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3. Kapitel

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Wie könnte ich jemals diesen Sommertag des Jahres 1914 vergessen, als die Sturmglocken von allen Kirchtürmen der Umgebung läuteten? Ich war mit Marguerite in der Buchsbaumschlucht und wir saßen am Fuße eines Wacholderbuschs. Wir versuchten gerade, aus dem Fell ihres Hundes Kletten zu entfernen. Sehen Sie, wie genau ich mich erinnere! Zuerst läuteten die Glocken von Fontanes, dann die von Caniac-du-Causse, von Labastide-Murat, von Montfaucon, von überallher. Welche Angst überfiel uns! Anfangs dachten wir an ein Feuer und wir rannten auf den Bergrücken, um nach dem Rauch zu suchen, aber der Himmel war nur blau, blau so weit das Auge reichte, es war ein friedliches und lichtvolles Blau, wie es nur der Himmel über den Kalkbergen haben kann. Von dort oben erschien uns das Läuten noch schrecklicher als in der Schlucht. Da wir näher am Dorf als am Gehöft waren, ließ ich die Herde in Marguerites Obhut und rannte nach Fontanes, mit rasendem Herzen und dem furchterregenden Läuten in den Ohren. Bevor ich dort ankam, begegnete ich einem alten Mann, der auf einer Mauer aus Schieferplatten saß. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt, so wie Augustine und Alexis es immer taten, abends, wenn sie sehr müde waren. Ich fragte ihn:

»Sagen Sie mir, Monsieur, wo ist das Feuer?«

Er hob langsam den Kopf und ich sah, dass er weinte. Es war mir sehr eigenartig dabei zumute, einen Mann weinen zu sehen; ich dachte, dass nur Kinder das täten. Ich glaube, es war der Tischler von Fontanes, ein Alter, der in einem Häuschen auf dem Dorfplatz wohnte. Nie habe ich seine hellen Augen vergessen, die einem überströmenden Fluss glichen.

»Es brennt nicht, Kleine«, sagte er mir, »es ist Krieg.«

Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, verstand aber wohl, dass es etwas Furchtbares war. Einen Augenblick hielt ich inne, ohne zu wissen, was ich tun sollte, doch dann rannte ich los zum Dorfplatz, auf dem ich schon von Weitem eine Menschenmenge erblickte. Dort standen Frauen, die jammerten und sich mit den Schürzen die Augen trockneten, Alte, die leise miteinander diskutierten, und Kinder, die wie ich von einem Grüppchen zum anderen liefen, ohne etwas zu begreifen. Die Männer, die auf den Feldern arbeiteten, kamen nach und nach außer Atem herbei gerannt und blieben wie erschlagen von der Neuigkeit mit schlenkernden Armen stehen. Es gab natürlich einige, die gestikulierten und sich aufspielten, aber es waren eher wenige und man bemerkte gleich, dass sie sich ein wenig dazu zwangen.

Der Preis, den ich und die Meinen später durch den Krieg von 1940 zahlten, berechtigt mich zu sagen, dass es nichts Absurderes auf der Welt gibt als Männer, die sich entschließen, gegen andere zu kämpfen, aus Gründen, die sie selbst nicht einmal kennen. Und wenn ich es auch damals nicht beurteilen konnte, erinnere ich mich doch daran, dass ich den Pfarrer, der herankam, fragte:

»Warum?«

Er war nicht in der Lage, mir zu antworten, ebenso wie Alexis und Augustine abends, und sagte nur:

