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Dienstag

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Gerda Schneider kämpfte die letzten Meter gegen den Sturm, bevor sie ihr Rad vor dem Nordseemuseum abstellte. Heute blieb sie nicht stehen, um über den Jadebusen zu schauen, heute wollte sie nur schnell ins Warme. Raus aus dem eiskalten Januarwind, der ihr bis in die Knochen fuhr. Sie lief über den schmalen Metallsteg zum Nebeneingang und stutzte, als sie merkte, dass er unverschlossen war.

Das war in den fünf Jahren, in denen Gerda hier putzte, noch nie vorgekommen. Auch die Alarmanlage war nicht aktiviert. Dafür begannen jetzt in Gerda Signalglocken zu klingen. Sollte sie reingehen oder lieber über ihr Handy die Polizei benachrichtigen?

Ach was, sagte sie sich, vielleicht ist der Direktor ausnahmsweise schon da, oder seine Sekretärin ist früher gekommen als sonst … Gerda nahm all ihren Mut zusammen. Sie ging die Treppe zu den Büros hoch. »Frau Nienhauer? Dr. Beenke?«

Keine Antwort.

Mit zittrigen Fingern öffnete sie die Tür zum Sekretariat. Ihr Magen verkrampfte sich, als ihr ein eigenartiger, Übelkeit erregender Geruch entgegenschlug. Ihr Blick fiel auf die Tür zwischen Sekretariat und Direktionsbüro. Sie stand offen.

Mit gemischten Gefühlen trat Gerda näher.

Und erstarrte.

Dr. Beenke saß vornübergebeugt auf seinem Drehstuhl hinter dem wuchtigen Schreibtisch. Seine Stirn ruhte neben der Tastatur seines Computers. Doch er schlief nicht.

Er war tot. Ohne Zweifel. Blut war um seinen Kopf herum auf den Tisch geflossen, zwei Fliegen umkreisten die große braunrote Lache. Gerda wagte nicht zu atmen, presste ihre Hand vor Mund und Nase und ging die wenigen Schritte zurück ins Vorzimmer. Mechanisch wollte sie zum Telefonhörer greifen, doch dann hielt sie inne. Besser sie berührte nichts. Dadurch könnte sie Spuren verwischen. Oder neue legen. Als Krimileserin mit jahrelanger Erfahrung – sie hatte als junges Mädchen mit den Romanen von Agatha Christie begonnen und liebte die spleenige Miss Marple über alles – wusste sie, dass man am Tatort nichts verändern durfte. Also zog sie mit zitternden Fingern ihr Handy aus der Hosentasche und drückte die 110.

***

Kriminaloberkommissarin Christine Cordes fuhr rasant die Peterstraße entlang. Immer wieder musste sie abbremsen, denn der Wilhelmshavener Verkehr unterschied sich doch erheblich von dem in Hannover. Hier ging alles irgendwie ruhiger zu. Doch sosehr sie die Gemütlichkeit ihrer neuen Heimat auch genoss, dafür hatte sie jetzt keine Zeit.

Immerhin ging es um ihren ersten Einsatz bei der Kripo Wilhelmshaven. Sie freute sich darauf, selbst wenn es sich dabei allem Anschein nach um die Aufklärung eines Gewaltverbrechens handelte. Ihr Chef, der Erste Hauptkommissar Hendrik Siebelt, hatte ihr telefonisch die Leitung der Ermittlungen übertragen. Sie wusste, das war nicht nur ein Vertrauensbeweis, sondern auch eine Prüfung. Sicher wollte Siebelt testen, wie sie arbeitete. Verständlich, schließlich gehörte sie erst seit sechs Wochen zur hiesigen Truppe. Jetzt konnte sie zeigen, was sie draufhatte.

An den Wochenenden vor ihrem Dienstbeginn war sie zusammen mit ihrem Mann Frank sämtliche Straßen der Stadt kreuz und quer abgefahren, als bereite sie sich auf eine Taxischein-Prüfung vor. Nun gut, sie hatte eben diesen Hang zu Perfektion. Außerdem wollte sie sich vor ihren neuen Kollegen nicht dadurch blamieren, dass sie bei jeder Fahrt einen Stadtplan zurate ziehen musste.

Eigentlich hatte sie gern in Hannover gelebt. Der Umzug war ihr nicht leicht gefallen, denn sie musste einen großen Freundeskreis und auch ihre Eltern zurücklassen. Doch Frank arbeitete schon seit zwei Jahren als Anwalt in einer hiesigen Kanzlei. Zuerst hatten sie gedacht, es sei nur für eine überschaubare Zeit, und vorläufig eine Wochenendehe geführt. Doch als Frank vor einem Dreivierteljahr die Partnerschaft angeboten worden war, hatte er zugegriffen. So schwer Christine die Versetzung nach Wilhelmshaven auch gefallen war, während sie alle Koffer und Umzugskisten ausgepackt und das Haus gemütlich hergerichtet hatte, war die Vorfreude auf ihr neues Leben und den neuen Job gestiegen.

Die Umstellung ins normale Alltagsleben verlief allerdings nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Frank kam oft sehr spät nach Hause und auch im Job lief es nicht wirklich zufriedenstellend. Der Grund dafür hieß Oda Wagner und saß jetzt eisig schweigend auf dem Beifahrersitz.

Natürlich hatte Christine nicht erwarten können, hier auf Anhieb ein so intensives und harmonisches Verhältnis zu den Kollegen zu entwickeln wie in Hannover. Aber auf die offenkundige Ablehnung ihrer Kollegin war sie nicht gefasst gewesen.

Kriminaloberkommissarin Oda Wagner hatte sich nicht gefreut, weibliche Verstärkung zu bekommen, das hatte sie gleich am ersten Tag deutlich gemacht.

»Das Büro ist viel zu klein für zwei«, hatte sie gesagt und demonstrativ den Raum verlassen. Wobei das, neutral betrachtet, stimmte, das Zimmer platzte aus allen Nähten. Einen Besuchertisch gab es nicht. Hinter Oda Wagners Stuhl stand auf einem halbhohen Aktenschrank das Faxgerät der Abteilung, die Regale quollen über vor Ordnern.

Das alles wäre nicht so wild gewesen, wenn die Chemie zwischen ihnen gestimmt hätte. Aber Oda Wagner betrachtete sie offenbar als Störenfried.

»Sie können jetzt rechts auf den Parkplatz fahren«, kam es frostig vom Beifahrersitz.

Christine hielt unterhalb des Museums, dessen Eingang sich oben auf der Deichkrone befand. Als sie ausstiegen, zog sie ihren Mantel über dem Kostüm fester um sich. Es war lausekalt, dazu trug der in Wilhelmshaven allgegenwärtige Wind erheblich bei. Christine fror, als sie die Treppen hinauf zur Promenade und über die Metallbrücke zum Museum gingen. Neidisch betrachtete sie Oda Wagner, die zu einer Lammfelljacke einen überdimensionalen Strickschal und dicke dunkelbraune Boots trug. Ich werde meine Kleidungsgewohnheiten wohl überdenken müssen, dachte Christine, als die Kälte an den Perlonstrümpfen unter ihrem Rock hochstieg.

***

Im Museum wimmelte es von den weiß gekleideten Kollegen der Kriminaltechnik. Oda wusste, dass Christine Cordes kaum einen von denen kannte. Wenn die aber glaubte, sie würde sie jetzt überall vorstellen, hatte sie sich geschnitten. Sollte sie doch selber machen, diese Mrs. Perfekt. Wie die schon immer rumlief. Jeden Tag kam sie im Kostümchen. Mit Pumps. Absolut nicht einsatztauglich, wie Oda fand. Sie zog ein Paar Vinylhandschuhe aus ihrer Jackentasche und streifte sie über. In jeder ihrer Jacken steckten diese Handschuhe. Man wusste schließlich nie, was unerwartet auf einen zukam.

Aus den Augenwinkeln sah Oda, dass Christine Cordes sich Plastikschoner über die Pumps zog. Die musste es wohl oberrichtig machen, was wollte die denn beweisen?

Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und lief die Treppe hinauf, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Sollte die Neue doch hinterherstöckeln, mit dem schmal geschnittenen Rock blieb ihr sowieso nichts anderes übrig.

Zwischen zwei Bürotüren im oberen Stockwerk hing hinter Glas ein gerahmtes Ausstellungsplakat. Oda spiegelte sich darin. Mechanisch strubbelte sie sich durch ihr kurzes Haar. Eigentlich war sie nicht zufrieden mit den roten Strähnchen, die zwischen dem Schwarz hervorblitzten, aber das Rot würde binnen kurzer Zeit verblassen. Zur Not konnte sie sich immer noch eine Tönung im Supermarkt kaufen und zu Hause in die Haare schmieren. Etwas Schlimmeres als Grün würde wohl nicht dabei rauskommen, und das passte zumindest zu der Partei, die sie wählte.

Sie betrat das Büro des Museumsdirektors, aus dem geschäftiges Treiben zu hören war. Beim Anblick von Gerd Manssen, dem Chef der Kriminaltechnischen Abteilung, schob sie jeden Gedanken an ihre Frisur beiseite und konzentrierte sich wieder voll auf ihren Job. »Moin, Manssen. Schon was rausgefunden?«

»Moin Oda. Nee. Also, nicht mehr als das, was ja offensichtlich ist. Die Wunde am Hinterkopf hat der sich nicht selbst zugefügt. Aber ’ne Tatwaffe haben wir nicht gefunden. Die muss derjenige, der ihm die klaffende Wunde verpasst hat, mitgenommen haben. Mehr wird dir Krüger wohl erst sagen können, wenn er den Toten auseinandergenommen hat. Aber zumindest gibt es jede Menge Spuren. Musst dich bloß in Geduld fassen, bis wir die ausgewertet haben.«

Oda schmunzelte. »Das ist ja nichts Neues.« Sie ging zum Schreibtisch. Die Stirn des Toten ruhte auf der gläsernen Arbeitsplatte, die braunen von einzelnen Silberstreifen durchzogenen Haare waren von zum Teil schon geronnenem Blut umgeben.

Christine Cordes hatte es nicht für nötig befunden, sich den Toten zuerst anzusehen, sie sprach bereits mit dem Rechtsmediziner.

Wahrscheinlich wollte sie die Ermittlungen an sich reißen, nur, weil Siebelt ihr den Fall übertragen hatte. Was Oda nicht für angebracht hielt. Bislang war sie diejenige gewesen, die in derartigen Fällen das Kommando übernahm. Siebelt hätte die Neue zumindest so lange lediglich zur Unterstützung des Teams einteilen sollen, bis man wusste, wie sie arbeitete. Nicht als Hauptermittlerin. Aber okay, Oda würde sich die Butter ohnehin nicht vom Brot nehmen lassen. Sie sah das ganz sportlich. Außerdem genoss sie in Wilhelmshaven den Heimvorteil.

Nachdenklich betrachtete sie den Schreibtisch. Große Glasplatte auf verchromten Metallbeinen. Zwei Rollcontainer standen darunter, ebenfalls aus Metall. Schlicht und edel. Und bestimmt ziemlich teuer. Nach dem Motto: Weniger ist mehr. Oda zog eine der Schubladen auf. Der Inhalt war ordentlich aufgeräumt. Sie grinste kurz bei dem Gedanken an ihre eigenen Schreibtischschubladen im Büro. Da gab es eher das kreative Chaos, aber sie wusste genau, wo sie was fand. Oder zumindest, wo sie danach suchen musste. Auch die Schreibtischplatte war aufgeräumt. Sah aus wie in einem dieser Hochglanz-Möbelprospekte. Selbst das stahlgraue Telefon passte farblich perfekt zum Ambiente. Oda wäre das ja insgesamt zu kalt, sie fror schon allein beim Anblick dieses kühl eingerichteten Büros. Aber gut, es musste nicht jeder Holzmöbel lieben. Unter dem Flachbildschirm blitzte eine hauchdünne, saubere Tastatur, daneben stand ein chromgerahmtes Foto von zwei jungen Menschen, die durchaus ein wenig Ähnlichkeit miteinander hatten. Wahrscheinlich seine Kinder. Alles wirkte wie ein Stillleben. »Ordnung mit Fremdkörper« kam ihr in den Sinn, als ihr Blick auf den Toten fiel. Der aufgeräumte Schreibtisch bedeutete vermutlich, dass Museumsdirektor Beenke hatte Feierabend machen wollen und aufgehalten worden war. Von wem?

Oda ging in die Hocke, betrachtete ihn aus einer anderen Perspektive. Sie wollte ein Gefühl für diesen Menschen entwickeln, der so gewaltsam aus dem Leben scheiden musste. Aufmerksam versuchte sie, jedes Detail aufzunehmen. Da war zunächst seine Kleidung. Gepflegt-leger. Eine beige Cordhose mit Ledergürtel, dem man den jahrelangen Gebrauch ansah. Das Tweed-Sakko mit Lederflicken an den Ellbogen hätte aus einem Männermodemagazin stammen können, unter dem Sakkokragen blitzte ein weißes Hemd hervor. An den Füßen trug er dunkelbraune Slipper mit ebenfalls braunen Socken. Die Arme hingen seitlich herab. Hatte er versucht, sich gegen den Schlag zu wehren? Hatte er ihn erahnen können?

Oda musterte die Hände. Gepflegte Finger, die Nägel kurz geschnitten. Sie steckte den Kopf unter die gläserne Platte und besah sich das Gesicht des Toten. Überrascht bemerkte sie eine Platzwunde auf dessen Stirn.

Sie erhob sich und blickte hinüber zum Rechtsmediziner, der, begleitet von Christine Cordes, näher kam. Krüger sah aus wie ein Bubi. Daran änderte auch die Glatze nichts, die er sich bestimmt rasieren ließ, um seriöser zu erscheinen. Sonst hätte er wohl eine unschöne haarlose Platte auf dem Kopf, vermutete Oda und konnte den Arzt beinahe ein bisschen verstehen. Aber nur beinahe, denn: Arroganter Schnösel blieb arroganter Schnösel. Und damit passte er hervorragend zu Christine Cordes.

»Wie gesagt, Genaues ergibt die Obduktion«, sagte er gerade. »Ich werde mir Mühe geben, sie so schnell wie möglich durchzuführen. Im Moment kann ich Folgendes sagen: Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen und hat mehrmals zugeschlagen. Wobei der erste Schlag gegen die Stirn gerichtet gewesen sein muss. Sehen Sie«, Krüger trat neben den Schreibtischstuhl und hob den Kopf des Toten an, »die Platzwunde ist genau über der Nasenwurzel. Die anderen Schläge erfolgten auf den Hinterkopf.« Er ließ Beenkes Kopf wieder auf die Schreibtischplatte sinken. »Aber nicht jeder Schlag hat zu Blutungen geführt. Das Tatwerkzeug war ein stumpfer Gegenstand, die Todeszeit liegt zwischen siebzehn und zwanzig Uhr gestern Abend.«

»Gibt es Kampfspuren, hat er sich gewehrt?«

»Auf den ersten Blick habe ich keine feststellen können.«

»Also wird er seinen Mörder gekannt haben«, sagte Christine Cordes.

»Tja, das würde ich auch sagen, wenn man mich fragt. Aber … mich fragt ja niemand.« Krüger zwinkerte der Neuen zu, nahm seine Tasche und wandte sich zur Tür. »Details kommen wie immer mit dem Obduktionsbefund.«

Wieder in Richtung von Christine Cordes gesagt. Dieser Blödmann ignoriert mich einfach, dachte Oda sauer. Aber was der kann, kann ich auch. Ohne ein weiteres Wort ging sie nach nebenan, um mit Beenkes Sekretärin zu sprechen.

***

Christine blieb allein mit dem Toten zurück.

