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Sterbefasten: Betrachtung einer komplexen Realität Peter Kaufmann, Manuel Trachsel, Christian Walther

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Die ersten, ausführlichen empirischen Angaben zum Sterbefasten verdanken wir einem Forschungsprojekt des niederländischen Psychiaters Boudewijn Chabot (vgl. Chabot & Walther 2010, 2017). Inzwischen gibt es dank weiterführender Forschung und durch persönliche Erzählungen von Sterbewilligen beziehungsweise deren Angehörigen weitere Fallbeispiele, die es ermöglichen, das Sterben durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) besser nachzuvollziehen. Der Überblick über solche Berichte wird allerdings dadurch erschwert, dass sie meist verstreut in Form von Einzelbeispielen in Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Büchern zu finden sind.

Selbst den in Fachzeitschriften publizierten Fallgeschichten wird manchmal eine zu positive Sicht unterstellt; umgekehrt wird die Aussagefähigkeit der verwendeten Berichte nicht immer hinreichend kritisch hinterfragt (vgl. Ivanović et al. 2014). Im Sommer 2016 veröffentlichte die Johns Hopkins University in ihrem Journal »Narrative Inquiry in Bioethics« (Vol. 6, No. 2) 18 Fallgeschichten zum FVNF mit einer Einführung von Prof. Thaddeus Mason Pope2 und mehreren kommentierenden Beiträgen namhafter Autoren.

Für den deutschen Sprachraum sind 25 Fallbeispiele in Kurzform auf der Website www.sterbefasten.org zu lesen, die von palliacura, einer der Schweizer Sterbehilfeorganisation EXIT nahestehenden Stiftung, angeboten wird. Zwar wird auf die Website häufig zugegriffen, jedoch wird dieser Versuch, das Sterbefasten sozusagen erfahrbar zu machen, in der Fachliteratur weitgehend ignoriert. Zuweilen wird er als tendenziöses Werben für den FVNF eingestuft (vgl. z. B. Prat 2018). Außerdem reagieren einige Autoren ausgesprochen ablehnend auf das Wort »Sterbefasten« (vgl. z. B. Kittelberger 2018) – unter anderem, weil es durch seinen positiven Klang verharmlosend wirke. Zudem sei Fasten für viele Menschen ein reinigendes Ritual und somit im Kontext von Sterbewünschen befremdlich. Andererseits kann man sich leicht davon überzeugen, dass die Begrifflichkeit »Sterbefasten« sich inzwischen bei Vorträgen, Artikeln und Diskussionen weitgehend durchgesetzt hat.

In unserem Buch präsentieren wir eine Sammlung von 21 Fällen, dargestellt als kurze Narrative. Sie beruhen zum Teil auf Berichten, die Peter Kaufmann und Christian Walther erhalten hatten. Weitere gehen auf Fachpublikationen, neuere Zeitungsreportagen oder auf Kurzdarstellungen auf www.sterbefasten.org zurück. Unser Ziel war es, dass durch diese Zusammenstellung von sehr unterschiedlichen Verläufen des Sterbefastens sowie der Eindrücke der davon mitbetroffenen Angehörigen und der professionell Pflegenden erfahrbar wird, wie facettenreich diese Realität ist. Nicht ganz so viel zu lernen ist daraus über den Umgang der Ärzte mit dem Thema. Zudem zeigen uns die Fallbeispiele fast nichts zu spirituellen Aspekten bei dieser Form des Sterbens. Möglicherweise liegt dies daran, dass auf denen, die einen FVNF begleitet hatten, oft noch erhebliche Unsicherheit lastete, da ihnen für das Sterbefasten noch kaum Erfahrungen zur Verfügung standen.

