUNS verlassen? Mit den Steueraggregaten versuchen, aus dem Bereich der Atmosphäre zu fliegen und in den freien Weltraum vorzudringen?
Ein irrsinniger Gedanke. Was immer für den Ausfall der Instrumente und den Verlust jeglicher Antriebsenergie gesorgt hatte, würde auch die SERUNS lahmlegen, zumal es sich um die leichten Modelle handelte – Warrior III ds. Sie hatten diese Versionen gewählt, um nicht in voller Montur in MERLIN einzufallen; mit der aktuellen Entwicklung schon während des Hinflugs hatte niemand rechnen können.
Mondra Diamond schrie auf, kurz bevor sich ein mörderischer Schmerz durch Rhodans Hirn bohrte. Porcius Amurri stöhnte. Ein schrilles Sirren schien Rhodans Trommelfell platzen zu lassen. Vor seinen Augen tanzte ein Stern.
Lichter flackerten rundherum. Kaskadenblitze flammten auf und erloschen wieder.
»Initiiere Neustart«, erklang die Kunststimme der Steuereinheit der Micro-Jet. »Energiewert niedrig, aber konstant. Neustart möglich.«
Was immer für den weitgehenden Geräteausfall gesorgt hatte – offenbar war der Einfluss nur kurzzeitig wirksam gewesen. Was das Ganze nicht weniger rätselhaft machte. Zweifellos tobten sich irgendwelche hyperenergetischen Gewalten aus, die bizarre Nebeneffekte nach sich zogen. Rhodan fragte sich, ob die Geräusche, die er gehört hatte, überhaupt echt oder nur Einbildungen seines auf Psi-Ebene überreizten Gehirns gewesen waren.
Wie auch immer – der Höllenlärm, mit dem die Energie in die Systeme zurückkehrte, endete. Rhodan blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, welche Wechselwirkungen ausgerechnet zu diesem Ergebnis geführt hatten. Es spielte auch keine Rolle; sollten sich später irgendwelche Spezialisten damit beschäftigen. In diesen Augenblicken zählte nur eins: Überleben.
»Ich übernehme das Steuer. Mondra, du bist Kopilotin.« Er versuchte, sich zu orientieren. Die zahllosen Anzeigen der Außenbeobachtung las er routinemäßig – und stutzte. »Die Werte ergeben keinen Sinn.«
»Die Atmosphäre ist in Unordnung geraten«, gab Mondra zu bedenken. »Vielleicht sorgt das dafür, dass ungewöhnliche hyperphysikalische Einflü...« Sie brach mitten im Wort ab, wohl als sie selbst bemerkte, wie unmöglich die ankommenden Messwerte waren. Von ungewöhnlich konnte man da nicht mehr sprechen.
Ein dumpfes, humorloses Kichern drang aus dem Schacht. »Vielleicht sollte ich mich der Kollegin Gili anschließen.« Das war Dion Matthau. »Ich glaube auch an gar nichts mehr. Nicht mal mehr auf die Physik kann man sich verlassen.«
Von der Hyperphysik ganz abgesehen, dachte Rhodan. Die Positronik lieferte völlig unsinnige, unzusammenhängende Daten. Demnach befand sich vor ihnen teils ein absolutes Vakuum, teils der massive Kern eines Planeten, teils herrschten Bedingungen wie unter Wasser.
»Geblendet«, meinte Diamond. »Die Positronik ist geblendet und bringt sinnfreie Werte.«
Eine passende Bezeichnung, überlegte Rhodan und schaltete die Anzeigen ab. »Wir fliegen auf Sicht.«
»Auf ...« Seine Lebensgefährtin ächzte.