Sieht aus, als hätte er Blut geweint, dachte sie, während sie sich mit dem Rücken an die Fensterfront stellte. Dem bewegten Wasser im Jadebusen schenkte sie keine Beachtung. Dafür war später Zeit. Nachdenklich sah sie sich in dem großzügigen Büro um. Was war hier vorgefallen? Welche Geheimnisse barg es? Sie fröstelte, wie immer, wenn sie für einen Moment mit einem Toten allein in einem Raum war. Diesmal jedoch trug der eisige Windzug dazu bei, der durch die Ritzen der Fensterrahmen mit ihrer Einfachverglasung hereinkroch und einen Hauch von Wattenmeer und Salzwasser mit in den Raum blies. Die Kälte wanderte unangenehm ihren Rücken hinauf.

Erneut betrachtete sie den nüchternen Raum. Beenke mit seiner Cordhose hätte eher in ein Zimmer voll englischer Möbel gepasst. Nicht in so viel Chrom, Glas und Schwarz. Christine beugte sich zu dem Foto vor. Zwei junge Erwachsene, denen man die Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen ansah. Vom Alter her könnten es seine Kinder sein. Doch warum stand hier kein Foto von seiner Frau? Oda Wagner hatte doch gesagt, dass Dr. Beenke verheiratet war. Nun ja, das fehlende Bild sagte ja auch schon eine Menge über die Ehe aus.

Allerdings stand auf Christines neuem Schreibtisch bislang auch noch kein Foto von Frank. Dabei liebte sie die Aufnahme, die sie von ihm bei ihrem Urlaub im vergangenen Jahr an der Mosel gemacht hatte. Darauf stand er unbeschwert lachend vor einem Weinstock. Bei all dem Trubel hatte sie noch keine Zeit gefunden, das Bild auszupacken. Sie nahm sich vor, es heute noch herauszusuchen und aufzustellen, als gutes Omen sozusagen.

»Moin.« Zwei schwarz gekleidete Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens betraten den Raum, zwischen sich eine Trage mit einem dunkelblauen Kunststoffsack.

»Wir sollen den Toten mitnehmen. Können wir?« Der vordere Mann sah sie fragend an.

Christine nickte, stieß sich von der eisigen Fensterbank ab und machte einen Schritt in den Raum hinein. Nein, Geheimnisse gab es hier wohl nicht, dafür aber den Widerspruch zwischen dem Erscheinungsbild des Museumsdirektors, das gediegene Gemütlichkeit ausstrahlte, und seinem nüchternen Büro.

Gab es diese Widersprüche auch in Beenkes Privatleben?

***

Oda hatte die Putzfrau bereits vernommen und nach Hause geschickt. Sie saß hinter dem Schreibtisch der Sekretärin, Ina Nienhauer, die ihrerseits auf dem Besucherstuhl Platz genommen hatte. Sie kauerte dort wie ein Häuflein Elend.

»Guten Morgen.« Christine Cordes betrat das Büro und streckte Frau Nienhauer zur Begrüßung die Hand entgegen. »Mein Name ist Cordes, ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.« Sie setzte sich auf den anderen Besucherstuhl. Neben Ina Nienhauer.

Was war das denn? Ich leite die Ermittlungen? Nee, wenn die glaubte, Oda einfach in die zweite Reihe abschieben zu können, dann hatte sie sich getäuscht. Oda würde ihr diesen Fall nicht überlassen, und das sollte sie auch gleich merken. Sie hätte ja nicht noch in Beenkes Büro bleiben müssen. Wäre sie mitgekommen, hätte sie die Chance auf den einzig richtigen Platz in einer Vernehmungssituation gehabt. Nein. Oda korrigierte sich. Auch dann hätte sie den Platz hinter dem Schreibtisch für sich in Anspruch genommen.

Nun gut, dachte sie, wollen wir der Tussi aus Hannover mal zeigen, wie hier der Hase läuft.

»Frau Nienhauer«, begann Oda, »von Frau Schneider wissen wir bereits, dass die Nebentür heute früh nicht verschlossen und die Alarmanlage nicht eingeschaltet war. Das sei sehr ungewöhnlich, hat sie gesagt. Wann sind Sie denn gestern gegangen? Und wer war fürs Abschließen und Aktivieren der Anlage zuständig?«

»Wir beide, also … Dr. Beenke und ich. Eben wer als Letzter ging. Gestern hab ich um sechs Feierabend gemacht. Da lebte Dr. Beenke noch. Ich wollte zu meinen Eltern, meine Mutter feierte ihren achtundsiebzigsten Geburtstag und hatte die Familie zum Abendessen in die Antonslust eingeladen.« Ina Nienhauer rieb sich verlegen die Hände. Oda registrierte, dass sie keinen Ehering, sondern nur einen kleinen Goldring mit Brillantsplittern trug. Demnach war sie nicht verheiratet. Gehörte sie, ebenso wie Oda, in die Riege der geschiedenen Frauen?

Egal. Oda schätzte sie auf Ende vierzig. Sie war modern gekleidet, mit Jeans und weißer Bluse. Die mittelbraunen Haare waren kurz geschnitten und mit Gel in Form gezupft. Insgesamt machte Ina Nienhauer einen zuverlässigen und kompetenten Eindruck. Eben den einer guten Sekretärin. Dass sie ein wenig durcheinander zu sein schien, war unter den gegebenen Umständen verständlich.

»Er wollte noch bleiben«, fuhr Frau Nienhauer fort. »Er erwartete Besuch von Henner Diersen. Das ist der Vorsitzende des Kuratoriums. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, habe ich ihm Tschüss gesagt und unten im Nebeneingang die Tür hinter mir ins Schloss fallen lassen. Die kriegt man ja von außen nicht auf. Von meinem Büro aus kann man einen Summer drücken, damit sich die Tür öffnen lässt. Von daher ist es also nicht schlimm, wenn der Nebeneingang unverschlossen ist.«

»Wie war denn Dr. Beenkes Verhältnis zu Herrn Diersen? Wissen Sie, ob es Ärger zwischen den beiden gab?«, fragte Christine Cordes. Sie hatte einen in Leder gebundenen Block auf den Knien.

Was für eine Wichtigtuerin, dachte Oda. Konnte die sich denn nichts merken? Sie verdrehte gelangweilt die Augen.

Ina Nienhauer knetete ein Taschentuch zwischen den Händen. »Na ja, ich würde sagen, es war angespannt. Die beiden mochten sich nicht. Aber ob sie Ärger miteinander hatten, dazu kann ich nichts sagen.« Sie hörte auf zu kneten und schluchzte auf. »Wäre ich nicht … hätte ich nicht …«

»Schon gut. Beruhigen Sie sich.« Oda fand Gefühlsaufwallungen fremder Leute peinlich. Man musste sich doch beherrschen können. »Ist Ihnen in der letzten Zeit irgendetwas an Dr. Beenke aufgefallen? War er anders als sonst? Fühlte er sich vielleicht bedroht?« Sie drehte einen Bleistift zwischen den Fingern. Im Gegensatz zu der Neuen brauchte Oda sich keine Notizen zu machen. Sie war stolz auf ihr gutes Gedächtnis. War außerdem einfacher, in einer der Hirnschubladen zu kramen, als in einer Zettelwirtschaft zu wühlen.

»Nein«, antwortete Ina Nienhauer. »Soweit ich das beurteilen kann, hat er sich nicht bedroht gefühlt. Im Gegenteil. Er war überaus zufrieden. Er hat nämlich vor Kurzem das Prunkstück der künftigen Ausstellung ›Kirche, Kunst und Küste‹ erhalten. Nach diesem Bernstein-Petrus hatte er lange gesucht … Als er endlich hier eintraf, da war er der glücklichste Mensch der Welt.«

Sie stand auf und holte ein Foto im DIN-A5-Format. »Das ist der Petrus.«

Oda nahm das Bild in die Hand und runzelte die Stirn. Das sollte das Prunkstück einer Ausstellung werden? Sie schätzte die Skulptur auf schlappe zehn Zentimeter, aber da konnte sie sich natürlich täuschen. Der Bernstein war überwiegend klar mit einigen Einschlüssen, die jedoch nicht von der eigentlichen Figur ablenkten. Simon Petrus in sitzender Position mit kurzen, leicht gelockten Haaren, einem dichten Bart und langem Gewand. In der herunterhängenden linken Hand hielt er ein Netz, die rechte lag auf seinem Schoß und hielt einen Schlüssel.