Während der Arbeit an unserem Buch erschien von Christiane und Christoph zur Nieden (2019) ein Buch mit elf Berichten über Menschen, die diesen Weg gegangen sind. Es empfiehlt sich als ergänzende Lektüre zum vorliegenden Buch, zumal es bis auf einen Fall keine Überschneidungen mit unseren Erzählungen gibt und dort zusätzlich sieben Beispiele beschrieben werden, in denen der FVNF zwar ernsthaft erwogen, letztlich dann aber doch nicht durchgeführt wurde.

Grundsätzlich muss auf eines verwiesen werden: Es ist denkbar, ja wahrscheinlich, dass Menschen, die ein mit erheblichen Problemen belastetes Sterbefasten miterlebt haben, darüber weniger gern berichten als andere, die es eher als positiv erfahren haben. Es dürften also solche »negativen« Fälle schwer in Erfahrung zu bringen sein, und gegebenenfalls könnte dann ihrer Veröffentlichung widersprochen werden. Daher ist nicht auszuschließen, dass unsere Zusammenstellung ein etwas zu positives Bild des FVNF vermittelt.

Das vorliegende Buch gliedert sich in vier Kapitel: Auf die einleitenden Hinweise folgen 21 Fallgeschichten, dargestellt vom Publizisten und Journalisten Peter Kaufmann. Sie bilden den Schwerpunkt und werden anschließend von den drei Autoren gemeinsam reflektiert. Manuel Trachsel, Arzt, Medizinethiker und Psychologe, geht dann im Kontext von Sterbewünschen auf die Frage nach der Selbstbestimmungsfähigkeit ein sowie auf deren Beeinträchtigung durch verschiedene mentale Zustände wie Depressionen oder Delirien oder im Hinblick auf bestimmte Medikamentengruppen. In einem abschließenden Teil gibt Christian Walther, Neurobiologe i. R. und vormals ehrenamtlicher Hospizhelfer, einen Überblick über aktuelle Stellungnahmen zum FVNF.

In der Literatur wird seit langem darüber gestritten, ob FVNF als Suizid zu bewerten sei; eine Einigung darüber ist nicht in Sicht. Diese Problematik und eine Reihe weiterer, grundsätzlicher Fragen zum FVNF nehmen zum Beispiel in dem von Michael Coors, Alfred Simon und Bernd Alt-Epping herausgegebenen Buch »Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit« (Coors et al. 2019) relativ breiten Raum ein. Sie werden im vorliegenden Buch nicht erneut aufgegriffen, wurden aber teilweise von Walther und Birnbacher (2019a) weiter untersucht, wo auch der Stand der Literatur zu Beginn des Jahres 2019 umfassend berücksichtigt wurde.

Da ein Buch wie dieses nicht in einem politischen Vakuum angesiedelt ist, sei auf Folgendes verwiesen: Wir sehen im FVNF eine von mehreren Handlungsweisen, die jeder – nicht nur am Lebensende – in Betracht ziehen kann, wenn er sich freiverantwortlich entschlossen hat, sein Leben vorzeitig zu beenden, sei es aufgrund gegenwärtigen oder absehbaren, künftigen Leidens. Es ist für die Autoren nicht entscheidend, ob FVNF als Suizid eingestuft wird oder nicht, und in der Realität – so legen unsere Fallbeispiele nahe – spielt dies, zumindest während der Durchführung des FVNF, für die Akteure oft keine wesentliche Rolle. Heikler könnte – vor allem in Österreich – die Frage sein, ob der FVNF möglicherweise juristisch als Suizid bewertet wird und daher gegebenenfalls diejenigen, die Personen dabei aktiv unterstützen, mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Aber in den hier vorgestellten 21 Beispielen wurde dies praktisch nie diskutiert. In mehreren Fällen hatte sich die sterbewillige Person allerdings gewünscht, ein Medikament zu erhalten, um vorzeitig sterben zu können; weil es ihr dank der Gesetzeslage jedoch nicht zugestanden werden konnte, nahm sie dann den FVNF sozusagen zähneknirschend auf sich.

2 http://thaddeuspope.com/vsed/familystories.html

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