»Auf Sicht«, betonte er ruhig. »Was bleibt uns sonst übrig? Die Instrumente führen uns in die Irre.«
Kurz fühlte er Mondras Hand an seiner Schulter. »Du weißt, dass es Wahnsinn ist?«
»Lieber wahnsinnig als tot.« Rhodans Hände lagen auf den Steuerelementen, er bediente sie mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit. Die Jet ging in eine enge Rechtskurve, raste weiter durch die wirbelnden Atmosphäreschwaden. Der riesige Schlund vor ihnen trieb zur Seite, viel zu langsam, drohte sie nach wie vor einzufangen und in sich hineinzureißen.
»Wir kommen nicht vorbei!«
Ein Stoß durchlief die Micro-Jet, als sei sie von einem Asteroiden gerammt worden. Von irgendwo hörte Rhodan ein Krachen, gefolgt von einem Schrei. Er achtete nicht darauf. Sein Blick ging stur durch die Sichtscheibe nach draußen. In einen Hexenkessel.
Die Jet reagierte nicht mehr auf die Kontrollen. Sie legte sich schief, kippte dann völlig. Die Schwerkraftprojektoren glichen es erst mit einiger Verzögerung aus. Für Sekunden blieb das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen. Rhodan aktivierte eine magnetische Schaltung an den Füßen und im Rückenteil des Schutzanzugs, der ihn auf Position hielt – manchmal waren die einfachsten Methoden immer noch die effektivsten.
Irgendwo piepste ein Alarm. Die Positronik des SERUNS gab eine Meldung, die der Terraner nicht einmal wahrnahm. Er versuchte stattdessen, das Chaos vor sich mit Blicken zu durchdringen und eine sichere Passage zu entdecken.
Sicher ... Schon die Vorstellung war ein Hohn.
Die Jet kam ins Trudeln, überschlug sich erst einmal langsam, bald in raschem Tempo immer wieder. Es knirschte. Dann ein Würgen: das Geräusch, mit dem sich jemand übergab.
Rhodan wartete eiskalt ab und zündete im exakt richtigen Moment das Seitentriebwerk, gab gleichzeitig Rückstoß.
Das Krachen im Metall weckte die Befürchtung, die Jet müsse auseinanderbrechen. Irgendwann musste die Belastung von allen Seiten zu viel sein ...
Der Andruck von mehreren Gravos schlug durch, mit einem Mal schien Rhodan das Mehrfache seines Gewichts zu wiegen. Die plötzliche Beschleunigung presste ihn in den Pilotensitz. Er gurgelte, etwas knackte in seinen Ohren, und ein Blutstropfen rann ihm aus der Nase. Der SERUN glich die Belastung rasch aus; dennoch fühlte sich der Aktivatorträger einen Augenblick lang seltsam schwerelos.
Der Flug stabilisierte sich.
»Neun Uhr!«, rief Mondra Diamond. Sie saß viel zu weit vorne auf ihrem Sitz, den Oberkörper vorwärtsgeneigt. In dem kurzen Blick, den sich Rhodan erlaubte, sah er ihr blasses Gesicht, aus dem jegliche Farbe gewichen war. Ein Blutfaden glänzte über dem fahlen Kinn.
Er folgte ihrem Hinweis und entdeckte an der entsprechenden Position tatsächlich eine etwas ruhigere Zone. Ringsum wirbelten Stürme durch die Atmosphäre. Rote Blitze zuckten, Wolken verdampften. Etwas flackerte. Rhodan glaubte erst an eine Sinnestäuschung oder eine zufällige Formation der Nebelschwaden, wie ein Kind in den Wolken stets Figuren und Tiere entdeckt. Doch war da nicht ein blassblaues, rundes Etwas, ein sphärisch-elegantes Rad, in dessen Nabe eine kompakte, offenbar organisch pulsierende Masse saß? Ein Lebewesen, wie Rhodan es nie zuvor gesehen hatte?
Das Etwas, wenn es jemals da gewesen war, verschwand hinter einem Sturm aus grauem Brodem oder wurde von ihm mitgerissen.
»Hast du etwas gesehen?«, fragte Rhodan.