»Es ist ein großes Unglück, Marie, wir werden sehr viel beten müssen.«

Dann lief ich zurück in die Schlucht, wo Marguerite schon voller Sorge auf mich wartete. Als ich ihr sagte, dass Krieg sei, fragte sie, gegen wen, und mir wurde klar, dass ich nicht einmal das wusste. Ich hatte nicht daran gedacht, im Dorf danach zu fragen. Wir sprachen ein wenig miteinander, doch dann kehrten wir früher heim als sonst, weil wir unbedingt erfahren wollten, wie unsere Familien auf dieses Ereignis reagierten. Während des gesamten Rückwegs in der friedlichen und warmen Sommerluft fragte ich mich, was sich wohl in unserem Leben verändern würde, aber nicht einen Moment lang dachte ich an eine mögliche Einberufung Florentins. Für mich war er noch ein Kind, oder jedenfalls fast, obwohl er bald ein Mann sein würde. Abends am Tisch war ich überhaupt nicht beunruhigt, vor allem da Alexis uns versicherte, dass der Krieg keine drei Monate dauern werde. Wir Armen! Niemals hätte ich vermutet, dass die kommenden vier Jahre sich so tief in meine Erinnerung eingraben würden.

Es war noch nicht einmal ein Monat vorbei, da fing der Bürgermeister schon an, mit der Trikolore über der Brust seine unheilvollen Besuche im Dorf zu machen. Im Dezember befand ich mich gerade auf dem Dorfplatz, als er zu Jeanne H. ging, einer armen Frau, die schon ihren Mann zwei Jahre zuvor verloren hatte. Ihr Sohn Marcel war im September eingezogen worden. Nie habe ich ihren Schrei vergessen, den verzweifelten Schrei einer Frau, der es die Seele zerreißt, wie ihn nur Frauen ausstoßen, die ihre Kinder verlieren. Und genau dieser Schrei hat mich jede Nacht geweckt, in der Woche, die diesem traurigen Tag folgte. Auf den Straßen und auf dem Dorfplatz waren nur noch Frauen, Kinder und alte Menschen. Man hörte weder das Klingen des Ambosses beim Schmied noch die Rufe des Hufschmieds. Armes Dorf! Man hatte den Eindruck, dass es seine Seele verloren hätte und wie auf Zehenspitzen dahinlebte, geräuschlos, in der Furcht, seine Toten zu wecken. Ich ging nicht mehr hin, nur wenn Augustine es von mir verlangte, aber dann hatte ich solche Angst, dass ich so schnell wie möglich machte, dass ich wieder wegkam.

Die seltenen Neuigkeiten, die wir von den zwei Alten zu hören bekamen, die die Zeitung abonniert hatten, waren nicht gut. Der Krieg dauerte an, blieb in den Gräben stecken, aus denen die Männer zurückkamen, nicht wiederzuerkennen, verstörte Überlebende, die wegen der seltenen Heimaturlaube fast verrückt wurden. Alexis wusste nichts mehr zu sagen. Er verstand nichts mehr von dem, was dort oben im Norden vor sich ging, so weit weg von unserem Quercy. Ich arme Kleine fragte jeden Abend vor dem Schlafengehen:

»Er geht nicht fort, unser Florentin?«

»Aber nein«, antwortete Augustine, »das alles wird längst vorbei sein, bis er alt genug ist.«

1915, 1916 … Zwei Jahre vergeblicher Hoffnung, aber mit katastrophalen Neuigkeiten. Die Monate vergingen, und gleichzeitig kroch in mir die Angst hoch, und ich schlief nachts nicht mehr. Das Leben hatte all seinen Reiz verloren, und der Himmel, der doch jeden Sommer blau war, schien mir mit Gewittern geladen. Es gab keine Feste mehr, keine fröhlichen Zusammenkünfte und Abende, die Leute schienen auf den Tod zu warten. 1917, ein schreckliches Jahr, das Jahr der Schlacht am »Chemin des Dames«* und des Aufruhrs. Kaum war es vorbei, erhielt Florentin seinen Einberufungsbescheid. Am Abend vor seinem Weggang bin ich lange mit ihm im Schafstall zusammen gewesen. Wir saßen nebeneinander auf dem Stroh, und wir trauten uns nicht, uns bei den Händen zu fassen. Ich war 16 Jahre alt und hatte das Gefühl, als risse man mir einen Teil meines Herzens heraus. Ob er es in diesem Moment begriff? Zweifellos, denn er sagte mir in der für ihn so charakteristischen schlichten Art:

»Wenn ich zurückkomme, Marie, und wenn du es willst, nehme ich dich zur Frau.«

Es war nicht Sitte, dass ein Mädchen in meinem jugendlichen Alter darauf antwortete. Ich hätte die Augen niederschlagen müssen und ihm sagen, dass eine solche Entscheidung bei Alexis und Augustine läge, doch ich konnte es nicht. Ich habe ihm einfach geantwortet:

»Florentin, ich werde jeden Tag auf dich warten.«

Diese Zusicherung genügte uns. Alles andere, Schönere, Bedeutendere lag in seinen und meinen Augen. Am nächsten Morgen standen wir beide sehr früh auf. Ich wollte ihn ein Stück auf seinem Weg begleiten. Als wir losgingen, brach der Tag an. Es war ein schöner Herbstmorgen und die Eichenblätter fingen gerade an, sich kupferrot zu färben. Über den Hügelketten schimmerte der Himmel rosa wie ein großer See, auf den Tau gefallen war.

»Geh nicht zu weit mit, Kleine«, hatte Augustine mir gesagt.

Gern wäre ich nicht so weit mitgegangen, aber ich konnte nicht anders. Alle zehn Meter sagte ich mir: »Dahinten bei dem Wacholderbusch … vor dieser Schieferplatte … bei dieser Weide werde ich umkehren.« Und ich kehrte doch nicht um, im Gegenteil, je weiter ich lief, desto mehr liefen mir die Tränen über die Wangen. Florentin weinte nicht, aber er wagte nicht, mich anzuschauen.

»Sei tapfer, Marie«, sagte er mit ruhiger, Mut einflößender Stimme. Gern wäre ich tapfer gewesen, aber das überstieg meine Kräfte. In meiner Unschuld wusste ich, dass er für mich so unentbehrlich geworden war wie die frische Luft der Hügel, und dass ich ohne ihn verloren wäre. Schließlich sagte er:

»Wenn du mir ein wenig helfen willst, Marie, kehre um. Es kostet mich zu viel Kraft, dich weinen zu sehen.«

Ich hätte es gern gehabt, dass er mich auf die Stirn oder auf die Wange geküsst hätte, doch er wollte nicht. Oder er konnte es einfach nicht. Damals respektierten die Jungen die Mädchen sehr viel mehr als heute, und bevor man zum Standesamt ging, hatte man Zeit, sich darüber klar zu werden, ob man wirklich füreinander geschaffen war.

An diesem Morgen, als wir uns so Aug’ in Auge gegenüberstanden, spürten wir dies schon, und wir brachten es nicht übers Herz, uns zu trennen. Er wischte mir die Tränen aus den Augen und sagte:

»Verzehre dich nicht zu sehr, Marie, ich werde wiederkommen.«

Dann drehte er sich um und ging langsam auf dem Pfad dahin, der zu einer Gariotte mit einem Schieferdach hinaufführte. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn heute auf diesem sonnenüberfluteten Weg, und mein Herz zieht sich wie damals zusammen. Mehrere Male während seiner Abwesenheit bin ich dorthin zurückgekehrt, und der Ort hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben, wie es alle Orte tun, an denen sich die großen Ereignisse unseres Lebens zutragen.

