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2. Kapitel

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Alexis und Augustine haben mich bei sich behalten. Um nichts auf der Welt hätten sie sich von mir getrennt, die Guten. Sie haben sich mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer von Fontanes ›arrangiert‹: Damals war so etwas noch viel leichter als heute. Man brauchte nicht so viele Papiere zu unterzeichnen. Sie sagten mir, sie seien nun meine Pflegeeltern, aber für sie wäre ich wie ihre eigene Tochter. Das war mir sehr recht so. Nach einigen Monaten bekam ich wieder Freude am Leben und ich lernte, ohne Johannes auszukommen. Oh, gewiss, jedes Mal, wenn ich nach Fontanes kam, habe ich ihm auf dem Friedhof einen kleinen Besuch abgestattet. Aber ich litt nicht mehr physisch unter seinem Tod, wie Kinder leiden, die man ihren Müttern oder Vätern wegnimmt. Und ich war oft in Fontanes, da 1906 die Schule eröffnet wurde, und Alexis und Augustine hatten mich dort angemeldet, trotz der Probleme, die dies für ihre Herde bedeutete. Was hatte ich für ein Glück! So jung wie ich war, in dieser ländlichen Welt, wo es selten war, dass die Leute lesen und schreiben lernten. Alexis und Augustine liebten mich wie ihr eigenes Kind. Sie wollten, dass ich eine Schulbildung erhielt, damit sie stolz auf mich sein konnten.

Unsere Lehrerin hieß Madame Vieillevigne. Es war eine Frau mit weißem, gut frisiertem Haar, die stets ausgeglichen war. Sie lehrte uns lesen und schreiben, aber auch Körperhygiene; Letzteres war in dieser Gegend des Hochlandes, wo Wasser etwas Besonderes war, nicht unwichtig. Anders als es in anderen Dörfern aufgrund der Kircheninventur der Fall war, hatte sie ein eher gutes Verhältnis zu dem Pfarrer, da beide sehr weise waren. Sie stammte aus dem benachbarten L’Aveyron und hatte ihren Mann ein Jahr vor der Trennung von Kirche und Staat verloren.* Sie nahm es uns nicht übel, dass wir in die Kirche gingen, und ebenso war der Pfarrer einer von der Sorte, wie es sie heute schon lange nicht mehr gibt. Heute sind die Schulen wie auch die Kirchen in unseren Dörfern geschlossen worden, und die Kinder werden mit Schulbussen in die Nachbarorte zur Grundschule gefahren, auch läuten die Glocken kaum noch zur Stunde, nur in den Städten. So ist es eben. Es hätte keinen Sinn, sich gegen diese Veränderungen aufzulehnen. Es bleiben uns die Erinnerungen, und das ist wirklich schon eine ganze Menge. Ich entsinne mich nicht mehr des Namens unseres Pfarrers. Er war klein, hatte keine Haare auf dem Kopf und lächelte stets. Wir liebten ihn sehr, und meinen festen Glauben, der mich erfüllt, verdanke ich nur ihm, da er mit Güte und Demut zu lehren verstand. Es ist wahr: Er war die Demut selbst, behielt für sich nur das Notwendigste und gab alles, was er übrig hatte, denen, die es dringender brauchten. Er lehrte uns kindliche Gebete, die uns Vertrauen einflößten. Ich sprach sie mit Inbrunst, und noch heute habe ich sie auf der Zunge, so tiefe Spuren haben sie in meiner Seele hinterlassen. Abends kniete ich neben meinem Bett nieder, um sie mit gefalteten Händen zu sprechen:

Je me recommande bien à Dieu,

A Notre-Dame mère de Dieu,

A saint Jean, à saint Matthieu,

A saint Marc, à saint Luc,

Les quatre apôtres du bon Dieu

Qu’ils me prennent et me gardent

De tout malheur

Il pourrait bien m’arriver dans ma vie

Que je puisse L’offenser.