»MERLIN?«
»Ein ... Rad.«
»Negativ.«
»Gili?«
»Nichts«, sagte die TLD-Agentin. »Porcius übergibt sich noch immer, und Buster ...«
»Nur Chaos«, unterbrach dieser.
Die Jet raste auf die gemäßigtere Zone zu.
»Ortung!«, befahl Rhodan. »Vielleicht kommen sinnvolle Werte rein. Wir müssen die Faktorei finden!«
»Oder umkehren«, ergänzte Diamond.
Rhodan schwieg. Dazu war er nicht bereit. Konnte man wissen, ob es überhaupt gelingen würde? Sie waren bereits tief in die Atmosphäre eingedrungen, und was immer um sie herum vorging, sie mussten so schnell wie nur irgend möglich den sprichwörtlichen sicheren Hafen ansteuern, den MERLIN ihnen bieten konnte ...
»Die Faktorei sollte in weniger als zweihundert Kilometern Entfernung stehen«, teilte Mondra mit. »Sofern die Peilimpulse korrekt eingehen, mit denen ich unsere Position bestimme.«
»Aber?«, rief Matthau aus dem Schacht.
»Aber sie bleibt nach wie vor verschwunden«, sagte Rhodan, ohne dass er die Daten, die Mondra vorlagen, selbst sah.
»Abgetrieben durch diesen ... Sturm?«, fragte der Agent.
Rhodan wusste, dass es sich nicht nur um einen Sturm handelte. Er sah jedoch keine Veranlassung, dies extra zu betonen. Matthaus Zögern zeigte, dass dieser es ebenso wusste.
»Ich habe sie!«, rief Mondra.
Rhodan atmete erleichtert aus.
»Zwanzigtausend Kilometer Distanz!«
Zwanzigtausend Kilometer. Unter normalen Umständen wäre das an Bord der Micro-Jet ein Katzensprung gewesen – so jedoch konnte niemand sagen, ob sie ihr Ziel jemals erreichen würden.
Um einen Manövrierfehler oder etwas Ähnliches konnte es sich kaum handeln; MERLINS Position war bewusst geändert worden.
*
Sie rasten weiter durch die Hölle aus blitzenden Lichtern und irritierenden Farbkaskaden. Plötzlich flackerte der Schutzschirm um die Jet in einer Unzahl kleiner Explosionen. Es war, als würden kleine Materiebrocken verdampfen. Doch wo sollten sie herkommen? Rotes Glühen sirrte tausendfach über den gesamten Horizont. Die Irrlichter leuchteten noch vor Rhodans Augen nach, als sie längst vergangen waren.
Dann verstand er: Die Atmosphäre des Jupiters brannte.
Wie weit das Phänomen reichte, vermochte er nicht zu sagen – er wusste nur eins: Die Katastrophe war weitaus umfassender, als er bis zu diesem Moment hatte vermuten können.
Flammen loderten rund um den Schutzschirm.
»Die Gasmassen verpuffen.« Mondra Diamonds Stimme zitterte vor Entsetzen. Wahrscheinlich dachte sie das Gleiche wie er. Wenn dies eine Kaskadenreaktion war und die gesamte Atmosphäre erfasste ...
Rhodan, der gezwungen war, auf Sicht zu fliegen, steckte unvermittelt mitten in einem gewaltigen Feuerfeld. Ihn schwindelte. Die Jet geriet erneut ins Trudeln. Oben und Unten verloren ihre Bedeutung, es war unmöglich, sich zu orientieren. Sie rasten in der winzigen Schutzkuppel ihres Schirms weiter, ins Blinde hinein.
Zwanzigtausend Kilometer, dachte Rhodan. Und ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die Richtung halten kann.
In einem außer Kontrolle geratenen Stück Technologie flog die kleine Gruppe von Menschen ihrem Tod entgegen. Mehr denn je kam sich Rhodan wie in einem Sarg vor. Lebendig begraben, dem Krematorium übergeben ...