An jenem Morgen kehrte ich langsamen Schrittes heim, unglücklich wie ein verlassenes Kind, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Zum Glück kamen Augustine und Alexis mir entgegen, und ich weiß nicht, ob ich sonst die Kraft gehabt hätte, allein zu unserem Hof hinauf zu gelangen. Sie haben in einer Weise mit mir geredet, wie man mit kranken Lämmern spricht, und mir durch ihre Liebe geholfen, diese schwere Situation durchzustehen. Von diesem Moment an habe ich mich in mich selbst zurückgezogen, wie eine Pflanze, die ohne Wasser auskommen muss. Nur Gottes Schöpfung hat mich gerettet; damit meine ich die Welt, mit der er uns beschenkt hat: die Blumen, die Bäume, die Tiere und die Erde. Zu dieser Zeit hatten die Menschen ihr noch nicht so zugesetzt wie heute. Vor allem dort oben auf den Hügeln, von wo aus man bei gutem Wetter die Berge der Auvergne erblicken konnte, in einem Umkreis von hundert Kilometern. Es geschah mir also, dass ich stundenlang in der Sonne lag, die Wange an einen warmen Stein gelehnt, wie eine Eidechse. Die Wärme, die der Kalkstein verströmt, ist sanft und lebendig und gleicht der Hand Gottes. Und diese Wärme, die mir der Stein gab, spürte ich wie einen Lebensquell in mir fließen, die mich stärkte. Stunde um Stunde betrachtete ich das Schöllkraut, die gesegneten Disteln, die Butterblumen, so lange, bis ich erfasste, was in ihnen vorging und sie so liebte wie die Menschen. Einfach weil ich Leben um mich herum brauchte, um selbst am Leben zu bleiben. Ich legte mich mitten in die Schafherde, beobachtete die in meinen Armen gefangenen Lämmer, ich atmete den Duft der Wolle ein, ich trank Milch direkt am Euter, ich ließ mich von ihrem Geruch so ganz berauschen … Oh! Wenn ich das so erzähle, mag es ein wenig verrückt klingen, aber haben Sie keine Angst, ich bin noch ganz bei Sinnen! Ich habe immer gewusst, dass die Pflanzen, die Tiere und selbst die Steine denselben Ursprung haben wie wir. Wir ähneln uns alle und wir sind alle Teil derselben Schöpfung. Auch glaube ich, dass der gute Gott ihnen sehr viel näher ist als uns, weil er das Zerbrechliche, Schutzlose begünstigt, das mehr der Liebe bedarf. Darum konnte ich nur inmitten von Gottes Schöpfung, da, wo sie am wärmsten ist, die Kraft finden, zu warten und zu hoffen.

Auch die Briefe haben mir geholfen, aber sie waren nicht sehr zahlreich – drei oder vier im Ganzen, bis zum 11. November 1918, drei Briefe waren von einem Soldaten geschrieben, dem das Schreiben leichter fiel als Florentin, aber ich nahm ihre Zeilen in mich auf wie Geschenke des Himmels. Später, sehr viel später, eines Morgens, läuteten die Glocken vom Kirchturm in Fontanes, und die anderen stimmten ein. Oh! Wie bin ich aus der Schlucht heraufgerannt, wo ich die Hoffnung doch schon fast aufgegeben hatte. Auf dem Dorfplatz lachten alle. Gewiss war es kein Fest, aber die Leute waren zutiefst erleichtert: Endlich Frieden! Endlich zitterte man nicht mehr, wenn man den Bürgermeister über den Dorfplatz gehen sah, endlich würden die Soldaten zurückkehren! Ich vergaß meine Schafherde in der Schlucht völlig und rannte hinauf zum Hof, um Augustine und Alexis die Neuigkeit zu verkünden. Auf dem Weg traf ich auf Augustine, die Alexis entgegenging, der im Dorf Einkäufe erledigte.

»Es ist vorbei! Es ist vorbei!«, sagte ich und umarmte sie.

Wie haben wir beide geweint an diesem kalten Novembertag, auf dem Weg zum Hof. Aber es war nicht nur aus Freude und Glück. Während wir auf Alexis warteten, bereiteten wir ein echtes Festmahl vor, indem wir das Pökelfleisch aus dem Vorratsfass holten. Ich werde nie seinen wunderbaren Geschmack an jenem Tag vergessen, nie den des Kaffees, den Alexis mitbrachte. Der Krieg war zu Ende; Florentin würde heimkommen; unser Leben würde wieder hell werden. Ich war so glücklich, dass ich die Schafe darüber vergessen hatte. Ich lief in die Schlucht, wo ich hoffte, sie in der Nähe der Weide von La Pierre-Levade zu finden, da ich sie in diese Richtung getrieben hatte. Sie waren dort, aber nicht alle. Glücklicherweise kannte ich meine Tiere so gut, dass ich innerhalb einer Stunde meine Herde wieder beisammen hatte. Es war übrigens eines der letzten Male, dass sie draußen weideten. Sie würden danach bis zum Frühling im Schafstall bleiben, es sei denn, die Sonne würde nach Sankt Martin noch am frühen Nachmittag scheinen.