Ich befehle mich ganz und gar Gott an,

der heiligen Mutter Gottes,

Sankt Johannes, Sankt Matthäus,

Sankt Markus, Sankt Lukas,

den vier Aposteln des lieben Gottes,

die sich meiner annehmen und beschützen mögen

vor allem Unheil,

denn es könnte mir im Leben widerfahren,

dass ich mich gegen Ihn versündige.

Das Morgengebet lautete wie folgt:

Mon Dieu qui cette nuit

M’avez gardée au lit

De tout mal et de larmes

Faute d’autres trésors

Je Vous offre mon cœur

Tous mes biens et mon âme ...

Gott, der du diese Nacht

über meinen Schlaf gewacht und

mich vor allem Übel und vor Tränen bewahrt hast,

ich schenke Dir, mangels anderer Schätze,

mein Herz, alles was ich habe, und meine Seele ...

Die Gebete meiner Kinderzeit waren kindlich, aber schön! Wenn ich zu Ende gebetet hatte, erfüllte mich ein großer Friede, und es war, als würden sie mich gegen alle Gefahren schützen. Sie milderten meine Sorgen und Ängste und gaben mir die verloren gegangene Lebensfreude zurück. Es war selten, aber es kam doch vor, dass ich zu weinen anfing, wenn die Leute im Dorf mich »Marie des Brebis« riefen. Es nützte nichts, dass ich ihnen sagte, mein Name sei Marie Bonneval, es war, als hörten sie es nicht. Ich glaube nicht, dass dies in der Absicht geschah, mich zu verletzen, sie waren es einfach so gewohnt und es geschah ohne bösen Willen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich schließlich damit abzufinden, aber es fiel mir nicht leicht.

Sobald ich vom Dorf heraufkam, lief ich zu Augustine auf die Hochebene, um die Herde zu hüten. Sie gab mir zu essen und kehrte auf den Hof zurück. Ich blieb aber nicht lange allein. Elodie und Marguerite, die ebenfalls Schafe hüteten, leisteten mir Gesellschaft. Mit der Zeit waren sie echte Freundinnen geworden, vor allem Marguerite, die nur ein Jahr älter war als ich, mit ihren roten Haaren und sehr hellen, fast farblosen Augen. Ich hatte bislang immer nur mit älteren Menschen gelebt und genoss es nun, mit Mädchen meines Alters zusammen zu sein. Und wie gern hatte ich sie, meine neuen Freundinnen! Kaum konnte ich es erwarten, sie jeden Abend zu sehen, und donnerstags und sonntags, wenn schulfrei war, auch tagsüber. Sie brachten mir Lieder bei, die wie folgt begannen:

La tourterelle

Qui est si grande

Ne fait qu’un ou deux petits

Et moi pauvre mésangette

Si petite, si petite,

Je fais quinze ou seize petits.

Die Turteltaube,

die so groß ist,

bekommt nur ein oder zwei Junge.

Und ich armes, kleines, kleines Meislein

ich bekomme fünfzehn oder sechzehn Junge.

Ich lernte von ihnen auch jede Menge Spiele, die uns oft die Schafe vergessen ließen: Alle Vögel fliegen hoch, den Abzählvers Lasst uns im Wald spazieren gehen, Ringlein, Ringlein, du musst wandern, bei dem ein Kind herausfinden muss, wer von den anderen einen Ring in der Hand versteckt hält, Seilspringen, La main chaude, eine Art Blindekuh, und Schweinchen in der Mitte. Den Ball für dieses Spiel fertigten wir aus einer alten Socke an, und ich verstand ihn sehr viel geschickter zu werfen, als ich es heute könnte. Die guten Mädchen, sie waren mir so lieb! Elodie starb 1918 an der Spanischen Grippe und Marguerite drei Jahre darauf; ich weiß nicht mehr, an welcher Krankheit sie starb, da ich zu jener Zeit den Hof verließ. Wie fröhlich und lebenslustig sie waren. Und wie oft ließen wir uns wie Fässer die Hänge hinunterrollen, unter großem Gelächter. Häufig haben wir uns gegenseitig Disteln in die Haare geworfen oder Hagebutten in den Nacken gesteckt. Einmal wurden wir sogar von einem aufgebrachten Wildschwein überrascht, und nur unseren kleinen schnellen Beinen verdanken wir unser Leben. Aber wie sorglos waren wir und wie herrlich war diese Zeit der Freiheit auf den Weiden und in den Wäldern!