Das Universum brannte. Feuerzungen verschlangen alles.
»Jupiter geht unter«, sagte eine von Grauen erfüllte Stimme aus dem Schacht. Rhodan konnte sie nicht mal mehr zuordnen. »Der Planet stirbt!«
Wieder überschlug sich der Kosmos ihres Fluggeräts. Tränen schossen Rhodan ins Gesicht.
Etwas trudelte an seinem Sichtfenster vorüber – er traute seinen Augen kaum. Ein zerfetztes Stück Metall – ein scharfkantiges Fragment, ein Teil ihrer Jet, ein gerade mal eine Handspanne umfassender Aufbau, in dem eine Kamera zur Außenbeobachtung untergebracht war. Es schrammte über die Scheibe, schoss dann weiter, getrieben von außer Rand und Band geratenen Kräften, erreichte die Innenseite des Schutzschirms und verglühte.
Funken prasselten auf die Scheibe. Schwarze Rußflecken entstanden und vergingen sofort wieder.
»Außentemperatur steigt«, meldete Diamond. »Die Instrumente arbeiten teilweise wieder korrekt. Die Werte sind irrsinnig hoch. Schutzschirmbelastung extrem. Hundertsechzig Prozent über Maximalbelastung. Bruch steht bevor!«
Die Welt glühte. Rhodans SERUN hatte die Sichtscheibe des Helms längst abgedunkelt, um einen Augenschaden zu verhindern. Wahrscheinlich wäre er sonst bereits erblindet.
Dunkelheit waberte unvermittelt in den weiß lodernden Flammen, ein willkommener Fleck Düsternis. Wie ein Schwarzes Loch inmitten der Korona einer Sonne.
Rhodan riss die Jet herum, jagte dem einzigen Ort entgegen, der Linderung verhieß. Sie stießen in die Schwärze, die sich bald als die üblichen grauen und bläulichen Schwaden entpuppte, aus denen die Jupiteratmosphäre bestand.
»Hinter uns!«, ächzte Matthau. Er konnte durch die transparente Kuppel über dem Schacht ins Freie sehen.
Erneut zwang Rhodan die Maschine in eine scharfe Kurve, in einem Neunzig-Grad-Winkel. Er fühlte mehr als er wusste, dass dies die richtige Richtung sein musste, in der MERLIN in einiger Entfernung stand.
Durch diese Aktion entdeckte er, worauf die Worte des TLD-Agenten abzielten.
Eine riesige, glühende Feuersbrunst loderte scheinbar bis in die Unendlichkeit. Glühende Gase verpufften in einer gewaltigen Kettenreaktion. Rotes und blaues Feuer überlappte und fraß sich gegenseitig.
»Mehr als tausend Kilometer Durchmesser«, staunte Diamond.
Noch während Rhodan hinsah, erstickte der Flammenball plötzlich, sackte in sich zusammen, schrumpfte und hinterließ umfassende Schwärze, dunkler, als wenn nie ein Feuer geleuchtet hätte. Einen bizarren Augenblick lang trieben riesige Asche- und Schlackewolken umher, ehe alles im tobenden Chaos eines Wirbelsturms verschwand. Gase aus der Umgebung schossen in das Vakuum.
Ihm blieb keine Zeit, nachzudenken. Was immer hier geschah, die Atmosphäre des Gasriesen war in Unruhe geraten – womöglich war längst jegliche natürliche Regelung zusammengebrochen. Rhodan erschauerte, als er daran dachte, was eine solche Katastrophe mitten im Solsystem bedeutete. Wenn Jupiter verging, würde das unvorhersehbare Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Systems nach sich ziehen.
Dann traf die Gewalt des Sturms die Jet.
Alles überschlug sich erneut, weitaus schlimmer als zuvor. Nur Dank der SERUNS und ihrer Schutzfunktion blieb ein Rest von Normalität.
