Читать книгу Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen - Christian Morgenstern - Страница 17

1908

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Inhaltsverzeichnis

Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben 35oder getan. Glaubet nicht, daß in der Breite meines Lebens das liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann.

Ißt man denn an einem Apfel auch alles mit: die Kerne, das Kerngehäuse, die Schale, den Stengel? Also lernt auch mich essen und schlingt mich nicht hinunter mit alledem, was nun zwar zu mir gehört und gehörte, aber von dem ich selbst so wenig wissen will, wie ihr davon sollt wissen wollen. Laßt mein allzuvergänglich Teil ruhen und zerfallen: Dann erst liebt ihr mich wirklich, habt ihr mich wirklich verstanden.

Ihr seid von hier, ich bin von dort.

Ihr meßt jedem sein Maß Liebe zu: dem dreiviertel, dem zwei Viertel, dem ein Viertel, dem nichts. Davon verstehe ich nichts. Ich kann nicht messen und meine Seele ist immer da am eifrigsten, wo ich sehe, daß Eure sich spart und sperrt.

Ich kann mit fertigen Menschen nichts anfangen. Es gibt fertigere Menschen denn mich, sicherlich ungezählte. Aber keiner ist fertig, soll je fertig sein.

Ihr selig Blinden rings um meinen Schritt!

Manchmal meine ich, mich definieren zu sollen als einen wehr- und hilflos dem Großen preisgegebenen Menschen. Auf mich kann eine Seite Lagarde z.B. wie eine Säure wirken, die mich für den Augenblick völlig zersetzt. Oder ein Wort Nietzsches oder Goethes.

36An dieser meiner Lieblingsbank führt kein Spazierweg vorüber, geschweige denn eine Straße, — nur ein schmaler Wiesenpfad von zwei Spannen Breite. Da kommt denn auch begreiflicherweise wenig Volks vorbei, — — Einsiedler, Sonderlinge!

Ich sehe mich selbst, schreibend zur Nachtzeit — im Bett bei der Lampe, dies Büchelchen schreibend …

Und all das bin Ich.

Ich sehe.

Ich bin wie eine Uhr, die sich jeden Tag von neuem richten muß, weil sie jeden Tag immer wieder von neuem nachgeht.

Mein Traum 26./27. Nov. 08: Ich sehe etwas in der Luft wie etwa drei glänzende glasklare Äpfel an einem (unsichtbaren?) Zweige, sie bewegen sich leicht im Wind — und daran geht mir das Wesen alles Lebens auf. Ich denke an Böhme und seine Lampe. Nach jenem Vorgang — bewegtes All — erkläre ich mir, im Traum, das ganze Leben. Das Ende ist mir leider entschwunden, ich weiß nur, daß ich großer Klarheit genoß.

Ich möchte sagen, daß ich immer noch im und vom Sonnenschein meiner Kindheit lebe.

Wenn ich mir je ein Haus baue, so muß es einen Hof umschließen, in dessen Mitte ein riesiger Baum steht. Nichts ist für mich mehr Abbild der Welt und des Lebens als der Baum. Vor ihm würde ich täglich nachdenken, vor ihm und über ihn …

37Über die äußere Technik zur Hervorbringung kontemplativer Zustände mich unterrichten!

Mir den Sonntag Morgen als Posttag einrichten. Nur dann Privatkorrespondenz empfangen und beantworten. (Private Ordensregeln.)

Wie wenig reeller Wert ist oft an einer ausgedehnten ‚guten Handlung‘. Da bin ich eben bei einem Begräbnis gewesen. Aber nichts von meiner ganzen Beteiligung an diesem actus war anders als so gut wie nur äußerlich, außer der ursprünglichen spontanen Regung beim Empfang der Todesnachricht: Du willst diesem Entschlafenen die letzte Ehre erweisen.

Schließlich und endlich: was vermisse ich unter meinen Mitmenschen am meisten: Wirkliche, wirkliche Phantasie.

Heut habe ich mich zum zweiten Mal an die Erweckung des Lazarus gemacht .. Was ich hier will, ist viel tiefer als ‚Kunst‘.

Das ist es: Alle die andern beschäftigen sich mit ‚Gott‘. Ich wage zu sagen: Ich — bin — das, was wir Gott nennen — selbst. Wer das versteht, aber auch nur der, weiß, was ich meine, wenn ich von ‚meinem Ernste‘ spreche.

Meine Wendung zum Dualismus (wenn ich es so brottrocken ausdrücken will) datiert nicht etwa vom August 1908, sie hatte sich mir schon lange vorher verraten. 38Ein äußeres Merkwort bedeutete für mich auf diesem Felde eine gelegentliche Auslassung Heinrich Frickes, etwa im Vorfrühling 1907, über sich, Goethes Farbenlehre und den Dualismus. Daß ein so tiefer Mensch überall Zweiheit sah, mit derselben Kraft, mit der ich überall Einheit fühlte, konnte ich nicht mehr vergessen. Aber ich kam doch auch noch auf ganz andern Wegen zu der Formulierung der Welt als Gottes ‚Du‘.

Ich habe einmal in meinem Leben auf einen Stein gebissen. Seitdem bitte ich jedes Brot vorher: enthalte keinen Stein!

An M. a Jetzt fangen wieder diese großen herrlichen Vormittage an, an deren spätem Ende ich, an allen Fibern zitternd, den Mittagstisch aufsuche, um unwillig und abwesend mein Essen beizunehmen, das mich langsam wieder dem Gesetz der Schwere unterwirft. Du kannst Dir keinen Begriff von diesem inneren Brennen und Verzehrtwerden machen, dessen ich oft kaum gewahr bin, so daß ich jeden Augenblick und bei jeder Berührung durch irgend etwas, einen Anblick, eine Zeitungsnachricht, eine Melodie, in Tränen ausbrechen möchte.

Man wird mich einst in manchem meiner Sätze zu einem Eklektiker degradieren wollen, aber wenn ich auch in nichts Bisheriges überschritten haben sollte: Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu ich nicht durch meine ganze Natur und Entwickelung gekommen wäre und vieles fand ich und 39finde ich zu meinem Erstaunen wieder, was ich für mich allein zuvor besaß.

Da lese ich soeben am 7. August 1908 von Schleiermacher: ‚Darum lebt das ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede Individualität‘. Ist dies nicht mein Gedanke? und habe ich Schleiermacher je zuvor näher kennen gelernt?

Stufen: Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen

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