»Was ist an dem nun so besonders?« Oda sah zu Ina Nienhauer hoch, die neben ihr stehen geblieben war.

»Na ja, die Skulptur stammt von dem niederländischen Bildhauer Adriaen de Vries. Bis vor einiger Zeit war nicht bekannt, dass es sie überhaupt gibt. De Vries war auf dem Weg zum Dänenkönig Christian IV., als er vor der Küste Hooksiels Schiffbruch erlitt. De Vries ist als Meister des Frühbarocks bekannt. Er hat nur ein einziges Mal mit Bernstein gearbeitet. Als Dankeschön für die Hooksieler für seine Rettung.« Die letzten Worte hauchte Ina Nienhauer fast andächtig.

»Und weiter?« Oda verlor allmählich die Geduld.

»John, ich meine Dr. Beenke, stieß bei seinen Vorbereitungen und Recherchen für die neue Ausstellung auf Unterlagen, aus denen hervorging, dass der Petrus lange als unbedeutende Reliquie in der Kirche zu Pakens gestanden hat. Während des Zweiten Weltkrieges verschwand er jedoch. Sein Wiederauftauchen wird eine Sensation für die Kunstwelt sein.«

»Nun denn.« Oda versuchte sich beeindruckt zu zeigen, bezweifelte aber, dass ihr das gelang. »Ich nehme an, dieser Petrus ist sicher verwahrt?«

»Selbstverständlich! Er befindet sich im Tresor. Und der ist unversehrt.«

»Gut. Wie lange sind Sie denn schon Dr. Beenkes Sekretärin?« Christine Cordes mischte sich ein. Ihr Tonfall war so sanft, dass er in Oda beinahe einen Würgereiz auslöste. Spielte die Neue jetzt »Guter Bulle, böser Bulle« und wollte Oda in die Rolle des Bösen drängen? Da würde sie aber keineswegs mitspielen.

Ina Nienhauer jedoch entlockte der sanfte Tonfall ein trockenes Schluchzen. »Seit 1992. Seit der Eröffnung des Museums. Wir kamen gleich gut miteinander aus.«

»Wunderbar«, brachte sich Oda wieder ins Spiel. Sie ignorierte den missmutigen Blick ihrer Kollegin. »Da haben Sie sicher mehr Zeit mit Ihrem Chef verbracht als seine Frau. Sie werden ihn fast genauso gut, wenn nicht sogar noch besser gekannt haben, stimmt’s?«

»Na ja, zwischen Dr. Beenke und mir war das natürlich rein beruflich.« Ina Nienhauer blickte ernst auf. »Also fachlich kannte ich ihn wirklich gut. Seine Frau wohl nicht, die hat sich ja nie für Johns Arbeit interessiert.«

»Nicht?« Pure Neugier floss aus Odas Stimme, ohne dass sie es verhindern konnte. Nicht dass sie sich selbst als Kunstkennerin bezeichnen würde, aber Interesse an der Arbeit des Ehemannes sollte eine Frau schon haben, fand sie.

»Nein. Frau Beenke war immer nur zu den Ausstellungseröffnungen hier, wenn sie sich im Glanz ihres Mannes sonnen konnte. Aber so zwischendurch … Das konnte man in all den Jahren an einer Hand abzählen. Tomke, Dr. Beenkes Tochter, war oft hier. Die hat sich sehr für die Arbeit ihres Vaters interessiert.«

»Kommen wir noch mal auf den Kuratoriumsvorsitzenden Diersen zurück«, sagte Christine Cordes. »Sie sagten, er war nach Ihnen noch hier.«

»Dr. Beenke hat zumindest gesagt, dass er noch auf ihn wartet.«

»Inwieweit, meinten Sie, war das Verhältnis zwischen den beiden angespannt?«

»Also, das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm.« Ina Nienhauer zierte sich. »Schließlich will ich ja keinen anschwärzen.«

»Tun Sie auch gar nicht. Sie geben uns lediglich die Informationen, die wir für unsere Arbeit brauchen.«

Prompt begann Ina Nienhauer zu erzählen. »Ach, wissen Sie, es kam fast jedes Mal zum Streit, wenn Diersen hier war. Der wollte sich immer in Dr. Beenkes Aufgaben einmischen. Aber der hat sich das nicht gefallen lassen. Sie glauben gar nicht, wie Herr Diersen sich hier aufgespielt hat. Dabei ist der noch nicht lange im Amt. Hat getan, als sei er Dr. Beenkes Chef. Wegen jeder kleinen Budgetüberschreitung hat er Dr. Beenke angepflaumt. Manchmal hat er sogar gedroht, er werde dafür sorgen, dass Dr. Beenke seinen Job loswird.« Ina Nienhauer schnaubte laut in das Taschentuch, dann steckte sie es in den Bund ihrer Jeans. Igitt, dachte Oda.

»Hat Ihr Chef sich denn von diesen Drohungen einschüchtern lassen?«

»Nein!« Entrüstet lehnte Ina Nienhauer diesen Gedanken ab. »Von so einem wie Diersen doch nicht. Im Gegenteil, er hat den Spieß umgedreht und seinerseits mit Kündigung gedroht.« Sie lächelte. »Da hätte Diersen aber ganz schön alt ausgesehen vor dem Rest des Kuratoriums. Schließlich lief das Museum nur dank Dr. Beenkes Engagement so gut.«

»Womit hat Herr Diersen ihm denn gedroht? Ich meine, so einfach ist es ja nicht, einen fest angestellten Museumsdirektor während der Vertragslaufzeit zu entlassen«, sagte Oda.

»Ach, Herr Diersen ist ziemlich hinterhältig vorgegangen. Er hat, gleich nachdem Dr. Beenke ihm im Gespräch gesagt hat, er würde dann eher von alleine gehen, eine knappe Meldung an den Wilhelmshavener Kurier rausgegeben, dass sich Änderungen in der Leitung des Museums abzeichnen würden. Und dass Dr. Beenke sich beruflich anderweitig orientieren möchte. Sie glauben gar nicht, was danach hier los war. Sämtliche Kuratoriumsmitglieder riefen an, um Dr. Beenke zum Bleiben zu bewegen. Da hatte Diersen sich ins eigene Fleisch geschnitten. Danach war er noch unfreundlicher.«

»Das ist ja interessant. Danke erst einmal. Sie haben uns ein gutes Stück vorangebracht.« Oda warf einen Blick zu Christine Cordes, die widerwillig nickte.

Beim Aufstehen ließ Oda unbemerkt ihr Schüsselbund auf den Boden sinken.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt: Sie wissen ja, wo Sie uns erreichen«, sagte Christine Cordes im Hinausgehen und steckte Ina Nienhauer ihre Visitenkarte zu. Klar, die muss das letzte Wort haben, dachte Oda verstimmt.

Schweigend liefen sie nebeneinander den Flur entlang. Als sie die Treppen erreichten, blieb Oda stehen. »Schiete, ich hab was vergessen. Gehen Sie doch schon vor. Ich komme sofort nach«, bat sie, drehte sich um und lief zurück.

An der geöffneten Tür zu Beenkes Büro blieb sie zufrieden stehen. Hatte sie es sich doch gedacht. Ina Nienhauer beugte sich hinter dem gläsernen Schreibtisch über eine geöffnete Schublade des linken Rollcontainers. Offenbar suchte sie etwas. Sie blickte überrascht auf und errötete, als Oda eintrat.

»Ich hab irgendwo mein Schlüsselbund verloren, es muss mir wohl aus der Tasche gerutscht sein.« Oda ging durch die Verbindungstür ins Sekretariat. Kurz darauf kam sie gut gelaunt mit dem Schlüsselbund in der Hand zurück.

Ina Nienhauer nickte nur, immer noch rot im Gesicht.

Volltreffer, dachte Oda und lief fröhlich wieder hinaus. Sie hatte schon die ganze Zeit gespürt, dass die Sekretärin nicht alles gesagt hatte. Jetzt war sie sich sicher. Aus der Nienhauer war noch mehr rauszuholen.

***

»Ist schon jemand zu Dr. Beenkes Privatadresse gefahren?«, fragte Christine, als sie ins Auto stiegen.