Rund um ihn knirschte es bedenklich. Ein statisches Sirren quälte seine Ohren, dann tobte der Lärm einer Explosion.
»Feuer!«, hörte Rhodan, während er mit aller Gewalt versuchte, die Kontrolle über die Jet zurückzugewinnen. »Ich kümmere mich darum!«
Hinter ihm herrschte hektische Aktivität. Er überließ alles den TLD-Agenten. Manuell ausgebrachter Löschschaum zischte. Die Luft verdunkelte sich mit Asche und Ruß.
»Hast du MERLIN?«, rief er ins Chaos.
Womit er nicht gerechnet hatte, geschah. Mondra gab ihm eine Kursanweisung. »Nur noch knapp zweitausend Kilometer.«
Sie rasten weiter.
»Feuer erstickt!«, meldete Matthau.
Die Atmosphäre vor ihnen schien wesentlich ruhiger als die hinter ihnen. MERLIN stand offenbar an einem weitaus weniger gebeutelten Platz. Hatte sich die Faktorei rechtzeitig in Sicherheit bringen können, weil die Besatzung gewusst hatte, was geschehen würde?
Der Gedanke war unsinnig. Die Besatzung hätte eine Warnung ausgeben müssen. Doch was auch immer dahintersteckte, Rhodan würde sich später darum kümmern müssen. Wenn es ein solches Später überhaupt gab. Denn sie mochten MERLIN zwar gefunden haben, und die Faktorei mochte als zumindest etwas sicherer Hort durchgehen ... Aber noch waren sie lange nicht drinnen.
Ein Schutzschirm stand – selbstverständlich – um das riesige Gebilde, das auf den ersten Blick an eine terranische Schildkröte erinnerte. Den »Leib« der Station bildete eine Halbkugel, die im Basisbereich 2,5 Kilometer durchmaß und sich 1500 Meter hoch aufwölbte. Wo bei einer Schildkröte die Beine sitzen würden, gab es etwa einen Kilometer lange und zweihundert Meter breite, schlauchförmige Anbauten; wie Rhodan wusste, handelte es sich dabei um die Sammelsilos der Faktorei, in denen die geernteten Kristalle lagerten. »Kopf« und »Hals« waren ein fünfhundert Meter langer, flexibler Schlauch, an dessen Ende eine kugelförmige Steuer- und Verwaltungszentrale saß. Dabei handelte es sich um das auch autark manövrierbare Schiff TYCHE.
»Wir brauchen Funkkontakt!«
»Keine Chance.« Mondra Diamond klang bitter. »Sämtliche Anlagen sind außer Funktion. Kein Hyperkom. Ich könnte nicht mal ein Walkie-Talkie zum Laufen bringen.«
Also konnten sie nicht auf sich aufmerksam machen. Im Innern der Station hatte die Besatzung angesichts der Katastrophe in unmittelbarer Nähe zweifellos anderes zu tun, als auf eine Nussschale zu achten, die durch die außer Fugen geratene Atmosphäre trieb.
Rhodan entschloss sich zu einer ungewöhnlichen Art, sich bemerkbar zu machen: Er feuerte eine Salve auf MERLINS Schutzschirm.
»Radikal, aber effektiv«, kommentierte Diamond.
»Hoffen wir nur, dass sie erst nachfragen, ehe sie zurückschießen«, ergänzte Matthau.
Selbstverständlich werden sie das, dachte Rhodan, hieß sich aber zugleich einen unverbesserlichen Optimisten.
An Bord der Faktorei mussten momentan Anspannung und Entsetzen herrschen – dabei konnte leicht eins zum anderen führen und eine Kurzschlusshandlung provozieren. Wenn sich ein überlasteter, vielleicht halb panischer Waffenkommandant angegriffen fühlte und glaubte, die Ursache der Katastrophe in einem angreifenden Fremdschiff gefunden zu haben ...