In dieser Zeit gab es im Winter viele abendliche Zusammenkünfte, und jedes religiöse Fest gab Anlass zu Fröhlichkeit. Es fing mit dem ersten Tag im neuen Jahr an: Es war Sitte, dass die Kinder von Haus zu Haus gingen, um Neujahrsgeschenke zu erbitten. Gewiss, es war nicht viel, denn nicht alles, was glänzte, war Gold in Fontanes: ein Geldstück, ein Apfel, eine Crêpe, eine Waffel; aber es kam von Herzen! Wir bedankten uns und wünschten den Leuten ein gutes neues Jahr.

Zu Maria Lichtmess backte Augustine Crêpes aus Roggenmehl, und es war Sitte, dass immer eine davon auf einem Teller auf dem Ofen gestellt wurde, damit das Geld in der Familie nicht ausging. In der Kirche kauften wir eine gesegnete Kerze. Diese nahmen wir dann mit auf den Hof, und sie sollte das Anwesen davor beschützen, dass der Blitz einschlug. Alexis war davon überzeugt, dass es an Lichtmess gefährlich sei, die Schafe auf die Weiden zu treiben. Er sagte, indem er den Zeigefinger belehrend erhob:

Per Nostro-Damo dé la condillero,

tiro loï fedos del prat, bergero!

Für unsere Liebe Frau an Lichtmess,

hole die Schafe von der Weide, Hirte.

Es war ohnehin unerheblich, da das Wetter zu dieser Jahreszeit nur selten schön war, aber nicht ein Jahr verging, ohne dass er sein Lieblingssprüchlein anbrachte.

Am 5. Februar, dem Namenstag der heiligen Agathe, läuteten die Glocken den ganzen Morgen lang, um zur Elfuhrmesse zu rufen, die zur Feier der Aussaat und der kommenden Ernte gehalten wurde. Unter keinen Umständen durfte man diese Messe verpassen, zu der die Leute hinströmten wie an Ostern. Und dann kam die Karnevalszeit, die ich mit Ungeduld erwartete. Am frühen Nachmittag verkleidete ich mich mit meinen beiden Freundinnen mit alten Lumpen und einer schon vor längerer Zeit gebastelten Maske aus Karton, mit zwei Löchern für die Augen. Die Haare mit einem Tuch verhüllt, zogen wir los ins Dorf, wo die jungen Leute eine Strohpuppe angefertigt hatten, »le pauvre Carnaval«, mit der sie singend durch die Straßen zogen:

Adiou, paouré; adiou paouré

Adiou paouré Carnobal

Dann gab es Reigen und Kreistänze ohne Ende, zu denen sich von Zeit zu Zeit Männer oder Frauen gesellten, die sehnsüchtig an ihre eigene Jugendzeit zurückdachten. Gegen 16 Uhr, nachdem viel getrunken, gesungen, gelacht worden war, wurde der arme Karneval auf dem Dorfplatz verbrannt, und man ging von Haus zu Haus, um Crêpes zu essen. Mein Gott, wie schmeckten diese Crêpes gut, man verzehrte sie am Kamin, nachdem einem Nase und Ohren bei der Kälte draußen fast abgefroren waren! Und der Glühwein erst, der die Wangen erröten und in den Augen der Jungen und Mädchen Sterne aufleuchten ließ. Was gäbe ich darum, diese Momente nur eine Stunde lang wieder zu erleben, als alte Frau, die ich mittlerweile geworden bin und die sich nicht einmal mehr ohne freundliche fremde Hilfe fortbewegen kann.