Da ich keine Briefe von Florentin erhielt, hatte ich Angst, dass er noch in den letzten Tagen des Krieges verletzt worden sei. Ich musste noch fast einen Monat warten, bevor ich ihn wiedersah. Er kam am 9. Dezember bei Einbruch der Dunkelheit in Eiseskälte zurück. Der Hund hatte nicht gebellt. Sobald es an der Tür klopfte, wusste ich, dass er es war. Er hat uns alle umarmt, und für mich war es das erste Mal, dass er das tat. Dann setzte er sich an den Tisch und verschlang alles, was wir ihm vorsetzten. Es bereitete uns einerseits Freude, ihn so essen zu sehen, andererseits machte es uns aber auch Angst. Als er den Kopf hob, wurde mir bewusst, wie sehr er sich verändert hatte. Das Licht in seinen Augen war erloschen, und es war fast, als nähme er uns gar nicht wahr. Auf unsere Fragen antwortete er nur:

»Ché chauvio, paouré moundo!« – »Wenn ihr nur wüsstet, arme Welt!«

Und so blieb es lange Zeit, wie an diesem Abend, so auch an den folgenden. Er konnte nichts als diese Worte sagen und schien seinen schrecklichen Gedanken weiter nachzuhängen. Wir haben verstanden, dass man ihm Zeit lassen musste, sich wieder einzugewöhnen, und wenn wir auch unglücklich waren, haben wir uns doch dazu gezwungen, es ihm nicht zu zeigen.

Im darauf folgenden Frühling kam er eines Morgens bei der ersten Aprilsonne zu mir auf die Hochebene. Es war an einem solchen Tag, als das Leben wieder seine Rechte geltend machte und die Natur aus einem langen Schlaf erwachte, dass er die Worte finden konnte, mir von seinen Erlebnissen zu erzählen und so Heilung erfuhr. Er erzählte mir von den Schützengräben, in denen die Männer dahinvegetierten, während sie darauf warteten zu kämpfen, die Stimmen Einzelner, die sich alle fünfzig Meter erhoben und nach Frieden riefen. Er berichtete vom Hunger und dem Durst der Soldaten, die wieder wie Kinder wurden, von den Kämpfen im Wald von Villers-Cotterêts unter dem Geschützfeuer der deutschen Offensive. Er gestand mir, wie er während eines Angriffs im Nahkampf auf dem »Chemin des Dames« mit leeren Händen floh und sich nach dem Durchbruch seines Bataillons mitten in den deutschen Linien befand, ohne Waffen, aber am Leben. Als Gefangener wurde er von der feindlichen Armee beim Rückzug zurückgelassen. An jenem Morgen hatte er geweint und wollte sterben, obwohl er wusste, dass ich auf ihn wartete, auf dem Hof, der uns so lieb und teuer war, unter der Sonne der Causse. Ich erklärte ihm, dass er ganz sicher der Mann sei, auf den ich gewartet hatte: ein Mann, unfähig zu töten, der an das Heilige im Leben glaubte und deshalb am Leben geblieben war, Tag für Tag beschützt vom lieben Gott.

Seit diesem Frühling 1919 fand er nach und nach das Lächeln wieder und ich das Glück. Im Mai sagte er mir, dass es Zeit wäre, ans Heiraten zu denken, wenn ich immer noch wollte. Ich wollte es nicht nur, ich konnte an nichts anderes mehr denken! Alexis und Augustine setzten das Datum auf einen Septembertag fest, das heißt, zu meinem 18. Geburtstag. Ich musste mich also noch den ganzen Sommer lang gedulden, aber ich hatte schon so lange gewartet, dass ich nicht allzu sehr enttäuscht war. Im Juli sind Augustine und Alexis zum Notar nach Figeac gegangen, um eine Urkunde zu unterzeichnen, durch die sie Florentin und mich als Erben einsetzten. Das hatten wir nicht erwartet und wollten es nicht annehmen, doch sie bestanden darauf, da wir die einzigen Menschen seien, die ihnen nahestanden und sie mittlerweile zu alt, um sich ausreichend um den Hof zu kümmern. Wir wussten nicht, wie wir ihnen danken sollten, und so gaben wir uns große Mühe, ihnen durch unsere Arbeit einen glücklichen Lebensabend zu ermöglichen, denn die Guten waren wirklich schon sehr alt und brauchten unsere Hilfe.