Die Reaktion, die MERLINS Besatzung zeigte, überraschte Rhodan dennoch: Es geschah nichts. Niemand schien sich auch nur einen Deut darum zu scheren, dass auf den Schirm der Station gefeuert worden war.
Mondra sprach exakt das aus, was auch Rhodan durch den Kopf ging: »Was, wenn der Schutzschirm nicht nur gegen die Auswirkungen der Katastrophe gerichtet ist ... sondern auch gegen uns?«
»Man hat uns längst entdeckt, aber man will uns nicht an Bord haben?« Ein Lächeln verzog Rhodans Lippen. »In diesem Fall spielen wir ungebetene Gäste.«
Er feuerte erneut – diesmal eine stärkere Salve in exaktem Punktbeschuss – auf den Schirm. Gleichzeitig steuerte er die Jet näher heran. Er dosierte den Beschuss so genau, dass eine winzige Strukturlücke entstand, gerade groß genug, um hindurchzufliegen.
Hinter ihnen schloss sich der Schirm wieder.
»Das Auge des Sturms ist erreicht«, verkündete Rhodan trocken.
»Oder die Höhle des Löwen.« Mondra lächelte. »Aber dort fühlen wir uns ja am wohlsten, nicht wahr, Perry?«
Sie flogen dicht an MERLINS Außenhülle entlang. Das ewige Grau schien die gesamte Welt einzunehmen. Die Masse der Station war ein abgewracktes LFT-Ultraschlachtschiff, wie Rhodan wusste. Die Liga Freier Terraner hatte sämtliche Waffen sowie die überschweren Schutzschirme entfernt und den Großteil der Technologie ausgebaut, ehe sie das Rohmaterial des gewaltigen Kugelraumers weiterverkauft hatte.
In diesem Fall an das sogenannte Syndikat der Kristallfischer, das in der Jupiteratmosphäre Hyperkristalle abbaute. Eine Handelsorganisation, die aufgrund der jüngsten Umstände womöglich besondere Bedeutung erlangte.
Was genau an Bord der Faktorei vor sich ging, hatte der LFT-Resident jedoch bislang nicht herausfinden können. Er hatte Erkundigungen eingezogen, nachdem sein entfernter Verwandter Chayton dort verschwunden war. Aber die Syndikatsleute gaben sich als Geheimniskrämer. Lediglich sein alter Freund Homer G. Adams hatte ihm vor dem Flug nach Ganymed einige Informationen geben können, die nun vielleicht wichtig wurden. Wissen hatte sich in der Vergangenheit mehr als einmal als Macht erwiesen.
Den Aufbau alter Ultraschlachtschiffe kannte Rhodan im Traum. Er steuerte gezielt eine der Beibootschleusen an. Kaum waren sie heran, öffnete sich das Außenschott. »Wie freundlich«, höhnte er.
Mondra Diamond lachte. »Wahrscheinlich haben sie Angst, dass du nun auch noch ein Loch in die Hülle feuerst.«
»Nicht unberechtigt«, bestätigte Perry Rhodan trocken. »Und nun lass uns der Einladung folgen.«
Die Jet schleuste ein.
*
Den Geruch erkannte Perry Rhodan, noch ehe er die Zigarre im Mundwinkel des vollbärtigen Manns sah. Havanna. Wahrscheinlich sogar Originalware. Sollte das zutreffen, kostete der Tabak ein Vermögen.
Mit schweren Schritten kam der Fremde näher, der zusammen mit sechs Begleitern ein nicht gerade freundlich aussehendes Begrüßungskomitee bildete. In den glänzend schwarzen Haaren wimmelte es von bunten Fäden, die im Nacken zusammenliefen und dort die Haarflut zu einem Pferdeschwanz bändigten. Die Fäden bewegten sich ständig; ein verwirrender Anblick. Er trug eine rot-blaue Uniform mit silbernen Applikationen und dem Symbol des Syndikats der Kristallfischer auf dem Brustteil, einem an den Rändern unscharf gezeichneten Planeten, der von einem blitzenden Kristall umgeben war.