In der Fastenzeit nahmen wir auch nicht das kleinste Stück Fleisch zu uns, und Augustine achtete streng darauf. Oft kam es zu Auseinandersetzungen mit Alexis, der wie alle Männer nicht dieselben religiösen Vorstellungen hatte wie sie. Am Palmsonntag nahmen wir Buchsbaum oder Lorbeer mit zur Kirche, um sie dort segnen zu lassen. Wir hängten die Zweige über die Zimmertüren, neben das Kreuz, und beim Abendgebet wandten sich ihnen unsere Blicke zu. Ich erinnere mich, dass wir am Gründonnerstag und Karfreitag zur Kirche gingen, am Samstag vor Ostern jedoch suchten wir in Gruppen Eier auf den Bauernhöfen und den einsamen Gehöften, um beim Heimkommen Omelette zu essen. Auf dem Hin- und Rückweg sangen und schrien wir:

Lus coucous per la pescado! Lus coucous per la pescado!

Die Eier für das Omelette, die Eier für das Omelette …

Wir aßen Omelette in der Herberge bei Mutter Albertine, die ein Herz hatte, so groß wie die ganze Welt, und die nicht einmal richtig zählen konnte. Lange war sie für mich der Inbegriff der Großzügigkeit, und häufig habe ich im Verlauf meines Lebens an sie denken müssen.

Und dann kam Ostern mit dem Festmahl, bei dem man das gesegnete Brot morgens anschnitt mit den Worten:

»Gesegnetes Brot, ich nehme dich; wenn der Tod mich ereilt, sei mir Sakrament.«

Ich sehe noch Alexis, wie er mit dem Messer das Kreuz auf der Pastete zieht, während Augustine beim Beten die Lippen lautlos bewegt, und beim Zurückdenken wird mir bewusst, wie sehr doch die Religion damals das Leben der Menschen bestimmte. Heutzutage ist das alles verloren gegangen. Die Kirchen sind leer und die Leute haben den Kopf voll anderer Dinge. Vielleicht kommt es einfach nur daher, dass man heute viel mehr Angebote zur Zerstreuung hat als früher. Vielleicht aber auch, weil Geld und materieller Besitz den geistigen Reichtum verdrängt haben. Ich weiß keine Lösung dafür, aber es scheint mir, als wären die Seelen schwerfälliger geworden, und ich habe wirklich Sorge, dass sie eines Tages nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Schwingen zu erheben. Jedenfalls hatten wir damals keine Wahl, und wenn die Feste auch hauptsächlich religiöser Art waren, hätten wir nie daran gedacht, uns zu beklagen.

Im Sommer, vor Mariä Himmelfahrt, fanden jedes Jahr die Bittprozessionen statt. Wie oft bin ich da mitgelaufen, hinter dem Kinderchor und dem Pfarrer, der das Weihrauchfass trug. Es war ja nicht so, dass es viele Felder gegeben hätte, und überhaupt waren es mehr Buchweizen- als Weizenfelder, aber unser Pfarrer sah es als seine Pflicht, sie alle zu besuchen. Am Tag nach dem 15. August, an Sankt Rochus, segnete er alle Schafherden, indem er jedes Haus und jeden Bauernhof der Gemeinde aufsuchte. Bei uns auf dem Mas del Pech verzehrte er bei seinem Besuch immer ein Stück Brot mit Speck. Und er sagte zu Augustine:

»Kümmere dich gut um Marie, Augustine, Gott selbst hat sie dir geschenkt.«

Ich selber war noch zu jung und zu schüchtern, um mitzureden, aber ich war glücklich zu wissen, dass ich nicht zufällig auf dem Mas del Pech gelandet war, und ich dankte Gott, dass er eine so gute Wahl für mich getroffen hatte.

An Allerheiligen gingen wir nach der Vesper auf den Friedhof, um an den Gräbern der Verstorbenen zu beten, die vom Pfarrer vorher gesegnet worden waren. Das ergab wieder eine Gelegenheit, mit Johannes zu reden, der an einem Juniabend von mir gegangen war. Danach war ich einige Tage lang traurig, doch das Leben trug mich aufs Neue wieder mit sich fort bis zu den Adventssonntagen. In dieser Zeit wurde das Wetter schlechter, und Augustine empfahl mir, mich warm anzuziehen, mit den Worten:

A Notre-Dame des avents, pluies et vents! An Mariä Empfängnis: Regen und Wind …*

Das war mir gleich. Ich wusste, dass Weihnachten immer näher rückte, und ich freute mich schon jeden Tag auf die Mitternachtsmesse und die Feiertage danach … Aber davon habe ich schon ausführlich erzählt.