Ich erinnere mich an diesen Sommer als eine der glücklichsten Zeiten in meinem Leben. Der Himmel war unendlich blau, das Leben lächelte mir zu und Florentin war in meiner Nähe und lernte wieder, Glück und Freude zu empfinden. Wie schön war das! Jeder sagte, dass es nie wieder Krieg geben würde, dass es zu viele Tote in den vergangenen vier Kriegsjahren gegeben hätte, dass sich die Länder nie wieder zu solchen Verrücktheiten hinreißen lassen würden. Natürlich glaubte ich es, weil ich immer an das Wunderbare geglaubt hatte, auch wenn es nicht sicher war, dass es eintreffen würde. Es liegt in meiner Natur, und es ist zweifellos genau das, was mich so alt werden und mich mein Lächeln nie verlieren ließ.

Unsere Hochzeit fand an einem Samstag statt. Mein Gott! Wenn ich daran zurückdenke. Ich hatte ein hübsches kurzes blaues Kleid aus Merinostoff an, Schleifen in den Haaren und Lackschuhe, Florentin trug einen schönen schwarzen Samtanzug mit einem Band unter seinem Hemdkragen, das wie eine Krawatte gebunden war. Am Arm von Alexis schritt ich hinter dem Dorfpfeifer, dem pifraïre, her, am Anfang des Zuges, der sich auf den Weg ins Dorf machte. Wir hatten ungefähr zwanzig geladene Gäste. Florentins Vater war 1917 gestorben, aber wir hatten seine Mutter eingeladen, die nun in Calès lebte, und seine Schwester Leonie, die noch immer lebt, ich glaube, in Paris. Mein zukünftiger Mann ging also am Arm seiner Mutter am Ende des Zuges, wie es die Tradition wollte, und hin und wieder drehte ich mich um, um ihn anzuschauen! Wie schön er war! Dunkel, groß und aufrecht, er war wie die typischen Männer des Hochlandes, die eine stolze Eleganz ausstrahlen wie die Spanier. Und oft, wenn ich ihn betrachtete, ohne dass er sich dessen bewusst war, habe ich seither gedacht, wie sehr der Menschenschlag des Quercy doch durch die sarazenische Besatzung im Mittelalter geprägt worden ist. Aber zu jener Zeit wusste ich das alles nicht, und es genügte mir, mich auf dem steinigen Weg umzuschauen, um zu spüren, dass ich großes Glück mit ihm hatte.

