Читать книгу Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen - Christian Morgenstern - Страница 11
1896
ОглавлениеIn Arco:
Ich dünkte mich einer jener alten blonden Germanen, die hier einst mit Herrscherschritt durch die Straßen wanderten.
Ich sehe auf mich selbst zurück. Unzählige Gestalten huschen schemenhaft an mir vorüber.
Ausgraben will ich meiner Seele Schacht.
Daß ich nie in meinem Leben eine Schwester gehabt habe! Kein fremdes Weib kann dem Bruder ein solches Verhältnis ersetzen.
Man lasse sich durch meine Ironie nicht irreführen. Meine Ironie ist naiv wie mein Pathos. Ich vermag Unglaubliches ironisch zu sagen, ohne eine Spur von frivoler Empfindung …, ja vielleicht schrieb ich es mit ernsthaftester Miene, ohne ein andres Lachen als das eines in sich heiteren unbewegten Geistes.
16Traum
Ich fange das Raubvogelgesindel meiner häßlichen Gedanken und brate sie am Spieß, der über einem Feuer sich dreht. Ach, vergebens.
Nach einer Zoten-Posse
Je älter ich werde, einen desto tieferen, bittreren, inbrünstigeren Widerwillen empfinde ich gegen die Zote. Weniger gegen die, welche etwa von Mann zu Mann kursiert, obschon ich auch sie vollständig entbehren könnte, als gegen die öffentliche Zote von der Bühne herab. Wenn plötzlich Hunderte versammelter Menschen jede Scham voreinander verlieren und in wiehernder Freude über eine nicht mißzuverstehende Andeutung übereinstimmen, dann sinkt mir der Mensch unter das Tier und ein schmerzlicher Unwille zieht mir das Herz zusammen.
Ich habe doch für vieles Leichtsinn und nicht zum mindesten für die Liebe jeglicher Art, aber vor der berechneten Zote vergeht mir aller Übermut. Da schaue ich nur in einen Abgrund von Gemeinheit und Häßlichkeit. Wir jungen Männer, die wir etwas auf uns halten, sollten jenen Aufführungen beizuwohnen nicht als uns angemessen erachten und am wenigsten Weiber, die wir ehren, mit uns in jene niedrige und widerwärtige Sphäre hinabziehen.
Mein Skeptizismus ist vielleicht gerade das Charakteristische des philosophischen Dilettanten. Der philosophische Dilettant ist immer schnell am Ende aller Dinge, weil er nur die Ergebnisse der bereits gewonnenen Erkenntnis im Auge hat, ohne die Wege 17zu gehen, ja oft auch nur zu kennen, auf denen jene erreicht worden sind.
Jedes Jahr habe ich mindestens Eine Periode fürchterlichsten Zweifels an mir selbst. Dann lebe ich mit beständigen Todesgedanken.