So bin ich aufgewachsen, zwischen Festen und Vespern, immer zufrieden, umgeben von meinen beiden Alten, mit unbedecktem Kopf im Wind, mit von Disteln und Brombeersträuchern zerkratzten Waden, wild wie eine Ziege und so dünn, dass man Angst bekommen konnte. Augustine verzweifelte schier, wenn sie mich so schwächlich sah, und wurde nicht müde, mir bei jeder Mittags- und Abendmahlzeit zu wiederholen:

»Iss, iss, meine Tochter, das alles kommt vom Herzen!«

Wenn mir auch aus heutiger Sicht unsere Mahlzeiten zu Anfang des Jahrhunderts sehr bescheiden vorkommen, muss ich doch sagen, dass es uns an nichts fehlte. Wir ernährten uns hauptsächlich von Suppe: eine dickflüssige Buchweizensuppe, die vorhielt und den Körper erwärmte, meist gefolgt von Speck, Käse, manchmal auch von Kartoffeln oder Ragout, sehr selten jedoch von Schweine- oder Lammfleisch. Hin und wieder gab es auch rohe Zwiebeln, zerriebenen Knoblauch, Crêpes, Maiskuchen, »cayasses« genannt, die sehr dick sein konnten. Dazu tranken wir Wein vom eigenen Weinberg, den Alexis mit viel Liebe bearbeitete und der an einem windgeschützten Hang lag. Augustine und ich verdünnten ihn mit Wasser, er nicht. Aber er trank nur wenig, und damals war dieser Wein übrigens ein reines Naturprodukt, nicht so ein Getränk, wie man es heute auf den Tischen stehen hat und das einem auf den Magen schlägt.

Oh! Der Alkohol und die Lehrer der III. Republik! Das war ihr Kreuzzug, und sie führten ihn ohne Unterlass, mit einer außergewöhnlichen Hartnäckigkeit. Auf einer großen Karte an der Wand des Klassenzimmers war eine fürchterlich rote Leber abgebildet, die alle diejenigen im Voraus abschreckte, die dem Wein sonst vielleicht zugetan gewesen wären. Madame Vieillevigne beschrieb uns die Leberschrumpfung auf so entsetzlich eindrückliche Art, dass ich eine Woche lang keinen einzigen Tropfen Wein trank. Aber sie hatte auch noch andere Verdienste, unsere wunderbare Lehrerin, insbesondere jenes, dass sie jedes Jahr zum Volksschulabschluss einige Jungen und Mädchen mitnahm, die eigentlich nur darauf aus waren, draußen im Freien zu sein und sich zu amüsieren. Sie war es also, die mich, als ich zwölf Jahre alt war, mit zwei anderen Kindern, deren Namen ich nicht mehr weiß, nach Figeac zu diesem Ereignis begleitete. Augustine hatte mir eigens für diese Gelegenheit eine neue Schürze gekauft, ebenso einen hölzernen Federhalter, auf dem der Mont Saint Michel eingraviert war. Es war zu Beginn des Sommers, als wir bei schönstem Wetter auf der Straße durch das Hochland, das von Heuschrecken übersät war, dahinfuhren. Madame Vieillevigne lenkte den Pferdekarren und gab uns ihre letzten Anweisungen:

»Überlegt gut, bevor ihr antwortet, und gebt euch Mühe beim Schreiben. Denkt an alles, was wir gelernt haben, und habt vor allem keine Angst – alle Lehrer lieben Kinder.«

Wie lang erschien mir doch der Weg! Es war mir, als würden wir Figeac nie erreichen, für mich damals eine große unbekannte Stadt. Als wir endlich auf dem Schulhof eintrafen, hatte ich solche Angst, dass ich am liebsten sofort wieder heimgefahren wäre. Madame Vieillevigne musste ihre ganze Freundlichkeit aufbieten, damit ich in das Klassenzimmer ging, in dem die einzelnen Prüfungen stattfanden. Dort waren viele Jungen und Mädchen, die ich nie gesehen hatte, was mich noch mehr einschüchterte. Und dann trat ein Mann mit einer Brille ein, der an uns alle Blätter verteilte und uns aufforderte, uns für das Diktat bereit zu machen. Ich holte meinen schönen neuen Federhalter heraus und vergaß mit der Zeit, wo ich mich befand.