Der Hochzeitszug setzte sich kaum aus Familienmitgliedern zusammen, vor allem waren es Freunde von Alexis und Augustine, die sich freuten, an einer der ersten Hochzeiten nach dem Krieg teilzunehmen. Wir brauchten gut eine halbe Stunde, um Fontanes zu erreichen, aber das kam nur, weil die jungen Leute immer wieder anhielten, um zu tanzen. Ich war ganz schön stolz, bei goldenem Sonnenschein in Fontanes anzukommen. Das ganze Dorf war erschienen, um die Braut zu bewundern und sich mitzufreuen, jeder auf seine Weise. Der alte Pfarrer, der so gut zu mir gewesen war, erwartete uns am Eingangstor. Nach einigen Begrüßungsworten traten wir in die kleine Kirche ein, in der ich so oft als Kind gekniet hatte, um meine Gebete zu lernen. Es war mir, als würde ich wieder ganz klein, auch ganz eingeschüchtert in Gegenwart so vieler Menschen – ich, die es so gewohnt war, allein zu leben, indem ich meine Schafe hütete. Und während der Pfarrer die Messe zu lesen begann, dachte ich, dass ich Glück hatte, diese Momente erleben zu dürfen, denn wie viele junge Frauen trauerten ihren Verlobten oder Ehemännern nach. Florentin sah mich nicht an. Er hielt sich gerade, wie es seine Gewohnheit war, und ich spürte, dass er stolz war, mich an seiner Seite zu haben. Es schien mir, als würde die Messe nie enden, umso mehr, als der Pfarrer in seiner Predigt mit großer Freundlichkeit von uns sprach; er erinnerte sich, wie er mich auf Augustines Bitte hin getauft hatte und dass ich ein mutiges und selbstloses Mädchen gewesen sei. Bei so vielen Komplimenten wäre ich ohne die Gegenwart von Florentin sicherlich geflüchtet. Glücklicherweise kam dann bald der Moment, den ich so sehr herbeigesehnt hatte. Als Florentin mir den Ring auf meinen Finger schob, erklang das Glockenspiel für besondere Gelegenheiten in der kleinen erleuchteten Kirche. Augustine hatte mich in dem Brauch unterwiesen, nach welchem die junge Braut verhindern soll, dass der Ring über das zweite Fingerglied rutschte, wenn sie wünschte, dass der Mann sie mit respektvoller Autorität führte. Ich habe also selber den Ring weitergeschoben, was zur Folge hatte, dass Florentin, der diese Sitte kannte, lachen musste. So waren wir endlich Mann und Frau!

Ich erinnere mich an die Sonne, ihre Wärme und das Blau des Sommers, als wir auf den Platz heraustraten. Ich war noch nie so glücklich gewesen, während wir von allen Dorfleuten nach alter Sitte beglückwünscht wurden. Man umarmte mich, drückte mir die Hände, und ich hatte das Gefühl, die ganze Erde nähme an meinem Glück teil.

Alexis und Augustine hatten die Dorfleute auf dem Platz vor der Kirche zum Aperitif eingeladen. Wir tranken warmen Wein und Nussschnaps; alle lachten, riefen laut, sangen und amüsierten sich mit dem Gefühl, etwas aufs Neue zu entdecken. Bei uns in der Nähe begann ein kleiner Alter mit einem Schnauzbart, der nur noch Haut und Knochen war, vor sich hinzureden:

»Boldrio mai gardat cent moutous près d’un blat, qu’une flhio quan soun cur a parlat«.

Das lässt sich wie folgt übersetzen:

»Es ist besser, hundert Schafe in der Nähe eines Buchweizenfeldes zu hüten, als ein Mädchen, dessen Herz gesprochen hat.«

Und das war wahr, denn für Florentin wäre ich bis ans Ende der Welt gegangen. Deshalb also erinnere ich mich an diese Worte und an diesen kleinen alten Mann, der schließlich, mit den Stiefeln in der Hand, auf den Tischen tanzte.

Nach dem Aperitif zogen wir zurück zum Hof, wieder im Hochzeitszug, aber dieses Mal ging ich am Arm meines Ehemannes. Und es war schön, im Glanz dieses Septembertages, umgeben von Freunden, auf den Hof zurückzukehren, auf dem wir leben würden. Augustine hatte für diesen Tag eine Köchin engagiert, die ein richtiges Festmahl vorbereitet hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an das Menü, doch woran ich mich genauestens entsinne, sind die Freude aller und die Lieder, die unsere Gäste sangen. Und ganz besonders an das Lied von Alexis, der im Stehen mit leiser Stimme sang, während er mich anschaute:

Ma fille, ma fille chérie,

Pour me quitter tu t’es mise à genoux,

Tu vas quitter ta chaumière et ta famille attendrie

Pour celle d’un époux.

Va, pourtant, sois heureuse,

Avec qui je t’unis,

Suis l’époux, sois l’épouse,

Enfant je te bénis.

Mein Mädchen, meine liebste Tochter,

um mich zu verlassen, bist du niedergekniet,

du wirst dein Heim und deine mitfühlende Familie verlassen

zugunsten derer deines Gemahls.

Geh dennoch, sei glücklich,

mit dem, mit dem ich dich vereine,

folge deinem Mann, sei ihm Gattin,

mein Kind, ich segne dich.