Oda Wagner schüttelte den Kopf. »Nee. Das mache ich selbst, wenn es irgend möglich ist. Man kann an der Reaktion der Hinterbliebenen oft eine Menge erkennen, wenn man die Nachricht vom Tod eines nahestehenden Verwandten überbringt.«

»Das stimmt. Wollen wir danach zu diesem Herrn Diersen fahren?«, fragte Christine.

»Erst mal abwarten, was bei dem Gespräch mit der Witwe herauskommt.«

Nun gut. Ihre Kollegin war nicht gerade gesprächig. Schweigen konnte Christine allerdings auch. Sie würden sich schon aneinander gewöhnen. Vielleicht brauchte Oda Wagner einfach Zeit – bislang war sie die einzige Frau der Abteilung gewesen. Sie bogen in die Kantstraße ein. Die schmale Straße war zugeparkt, also stellte Christine den Wagen um die Ecke ab. Drei Jungen radelten laut lachend an ihnen vorbei. Keiner von ihnen trug einen Helm, was Christine verwunderte. Wenn das ihre Kinder wären … Sie wollte sich gerade an Oda Wagner wenden, um eine entsprechende Bemerkung zu machen, als sie sah, wie die den Kindern zuwinkte.

»Ist einer davon Ihrer?«, fragte Christine.

»Nö. Sind Nachbarskinder.« Oda Wagner öffnete die Wagentür und stieg aus.

Dann eben nicht … Christine schnappte sich ihre Tasche, verriegelte den Wagen und lief hinter ihrer neuen Kollegin her. Der Bürgersteig war gegen die Glätte mit grobkörnigem Granulat bestreut. Christine hoffte, dass keines der kleinen Steinchen den Weg in einen ihrer Schuhe fand. Das passierte ihr im Winter ständig, führte zu Laufmaschen in den Strumpfhosen und war ziemlich ärgerlich. Vor allem, wenn man mit jemandem wie Oda Wagner unterwegs war. Sie konnte sich deren spöttisches Grinsen jetzt schon vorstellen.

»Nicht schlecht«, sagte Christine, als sie das Grundstück von Dr. Beenke betraten. Sie liefen auf eine rot geklinkerte Villa mit weißem Putzvorbau zu. Der Weg war mit grauem Granit gepflastert, der Garten schien einem Fachmann anvertraut worden zu sein. Es sei denn, die Hausfrau hatte ein Faible für Gartenarbeit und ein grünes Händchen. »Sie wohnen auch hier im Viertel?«

»Das schon, aber nicht in so ’nem noblen Schuppen. Ich wohne zur Miete. In der Holtermannstraße. Da hab ich aber auch eine sehr schöne Wohnung.« Oda Wagner drückte den Klingelknopf. »Dann wollen wir mal.«

Es dauerte ein Weilchen, bis die Tür geöffnet wurde. Die Frau, die ihnen gegenüberstand, machte nicht den Eindruck, eine begeisterte Gärtnerin zu sein. Das fast feenhafte Wesen wirkte nahezu durchscheinend in seinem weißen, bodenlangen Kaftan. Christine schätzte die Frau auf Ende fünfzig, aber das mochte täuschen. Hätte das volle, auf die Schultern fallende Haar eine andere Farbe als das silbrige Grau gehabt, würde Frau Beenke sicher jünger aussehen.

»Ja bitte?«, fragte diese unsicher.

»Kriminaloberkommissarin Cordes und Kriminaloberkommissarin Wagner. Kripo Wilhelmshaven.« Christine hatte ihren Ausweis schon gezogen, als Wagner noch in den Tiefen ihrer Jacke suchte. »Guten Morgen. Frau Annegret Beenke?«

»Ja?« Die Antwort klang misstrauisch.

»Wir müssen mit Ihnen reden. Dürfen wir eintreten?«

Die Fee betrachtete den Dienstausweis. »Worum geht es denn?«, fragte sie.

»Das würden wir Ihnen gern im Haus sagen«, mischte sich Oda Wagner ein. »Nicht zwischen Tür und Angel.«

»Geht es um meine Tochter?« Ermattet griff sich Annegret Beenke an die Stirn. »Nicht schon wieder. Das halten meine Nerven nicht aus. Aber gut, kommen Sie bitte herein.« Sie trat einen Schritt zurück. Christine fühlte sich unwohl, als sie ihr durch den rundbogigen Flur ins Wohnzimmer folgten, das die perfekte Kulisse für diese Frau bot. Weiße Wände, raumhohe Fenster, üppige Farne zu beiden Fensterseiten. Der Blick hinaus zeigte den penibel gepflegten Garten, zarte Ölgemälde in quadratischer Form zierten die Wände. Blumenmotive, eindeutig weiblichen Geschmacks.

Einen Hinweis, dass Dr. Beenke, der Cordhosen- und Fliegenträger, hier gelebt hatte, suchte Christine vergebens.

Annegret Beenke drapierte sich in einen der beiden hellen Stoffsessel und bat Christine und Oda Wagner, auf der Couch Platz zu nehmen.

Hoffentlich hat diese Oda keinen Schokoladenfleck an der Jeans, überlegte Christine, als sie sich auf dem weißen Sitzpolster niederließen. Sie räusperte sich, griff in ihre Tasche und legte Block und Kugelschreiber auf den staubfreien Glastisch neben eine silberne Vase mit weißen Lilien.

»Frau Beenke, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist.« Christine sah die Frau an. Diese Momente gehörten eindeutig zu den schwersten ihres Jobs.

Annegret Beenke schluckte. »Tot?«

»Er wurde heute Morgen im Museum gefunden.«

»Natürlich im Museum. Wo sonst?«

Christine stutzte. Der weiche Tonfall blieb. Hatte die Frau die Tragweite dessen, was sie ihr gerade gesagt hatte, überhaupt mitbekommen? Christine warf einen Seitenblick zu ihrer Kollegin. Aber auch Oda Wagner sagte nichts. Sie saß einfach da und musterte die Witwe.

»John lebt für das Museum«, sagte Annegret Beenke. »Er ist ständig dort, wissen Sie? Er verbringt mehr Zeit im Museum als zu Hause.« Sie zuckte mit den Schultern. »John hätte das Museum heiraten sollen.« Annegret Beenke erhob sich. »Entschuldigung, ich habe vergessen zu fragen, ob ich Ihnen etwas zu trinken anbieten kann. Ich habe einen grünen Tee fertig, aber auch ein Nescafé ist kein Problem.«

»Frau Beenke.« Christine beugte sich vor. »Ihr Mann ist tot.«

»Ja, das sagten Sie bereits.« Annegret Beenke drehte sich um. »Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment, ich bin sofort wieder bei Ihnen.«

Ehe Christine oder ihre Kollegin etwas sagen konnten, hatte Annegret Beenke den Raum verlassen. Christine warf Oda Wagner einen fragenden Blick zu, aber die verzog nur die Mundwinkel. Beide Frauen schwiegen.

Nach ein paar Minuten kam Annegret Beenke zurück, ein Taschentuch in der Hand. Sie setzte sich, als sei nichts geschehen, als seien die beiden Polizistinnen lediglich auf einen Plausch vorbeigekommen.

Wieder ergriff Christine das Wort. »Ersten Ermittlungen zufolge wurde Ihr Mann ermordet. Erschlagen.« Sie beugte sich vor, wollte ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen. Doch Annegret Beenke zog sich bis an den hintersten Rand ihres Sessels zurück.

»Erschlagen?« Endlich kam eine Reaktion. »Ich habe gedacht … Wer … Warum … Wann?«

»Der Arzt vermutet, gestern zwischen siebzehn und zwanzig Uhr. Was haben Sie denn gedacht, woran Ihr Mann gestorben sein könnte?«

»John hat Blutdruckprobleme. Er muss Tabletten nehmen. Ich habe gedacht, er hätte einen Herzinfarkt erlitten.«

»Haben Sie ihn denn nicht vermisst, heute Nacht?«, fragte Oda Wagner kühl.