Der Vormittag verging wie im Traum. Mittags, als ich fertig war, erinnerte ich mich weder an die Worte, bei denen ich gezögert hatte, noch an die Lösungen, die ich bei den Textaufgaben gefunden hatte. Unsere Lehrerin war nicht besorgt, im Gegenteil: Sie sagte mir, ich könne mich deswegen an nichts erinnern, weil ich keinerlei Schwierigkeiten begegnet sei. Wir gingen in einen kleinen Park, wo wir den Inhalt unserer Picknickkörbe miteinander teilten. Es war etwas seltsam, einfach so mit Madame Vieillevigne zu essen, da ich sie sehr bewunderte, und es kam mir vor, als wäre ich innerhalb eines Vormittags um einige Jahre älter geworden.

Während dieser kurzen Mahlzeit bemühte sie sich, uns Mut zuzusprechen und uns auf die Prüfungen am Nachmittag vorzubereiten. Als wir aufbrachen, überkam mich dieselbe Angst wie am Morgen. Bei der mündlichen Prüfung befragten mich zwei Männer mit Kinnbärten und schwarzen Anzügen. Da ich mich weigerte, ihnen zu antworten, versuchten sie, mich zu ermutigen, indem sie mir sagten, dass ich meine Rechenaufgaben richtig gelöst und nicht einen einzigen Fehler im Diktat gemacht hätte. Mein Gott! Hatte ich eine Angst! Madame Vieillevigne musste sich zu ihnen setzen, damit ich mich traute, auf ihre Fragen zu antworten. Das Schlimmste war, vor diesen Herren die Marseillaise singen zu müssen. Ich sehe ihre ernsten und autoritären Gesichter noch heute vor mir.

Endlich durfte ich auf den Schulhof gehen und konnte mich mit meinen zwei Kameraden in eine Ecke zurückziehen. Eine Stunde später kam Madame Vieillevigne mit einem Lächeln auf den Lippen dazu: Wir hatten alle drei bestanden. Was für eine Freude und Erleichterung! Auf dem Rückweg waren wir so froh, dass wir bis Fontanes ununterbrochen ein Lied nach dem anderen sangen, und unsere wunderbare Lehrerin stimmte mit ein.

So habe ich das einzige Diplom erhalten, das ich besitze und das Alexis und Augustine mit großer Freude erfüllte. Madame Vieillevigne hat mich selbst auf den Hof zurück begleitet, und sie blieb zum Abendessen bei uns. Ich erinnere mich noch an die vor Stolz leuchtenden Augen von Alexis und Augustine, die mir noch am selben Abend vor dem Zubettgehen einen Louis d’or schenkten, den ich bis heute aufbewahrt habe. Er ist übrigens alles, was mir von den beiden Alten geblieben ist, die mich so sehr liebten, dass sie mir die Schulbildung ermöglichten, obwohl sie meine Arbeitskraft so sehr gebraucht hätten. Sie haben mich gelehrt, Glück zu empfinden, indem man anderen gibt, ohne zu erwarten, dass man im Gegenzug etwas erhält.