Ich zitiere es aus dem Gedächtnis, und es ist möglicherweise nicht der genaue Wortlaut, aber Alexis´ Gefühlsausdruck bei diesem Lied habe ich mir in meinem Herzen bewahrt, da es stimmte, dass ich für ihn und Augustine wie die eigene Tochter war. An diesem Tag habe ich begriffen, wie sehr sie mich liebten und was ich ihnen bedeutete. Was für ein Fest! Als alle gesungen hatten, die Flaschen und Platten geleert waren, tanzten wir nach der Musik des Dorfpfeifers die ganze Nacht lang »Brados«, »Redoundos«, »Bourrées« und am Ende einen provenzalischen Kreistanz, eine »Farandole«, mit der wir unter den Sternen dahinzogen, sodass ich das Gefühl hatte, ich könnte sie mit den Händen herunterholen. Wir sind sogar ins Dorf hinuntergegangen, singend und tanzend, um Freunde und Familien zu wecken. Einige haben uns mit der traditionellen Zwiebelsuppe bewirtet und danach sangen und tanzten wir weiter.

Beim Morgengrauen, oder jedenfalls kurz davor, waren wir endlich allein, Florentin und ich, erfüllt von unserer Liebe und mit nichts weiter als zwei Paar Laken aus Hanf, einem Geschenk von Augustine. Wir bedurften weder einer Verlobung noch eines Ehevertrages. Wir waren einfach glücklich, zusammen zu sein, glücklich, wie man es damals noch war, wenn man es nur warm hatte im Winter, genügend zu essen, eine Schleife für die Haare oder sich ab und zu ein neues Hemd kaufen konnte.

Unser Zimmer war durch die große Küche, die als Aufenthaltsraum für alle diente, von dem Zimmer von Alexis und Augustine getrennt. Wir hatten es im Juli mit Kalk geweißelt und einen Tisch und einen niedrigen Schrank hineingestellt, die unsere beiden Alten nicht mehr benutzten. Es war seit langem zum ersten Mal, dass Florentin nicht auf Stroh schlief, und wir mussten sehr darüber lachen, dass er es nicht mehr gewohnt war, in einem Bett zu schlafen. Des Weiteren können Sie sicher sein, dass ich nicht mehr erzählen werde, als dass die schönste Liebe die ist, die wortlos geschieht, im Geheimen, wie alles, was an das Heilige im Leben rührt.

Heute sind solche Gedanken vielen fremd, falls ich das glauben soll, was ich manchmal im Fernsehen sehe. Das ist mir ziemlich gleich. Ich habe es gelebt, und zwar mit der ganzen Begeisterung meiner Jugend, ohne dass ich es mitzuteilen brauche. Umso schlimmer für diejenigen, die den Wert der Zärtlichkeit vergessen haben und die Wärme der Haut nicht zu schätzen wissen. Es ist das einzige Mittel, das alle Leiden heilt, selbst die schmerzlichsten.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, haben wir unsere Hochzeitsreise auf den Wegen des Hochlandes gemacht. Zu Fuß zogen wir in der Früh los, mit unserem Proviant in einem Korb, in Richtung Espédaillac und Livernon. Beim Wandern haben wir Zukunftspläne geschmiedet, indem wir über die Kinder sprachen, die wir zusammen haben würden, wie es seit jeher die Frischverheirateten tun. Es war schön, durch die Eichenwälder zu wandern, deren Blätter sich rostrot färbten. Von Zeit zu Zeit nahm mich Florentin in die Arme und küsste mich. Mehr kann man sich nicht wünschen. Ich hatte schon alles, was ich wollte. Glöckchengeläut begleitete uns, die Sonne beschien die wilden Weiden, die von Heuschrecken und Grillen übersät waren, Mauersegler verfolgten sich im Flug am blauen Himmel, der mir, wenn ich zu ihm aufblickte, die Ewigkeit zu versprechen schien.

* Ein ca. 30 km langer, hart umkämpfter Höhenzug zwischen Laon und Reims.

Marie des Brebis

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