Typisch, dachte Christine. Die konnte überhaupt kein Feingefühl aufbringen. Obwohl, recht hatte sie schon. Eine Frau musste doch merken, wenn ihr Mann nachts nicht neben ihr lag.

»Wir haben getrennte Schlafzimmer, wissen Sie, da kommt es schon mal vor, dass wir uns einen Tag lang nicht sehen. Oder auch zwei. Ich gehe immer früh zu Bett. Meistens kommt John erst, wenn ich schon oben bin. Und oft ist er morgens fort, bevor ich aufstehe.« Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Züge.

»Gab es jemanden, mit dem Ihr Mann Streit hatte?«, fragte Christine. »War er wütend auf jemanden? Gibt es irgendetwas, das Ihnen in letzter Zeit aufgefallen ist?«

»Aufgefallen? Nein. Mir ist nichts aufgefallen. Wie denn auch?« Die sanfte Stimme bekam einen bitteren Unterton. »Ich sagte doch, mein Mann war ein Workaholic. Ein eher seltener Gast im eigenen Haus.«

Christine unterdrückte den Impuls, Annegret Beenkes Hände tröstend zu umfassen. »Das tut mir leid«, sagte sie.

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun.« Annegret Beenke lachte auf. »Wir führten eine gute Ehe. Zugegeben, wir standen uns nicht mehr sehr nah. Jeder von uns hatte seinen eigenen Interessenbereich. John lebte für das Museum, und ich bin ehrenamtlich in verschiedenen Vereinen tätig. Seit unsere Kinder aus dem Haus sind, haben wir kaum noch Berührungspunkte. Wir leben … lebten … nebeneinander her. Das Haus ist groß genug, wir haben uns arrangiert. Das ist bei vielen Paaren so, die ich kenne.«

Annegret Beenke hob den Kopf, begegnete Christines Blick, und diese fühlte, wie etwas ihre Seele berührte. Annegret Beenkes Augen erinnerten an einen Bergsee. Tief und unergründlich. Bevor sie allerdings weitere Fragen stellen konnte, störte Oda Wagners knarzende Stimme die Atmosphäre: »Wo halten sich denn Ihre Kinder auf?«

***

»Das war ja leider nicht viel«, sagte Christine eine halbe Stunde später zu Oda Wagner, als sie zurück in ihrem Büro waren. Jede von ihnen hatte einen Becher Kaffee vor sich. Für Christine war es bereits der zweite. Obwohl Baldrian sicher angebrachter gewesen wäre, so, wie sie sich über ihre Kollegin ärgerte. Da hatte sie gerade eine gute Grundstimmung für ein tiefergehendes Gespräch gelegt, schon funkte Oda Wagner dazwischen, und Frau Beenke verschloss sich wie eine Auster. Außer den Aufenthaltsorten ihrer Kinder hatten sie nichts mehr von ihr erfahren.

»Sie sind zu lasch rangegangen«, behauptete Oda Wagner nun. »Sie hätten mehr aus ihr rauskitzeln müssen.«

»Das müssen Sie gerade sagen … so rücksichtsvoll, wie Sie sich verhalten haben! Warum haben Sie dann nicht weiter nachgehakt, als Frau Beenke dichtgemacht hat?« Christine war sauer.

»Ich wollte gucken, wie Sie in Hannover solche Fälle handhaben. Wäre ja möglich gewesen, dass ich noch etwas hätte lernen können.« Oda Wagner grinste süffisant. »Aber mit Lernen ist wohl nichts. Beim nächsten Mal übernehme ich wieder. Schade, dass wir dem Chef nun sagen müssen, dass wir kaum was haben, an dem wir ansetzen können.«

»Haben Sie denn nicht gemerkt, dass Frau Beenke total neben sich stand? Meine Güte, wir kamen nicht nur mit der Nachricht, dass ihr Mann tot ist, wir mussten ihr auch noch erklären, dass er ermordet wurde. Da kann man nicht von normalen Umständen ausgehen. Sie haben überhaupt kein Taktgefühl.« Christine war es leid, höflich mit dieser Oda umzugehen, das hatte sie nicht verdient.

Aber statt auf Christines Bemerkung einzugehen, legte ihre neue Kollegin unbeeindruckt nach. »Vielleicht hat Frau Beenke Alkoholprobleme und war schon leicht angeschickert. So einen Eindruck machte sie jedenfalls.«

»Dass Sie ihr das unterstellen!« Christine war erbost. »Außerdem riecht man so was doch.«

»Sind Sie wirklich so naiv, Kollegin? Ich denke, Sie kommen aus der Großstadt. Es gibt Spirituosen, die riecht man nicht. Wodka zum Beispiel.«

»Da kennen Sie sich wohl ziemlich gut aus, was?« Christine wurde langsam giftig. Um sich wieder ein wenig zu beruhigen, schob sie ihren Drehstuhl zurück, stand auf und ging in die Personalküche, wo sie sich einen weiteren Kaffee eingoss. Nicht dass sie sich von Oda Wagner derart reizen ließ, etwas zu entgegnen, was sie später bereuen würde.

Als sie ins Büro zurückkam, saß ihr Chef auf der Schreibtischkante. Durch seine kräftige Statur wirkte der Raum sofort überfüllt. Das konnte allerdings auch an dem intensiven Duft seines Rasierwassers liegen.

»Mmh. Kaffee. Krieg ich auch einen?« Siebelt sah sie bittend an.

»Natürlich. Milch und Zucker?«

»Beides wäre klasse. Zwei Löffel bitte.«

Christine stellte ihren Becher ab, drehte um und kam kurz darauf mit einem weiteren für Hendrik Siebelt zurück. »Bitte schön. Die Kanne ist nun allerdings leer.« Sie blickte ihre Kollegin lächelnd an. Denn, nein, jetzt noch neuen Kaffee aufzusetzen, während Oda Wagner hier mit ihrem Chef über den Fall sprach, das kam für sie nicht infrage.

»Danke.« Siebelt nahm den Becher entgegen. »Was gibt’s zu berichten?«

Ohne ein Wort zu sagen, sah Oda Wagner Christine herausfordernd an.

Doch sie ignorierte ihre Kollegin und fasste zusammen, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Oda Wagner malte unterdessen kleine Smileys auf ihre Schreibtischunterlage, das Werbegeschenk einer Bank.

»Jedenfalls wohnt die Tochter hier vor Ort, der Sohn auf Spiekeroog, und der war auch die letzten Tage nicht hier, wenn man Frau Beenke glauben kann. Er führt auf der Insel ein Hotel, das ›Deichblick‹«, schloss Christine. »Also werden wir gleich mal zur Tochter fahren.«

»Tut das.« Siebelt schob sich vom Schreibtisch, trank im Stehen aus und drückte Christine den leeren Becher in die Hand. »Den Bericht brauche ich spätestens heute Nachmittag. Die Presse sitzt mir bereits im Nacken, schließlich war John Beenke nicht irgendwer. Mit ein paar Fakten will ich schon aufwarten können. Dr. Krüger hat übrigens versprochen, den Obduktionsbefund später rüberzufaxen.« Er ging zur Tür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Wie Oda gerade berichtete, als Sie so freundlich waren und mir den Kaffee holten, sprach Beenkes Sekretärin davon, dass er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tochter hatte. Dann kann sie uns vielleicht mehr sagen als die Ehefrau. Kitzeln Sie also alles aus der Tochter raus. Das haben Sie bestimmt in Hannover gelernt.« Er zwinkerte erst ihr und dann Oda zu.

Was sollte das denn werden? Wurde sie etwa von den beiden getestet? Blödmann, dachte Christine, als er den Raum verließ. Aus dem Augenwinkel sah sie das schmale Lächeln ihrer Kollegin. Beides Blödmänner.