»Onezime Breaux«, stellte sich der Neuankömmling in herablassendem Tonfall vor.
Obwohl er offensichtlich ein Terraner und mit den üblichen Gepflogenheiten der Höflichkeit zweifellos vertraut war, streckte er die Hand nicht zur Begrüßung aus. Er ließ auch nicht erkennen, ob er Rhodan und Mondra Diamond erkannte; doch daran konnte es wohl keinen Zweifel geben. Ihre Gesichter gehörten zu den bekanntesten in der gesamten Milchstraße, vom Solsystem ganz abgesehen.
Der Resident spielte mit. »Rhodan«, sagte er. »Perry Rhodan. Danke für deine Gastfreundschaft. Dies sind meine Begleiter Mondra Diamond und Gili Saradon sowie Porcius Amurri und Dion Matthau.«
»Einige von euch kenne ich.« Breaux zog an der Zigarre und atmete eine Wolke aus, die viele wohl als aromatisch empfunden hätten. Rhodan hatte dem Tabakgenuss schon sehr lange abgeschworen.
Soso, dachte Rhodan.
Auf der Außenhülle der Micro-Jet hatten sich rötliche Tropfen abgelagert, die nach und nach verdampften. Feine Rauchfäden stiegen in die Höhe, zerkräuselten und lösten sich auf. Rhodan wies darauf. »Weißt du, worum es sich dabei handelt?«
»Reste von kondensierter Jupiteratmosphäre«, sagte Breaux beiläufig.
»Unser Schutzschirm war bis zuletzt geschlossen. Es kann nicht sein, dass ...«
»Dort draußen lief wohl kaum alles normal«, unterbrach Breaux. »Es herrschen besondere Bedingungen. Große hyperphysikalische Unruhen.«
Zischend verging ein weiterer dieser Tropfen. »Zweifellos«, gab Rhodan zu. »Was geschieht in der Atmosphäre des Planeten genau?«
Onezime Breaux trat einen Schritt vor und schaute seinem Gegenüber genau in die Augen. »Lass es mich so sagen: Armageddon kommt oder ist in vollem Gange. Oder nenn es Götterdämmerung. Falls dir beides zu mystisch und verbrämt klingt, such dir etwas anderes aus. Jedenfalls ist die Atmosphäre des Jupiters ganz gewaltig aus den Fugen geraten.«
»Weshalb?«
Ein spöttisches Lachen. »Wieso glauben Gefangene nur immer wieder, sie hätten das Recht, ständig Fragen zu stellen?«
»Gefangene?«, wunderte sich Mondra Diamond.
»Noch so eine Frage.« Breaux' rechter Mundwinkel hob sich kaum merklich. Offenbar schien er sich prächtig zu amüsieren. Er zog erneut an der Havanna. »Aber gut.« Provozierend langsam faltete er die Hände und bog die Finger durch, bis die Gelenke knackten. »In meiner Eigenschaft als Chef der SteDat von MERLIN, der Stelle für Datenbeschaffung, verhafte ich euch wegen Gefährdung der Station durch Beschuss des Schutzschirms in einer kritischen Situation. Ihr seid sicher vernünftig genug, eure SERUNS nicht zu Kampfhandlungen einzusetzen – sonst werde ich euch zwingen, sie abzulegen.« Damit wandte er sich ab, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Gleichzeitig zogen seine sechs Begleiter Waffen und richteten sie auf Rhodans Gruppe.
Mondra Diamond wollte offenbar protestieren, doch Perry Rhodan legte ihr die Hand auf die Schulter: Jetzt nicht.
»Wirklich ein gran-di-o-ser Start ins Wochenende«, sagte Dion Matthau.
Sie wurden zu fünft abgeführt.
Ein letzter rötlicher Schwaden verpuffte auf der Micro-Jet.