Dieser unvergessliche Sommer ging vorbei, wie auch die folgenden Tage und Monate. Je größer ich wurde, umso älter wurden Augustine und Alexis. Ihnen fehlte mehr und mehr die Kraft für die schwersten Tätigkeiten wie die Weinernte, die Schafschur oder die Buchweizenernte. Sie entschlossen sich also, einen jungen Knecht als Hilfe einzustellen. Das muss 1912 oder 1913 gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr genau, aber was ich noch weiß, ist die Tatsache, dass er im Frühling zu uns kam, an einem Abend, von seinem Vater begleitet, der in Couzou lebte, einem Dorf zwischen Calès und Rocamadour. Als er vom Karren stieg, fielen mir sofort seine dichten Haare auf, seine großen schwarzen Augen und seine scheue und furchtsame Art, mit der er die Menschen anschaute. Es war Sitte, dass die armen Familien ihre Kinder auf den Gehöften und in den Bauernhäusern unterbrachten, wo sie auf jeden Fall genug zu essen bekamen. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich keine Ahnung, dass er von seinem Vater geschlagen wurde. Er hat es mir erst sehr viel später anvertraut, als er schon mein Mann war und der Vater meiner drei Kinder. Er hieß Florentin. Ich war erst zwölf oder dreizehn Jahre alt, aber ich kann doch sagen, dass ich ihn, ohne es selbst zu wissen, schon damals liebte, in dem Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah. Obwohl er mich an diesem ersten Tag kaum anschaute, nicht einmal beim Abendessen, bei dem Alexis und Augustine ihm freundlich erklärten, was er zu tun habe, wo er schlafen solle und wer ich sei, die Kleine, die froh war, ein wenig Jugend um sich zu haben.

Am nächsten Morgen erzählte ich Elodie und Marguerite voller Stolz, was sich am Vorabend bei uns auf dem Mas del Pech ereignet hatte. Ich merkte sehr wohl, dass sie ein wenig neidisch waren, denn es geschah nicht besonders viel bei uns auf dem Hochland. Ich denke auch, dass ich ein bisschen übertrieb, als ich Florentin als einen sehr guten Freund bezeichnete. In Wahrheit war unser Kontakt am Anfang eher etwas schwierig. Man hatte den Eindruck, dass er gegenüber jedem misstrauisch war, selbst mir gegenüber, die ich ihm nun wirklich gar nichts Übles wollte.

Es waren die Schafe, die uns näher zusammenbrachten: Da er mit ihnen zusammen im Schafstall schlief, erfuhr ich von ihm am nächsten Morgen immer das Neueste über sie. Wenn ein Schaf zum Beispiel hinkte oder im Verlauf des Tages niederkommen würde. Er erzählte es mir in einem so gewichtigen Ton, dass mir bewusst wurde, wie sehr er die Tiere liebte. Ich hatte schon gelernt, dass die Menschen, die wirklich einen Bezug zu Tieren hatten und sie verstanden, im Allgemeinen vertrauenswürdige Leute waren. Auch ich habe mich Florentin auf natürliche Art und Weise zugewandt, ohne Misstrauen. Er zeigte mir, wie man Wunden behandelt, z. B. einen Spinnenbiss, den man mit Hilfe eines Messers ein wenig ausbluten ließ und dann durch ein Pflaster aus Knoblauch oder Schafgarbe schützte. Er erklärte mir, dass man den Schafen im Juli und August genügend Salz geben müsse. Im Falle eines Gewitters war es wichtig, Schutz in einer Schlucht zu suchen und einen Platz zu finden, den der Hirtenhund akzeptierte und wo er in meiner Nähe blieb, da Tiere viel besser als Menschen instinktiv spüren, wo der Blitz einschlagen wird. Er zeigte mir die kranken Tiere oder die trächtigen, bei denen die Wolle herunterhing oder das Rückgrat zu flach war – daran konnte man erkennen, dass die Frucht nicht in Ordnung war – sowie die, denen Zähne fehlten und deshalb auf dem nächsten Markt verkauft werden müssten. Er berichtete mir aus seinem Leben in Couzou als kleiner Hirte, aber er trauerte dem in keiner Weise nach. Nachdem die Lämmer geboren worden waren, stand er nachts auf, um nach ihnen zu schauen; am nächsten Morgen zeigte er mir die schwächlichen Tiere und versicherte mir, dass der nächste Winter hart sein würde, wenn viele männliche Tiere zur Welt kämen, da die Vorsehung der Natur bei anhaltendem Schnee immer die robusten Tiere durchkommen ließ. Ob es wahr ist? Ich habe es im weiteren Verlauf nicht überprüft, ich glaube einfach, dass die Natur ihre Kinder beschützt, auf sehr viel weisere Art, als wir es zu erklären vermögen.