Oda Wagner tippte kurz auf der Tastatur ihres PCs, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Am anderen Ende musste jemand direkt neben dem Telefon gesessen haben, denn kaum hatte sie das Wählen beendet, sagte sie: »Moin, Frau Beenke. Oda Wagner hier, Kripo Wilhelmshaven. Meine Kollegin und ich müssten gleich mal mit Ihnen sprechen. Sind Sie zu Hause?«

Tomke Beenke schien das zu bestätigen, denn Oda Wagner sagte: »Okay, wir machen uns direkt auf den Weg. Bis gleich.« Damit legte sie auf, öffnete ein Fenster und nahm ihre abgetragene Lederjacke vom Haken. »Tja, dann woll’n wir mal … Die Luft hier drinnen ist sowieso etwas verbraucht, da tut ein wenig frische Luft gut.« Oda Wagner schlüpfte in die Jacke. »Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Sehen Sie zu, dass Sie mit der Tochter nicht so harmlos umgehen wie mit der Mutter. Sonst werde ich dazwischengehen.« Sie schnappte sich ihren Kaffeebecher und verließ den Raum. »Wir sehen uns unten.«

Christine betrachtete die beiden anderen leeren Kaffeebecher und sah ihrer Kollegin nach. Was meinten Siebelt und diese Wagner eigentlich, mit wem sie es zu tun hatten?

***

Wieder saß Oda auf dem Beifahrersitz, als sie zu Tomke Beenke fuhren, die in einem Appartement am Südstrand lebte.

»Die lütte Beenke weiß es schon«, sagte Oda unvermittelt. »Ich hab ihrer verweinten Stimme angehört, dass sie die traurige Nachricht schon erhalten hat. Bestimmt von ihrer Mutter. Ich frag mich nur, warum Tomke Beenke nicht sofort zu ihr gefahren ist.«

»Das wird sie uns bestimmt gleich erzählen«, antwortete Christine Cordes ziemlich emotionslos. »Ich müsste mal eben beim Bäcker anhalten, wenn das für Sie in Ordnung ist. Meine Brotbestände zu Hause könnten nicht mal eine Maus ernähren, und ich weiß ja nicht, wie lange wir heute arbeiten.«

Oda warf ihr einen schrägen Blick zu. »Von mir aus, aber selbst in Wilhelmshaven haben die Supermärkte bis einundzwanzig Uhr auf.«

Ihr Kommentar schreckte Christine Cordes nicht ab, zum Glück dauerte der Brotkauf jedoch nicht lang. Als sie über den Grodendamm fuhren, blickte Oda nach links über den Großen Hafen. Vereinzelte Segelboote lagen noch an der Marina, sicher hartgesottene Segler, die auch im Winter nicht auf ihren Sport verzichten wollten.

Ihrer Kollegin mochten die gleichen Gedanken durch den Kopf gegangen sein, sie sagte: »Es ist schon beeindruckend, wie viel Wasser Wilhelmshaven hat.«

»Na ja«, entgegnete Oda. »Das mag daran liegen, dass die Stadt am Jadebusen liegt.«

»Natürlich, aber für mich als Binnenländerin ist es jedes Mal wieder faszinierend. So nah hatten wir den Strand in Hannover nicht. Bis zum Maschsee waren wir immer eine knappe Dreiviertelstunde unterwegs.«

»Tja«, gab Oda lediglich zurück. Was sollte sie auch sonst dazu sagen? Es interessierte sie ehrlich gesagt nicht wirklich, wo und wie die Neue früher gewohnt hatte.

Einen Parkplatz in einer der Parkbuchten entlang der Straße zu ergattern, gestaltete sich als gar nicht so einfach, und so mussten sie ein gutes Stück laufen, bis sie den Apartmentkomplex aus roten Backsteinen und viel Glas erreichten, in dem Tomke Beenke lebte.

»Nicht schlecht«, meinte Christine Cordes, und Oda vermutete: »Da werden die Eltern wohl ordentlich zur Miete zubuttern müssen. Die Mutter hat doch beiläufig erwähnt, dass ihre Tochter noch nicht lange beim Wilhelmshavener Kurier arbeitet. Wohnungen in dieser Lage sind nicht gerade günstig.«

»Ich weiß«, bestätigte Christine Cordes. »Wir haben uns hier auch mal was angeguckt, als mein Mann nach Wilhelmshaven zog. Aber daraus ist nichts geworden.«

Sie stiegen die Stufen zum Eingang hoch, Christine Cordes suchte den Namen Beenke in der langen Reihe der Klingelschilder und drückte schließlich den Knopf. Fast augenblicklich wurde der Summer gedrückt. Als sie im vierten Stock aus dem Aufzug traten, war die gegenüberliegende Tür geöffnet. Die junge Frau in der Wohnungstür konnte Oda nicht nur am verweinten Gesicht als Tochter des Opfers erkennen, sie war eindeutig die Frau von dem Foto auf Beenkes Schreibtisch.

»Mein Beileid«, sagten sie und Christine Cordes gleichzeitig.

»Danke.« Tomke Beenke zog die Nase hoch und wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Augen. »Kommen Sie doch herein.«

Durch einen kurzen Flur gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen Ausblick Oda für einen Moment die Sprache verschlug. Natürlich kannte sie den Blick auf den Jadebusen. Nur nicht aus dieser Höhe. Das war schon beeindruckend. Unterhalb des Fensters robbte sich das Meer mit schaumbewehrten Wellenkronen ans Ufer heran, auf der anderen Seite des Jadebusens waren Dangast und die Windkrafträder in Butjadingen durch einen leichten Seenebelschleier zu erkennen.

»Schön haben Sie es hier«, sagte Christine Cordes.

»Finden Sie?« Tomke hörte einen Moment auf zu schniefen. »Ja, ist schon nicht schlecht, hier zu leben. Gibt Schlimmeres. Mein Vater hat die Wohnung gekauft. Ich darf hier wohnen.« Wieder zog sie die Nase hoch und ließ sich auf einen der beiden roten Sessel fallen. Oda blickte noch einen Moment aufs bewegte Wasser, während Christine Cordes auf der mit einem roten Laken verhüllten Couch Platz nahm.

»Ich kann gar nicht fassen, dass er tot ist«, flüsterte Tomke. Oda setzte sich in den anderen Sessel.

»Das glaube ich.« Christine Cordes sprach sanft. Wie zu einem Kind.

Oda vermutete, dass Tomke nicht allein wegen des Todes ihres Vaters Schwarz trug. Sie war das genaue Gegenstück zu ihrer weiß durchscheinenden Mutter. Die junge Frau war deutlich größer. Kräftiger. Sie ähnelte mehr ihrem Vater, obwohl ihr Haar blauschwarz gefärbt war. Zur verwaschenen schwarzen Jeans trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Saltatio Mortis« über einem ebenfalls schwarzen Sweatshirt. Saltatio Mortis. Hieß das nicht Totentanz? Was für ein irrwitziger Zufall, dass sie gerade heute dieses Shirt trug.

»Er fehlt mir jetzt schon.« Tränen liefen ungehindert Tomkes Wangen hinab. Ein Weinkrampf ergriff sie. Die Neue ließ ihr Zeit. Fehlte nur, dass sie Beenkes Tochter die Hand streichelte. Oda sah sich im Raum um. Ihr Blick blieb an zwei Fotos in schmalen Silberrahmen hängen, die auf einer schwarz gestrichenen alten Kommode standen. Neben den Fotos stand eine mit Wachs beträufelte Flasche, auf deren Hals eine halb abgebrannte schwarze Kerze steckte. Über der Couch hing ein auf Leinwand gemaltes Pentagramm.

»Haben Sie das gemalt?« Oda wollte das Heulen nicht länger angucken. Wenn die Neue schon nicht in die Pötte kam, musste sie eben tätig werden. Sie zeigte auf das Bild.

»Ja, mit Acrylfarbe.« Tomke Beenke sah von ihr zur Leinwand. »Man sieht es, nicht? Ist etwas stümperhaft, doch das ist egal. Es schützt mich vor dämonischen Mächten.«

»Ich dachte, ein Pentagramm wäre ein Symbol für die Anbetung Satans«, warf Christine ein.

»Nur, wenn eine Spitze nach unten zeigt«, entgegnete Oda. Vor Jahren hatte sie es mal mit einem Fall von Teufelsanbetung zu tun gehabt. Die Arbeit daran war ihr tatsächlich unter die Haut gegangen, und sie war mehr als erleichtert gewesen, als sie den Fall schließlich der Staatsanwaltschaft übergeben konnten.