Alexis und Augustine hatten die besondere Beziehung, die uns miteinander verband, bemerkt. Wie hätte es auch anders sein können? Sie waren aber deswegen nicht beunruhigt, da sie Florentin schätzten und ihm vertrauten. Was sie viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass ich seit meinem Schulabschluss und meiner Firmung nie wieder im Dorf gewesen war, nicht einmal am Sonntag. Der Pfarrer wunderte sich, mich weder zur Messe noch bei den Vespern zu sehen, und machte ihnen Vorwürfe.

»Sag mal, Kleine«, sagte Augustine zu mir, »wie wäre es, wenn du den Pfarrer mal besuchen würdest?«

Ich ging hin und versprach, alles zu tun, was sie von mir erwartete, aber auf dem Heimweg rannte ich so schnell ich konnte. Zusammen mit Florentin half ich Alexis, der zu der Zeit sehr schnell müde wurde. Er hatte es mit dem Herzen, sprach aber nicht darüber. Man glaubt oft, dass die Menschen damals nicht so alt wurden wie heute, aber das stimmte nicht immer, vor allem galt es nicht für diejenigen, die gesund lebten, viel an der frischen Luft waren und weniger aßen, als man es heute tut.

Augustine war wachsamer und ging mehrere Male in der Woche ins Dorf. Ich denke, dass sie mit dem Pfarrer über meine Beziehung zu Florentin gesprochen hat, da er mir eines Nachmittags nach der Beichte einige Fragen stellte. Wenn ich mich auch nicht mehr an den Namen des guten Pfarrers erinnere, so doch umso besser an sein rundliches Gesicht und die kleine Brille, hinter der Augen voller Güte leuchteten. Bei uns auf dem Land wachten die Pfarrer sehr gewissenhaft über die Einhaltung der Moral. So auch unser Pfarrer, doch war er in erster Linie ein guter und großzügiger Mensch. Noch heute bin ich ihm dankbar dafür, dass er nichts Schlechtes sah, wo nichts war, und dass er mein Vertrauen und meine kindliche Unbefangenheit nicht verletzt hat. Auf diese Weise konnte ich sie mir, wenigstens teilweise, bewahren, mein ganzes Leben lang. Was ist unser Leben ohne Vertrauen und Liebe? Nichts, oder nicht viel; heute kann ich es viel besser ermessen als damals, zu der Zeit, als ich voller Glück die Liebe entdeckte und niemand aus meiner Umgebung sie in irgendeiner Weise zu trüben versuchte.

So vergingen diese Jahre, an die ich die schönsten, mit großer Sehnsucht verbundenen Erinnerungen habe. Oh, ich weiß wohl, dass ich großes Glück hatte und dass das Leben der Kinder, die in Höfen oder Bauernhäusern untergebracht wurden, meinem kaum glich, aber so bin ich eben: Ich blicke nur auf das Gute in meinem Leben zurück, den anderen Teil habe ich vergessen. Oder ich habe es zumindest versucht. Und Sie werden noch sehen, dass mich Sorgen und Leid keineswegs verschont haben. Ich hatte nie eine Tendenz zum Unglück, und als es an meine Tür klopfte, tat ich alles, um es zu verscheuchen. Deshalb war mein Leben schön. Auch im Alter habe ich das Lächeln nicht verloren, trotz der körperlichen Schwächen, damit meine Enkel mich nicht vergessen, wenn ich diese Erde verlassen habe, die ich heute noch auf dieselbe Art und mit derselben Kraft liebe wie damals, als ich jung war.

* Das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich wurde von dem kirchenfeindlichen Parlament der III. Republik am 3. Juli 1904 gegen den Widerstand von Papst Pius X. verabschiedet. In etwa zwanzig Departements kam es bei der Einführung zu Ausschreitungen.

* Mariä Empfängnis wird am 8. Dezember gefeiert.

Marie des Brebis

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