Tomke nickte. »Stimmt. Bei zwei nach unten gerichteten Spitzen schützt es. Aber das wissen die meisten Leute nicht.«

Christine Cordes’ Blick wanderte jetzt auch auf die Fotos. Auf dem einen waren Tomke und ein junger Mann zu sehen, das andere zeigte sie mit ihrem Vater. Auch auf den Bildern war Tomke schwarz gekleidet, wirkte wie ein dunkler Schatten neben dem distinguierten John Beenke und dem salopp gekleideten jüngeren Mann. Alle hatten die gleiche Mundpartie, das gleiche Lächeln.

»Das sind schöne Aufnahmen«, lobte Christine Cordes.

»Ja, das Foto von Papa, Max und mir ist auf Spiekeroog entstanden, am Tag der Eröffnung seines Hotels.«

»Hat Ihre Mutter es geschossen?«, warf Oda ein.

»Meine Mutter? Nein.« Tomke Beenke sah Oda an, als sei das ein vollkommen abwegiger Gedanke.

Interessant, dachte Oda. »Haben Sie eine Ahnung, mit wem Ihr Vater sich so heftig gestritten haben könnte, dass die Situation derartig eskalierte?«, fragte sie.

Tomke schnaufte ins Taschentuch, steckte es in die Hosentasche und wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Augen. »Nein. Wirklich nicht. Ich habe gedacht, ich weiß alles über meinen Vater, aber … ich habe mich wohl geirrt.«

Christine Cordes zog den Lederblock aus der Tasche, klappte ihn auf und spielte mit dem Stift in der rechten Hand. »Wie war denn Ihr Verhältnis zu ihm?«

»Gut. Wir haben uns prima verstanden.« Tomke schniefte.

»Und Ihr Bruder?«

»Max? Der auch. Aber eher mehr auf Abstand. Liegt vielleicht auch daran, dass Max inzwischen auf Spiekeroog lebt. Wie gesagt, er leitet da das Hotel ›Deichblick‹. Ist ein kleines Hotel. Hat nur zwanzig Zimmer. Die sind aber jetzt alle renoviert worden und richtig stylish.«

»Das erwähnte Ihre Mutter bereits«, sagte Christine Cordes.

»Klar. Wie hätte ich nur daran zweifeln können. Mutter ist mehr als stolz auf Max. Das war sie immer schon.« Der Unterton in Tomkes Stimme schlug um. Gelangweilte Distanz wurde spürbar. Christine Cordes ging jedoch nicht darauf ein.

»Auf Sie ist sie bestimmt auch stolz.«

Oda konnte den weichgespülten Tonfall ihrer Kollegin nicht mehr ertragen. »Wie ist denn das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Bruder?«, fragte sie.

»Wieso?« Überrascht sah Tomke sie an.

»Nur so. Es klang gerade, als wäre das nicht so gut.«

»Och, nee, eigentlich verstehen wir uns. Aber wir sind halt total unterschiedlich.«

»Was ja nichts Schlechtes sein muss«, mischte sich Christine Cordes wieder ein. »Sagen Sie, Ihre Mutter erzählte, dass Sie beim Kurier arbeiten. Hat man Sie dort vom Tod Ihres Vaters in Kenntnis gesetzt, und Sie sind daraufhin nach Hause gefahren?«

»N… nein.« Jetzt zögerte Tomke. »Ich bin noch krankgeschrieben. Mein Vater hat mich erst gestern aus dem Krankenhaus abgeholt und zu Hause abgesetzt. Nächste Woche muss ich wieder zum Dienst.«

***

Im Foyer der Polizeiinspektion betrachtete ein Mann die dort ausgehängten Fahndungsplakate. Während Oda Wagner draußen noch eine Zigarette rauchte, lief Christine ins Gebäude und eilte an ihm und dem kleinen Glasfenster vorbei, hinter dem der Kollege Thomsen seinen Dienst versah. Was er ihr nachrief, hörte sie durch die dicke Panzerglasscheibe nicht, die den Eingangsbereich vom eigentlichen Polizeitrakt trennte. Christine musste dringend aufs Klo. Sie hätte zwar auch bei Tomke Beenke gehen können, doch das wollte sie nicht. Wirkte irgendwie unprofessionell. Außerdem war es ein gutes Beckenboden- und Blasentraining, hatte sie sich gedacht, als sie die Muskeln während der Rückfahrt anspannte. Nun lief sie, so schnell es ging, die schmale Treppe in den zweiten Stock hoch. Sie warf Jacke und Tasche auf ihren Schreibtisch und hetzte zur Toilette. Erleichtert kehrte sie kurze Zeit später zurück.

»Na, den Mörder schon gefasst?«, feixte Nieksteit, der ihr auf dem Flur entgegenkam.

»Klar, er sitzt schon mit Hand- und Fußfesseln im Verlies«, gab Christine fröhlich zurück. Der schlaksige Nieksteit war der Einzige, zu dem sie auf Anhieb einen freundschaftlichen Draht gehabt hatte. Stets sah er aus, als käme er direkt aus dem Bett: verknittert und meist mit einem Fleck auf dem Sweatshirt. Seine roten Haare erinnerten ebenso wie sein verschmitzter Gesichtsausdruck eher an Pumuckl als an einen Kommissar.

»Und … wie sieht es wirklich aus?« Nieksteit öffnete die Tür zur Personalküche und dann das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und beugte sich hinaus. In den Büros war das Rauchen schon seit geraumer Zeit untersagt, daher traf man Nieksteit oft in diesem Raum an, in dem er heimlich rauchte.

»Was du machst, ist erstens nicht gestattet und zweitens nicht gesund«, mahnte Christine. Ich benehme mich ja, als wäre ich seine Mutter, schalt sie sich augenblicklich. Dabei waren sie nur wenige Jahre auseinander. Auch wenn ihr Kollege durch seine Strubbelhaare und die Kleidung immer noch wie ein ewiger Student aussah.

»Ach, an irgendwas stirbt jeder«, antwortete Nieksteit leichthin. »Viele sterben an Krebs, einige durch Verkehrsunfälle, manche durch einen Herzinfarkt, wenige dürfen an simpler Altersschwäche sterben, und einige werden aus wie auch immer gearteten Gründen ermordet. Womit wir wieder beim Thema sind. Gibt’s denn schon ’ne Spur?«

»Ach, du weißt doch, wie das ist.« Christine wedelte mit der Hand den hereinziehenden Qualm fort. Hoffentlich fing der Brandmelder nicht jeden Moment zu piepen an. »Steht ja in den seltensten Fällen jemand in den Startlöchern und ruft ›Hallo, ich war’s‹. Außerdem ist es erst ein paar Stunden her, dass die Leiche gefunden wurde.«

»Du schaffst das schon.« Nieksteit schnippste die Kippe aus dem Fenster, ging zum Tisch und drückte ein paarmal auf die Taste eines Raumdufts, der sogleich ein künstliches Waldaroma in der Küche versprühte. »Lass dich bloß nicht von Oda verunsichern. Die ist im Prinzip ein Pfundskerl. Sie ist es nur nicht gewohnt, neben sich noch eine Frau in der Abteilung zu haben.« Er verdrehte die Augen und zwinkerte ihr zu. »Und was für eine …«

»Du Spinner!« Lächelnd gab Christine Nieksteit eine kleine Kopfnuss und ging zurück in ihr Büro.

»Waren Sie so lange auf dem Klo?« Oda Wagner saß bereits wieder an ihrem Schreibtisch. Ihr spitzer Kommentar erstickte Christines gerade noch zuversichtliche Haltung der Kollegin gegenüber im Keim. »Sie werden erwartet.«

»Von wem?« Christine sah Oda Wagner fragend an.

»Von der Lokalpresse, meine Liebe«, antwortete die so falsch, dass Christine unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Dann jedoch straffte sie den Rücken. Das war purer Neid, vermutete sie. Diese Oda konnte es einfach nicht verknusen, dass Siebelt ihr den Fall übertragen hatte. »Ach, schon lange?«, fragte Christine.

»Der Beamte an der Pforte sagt, seit zwanzig Minuten«, gab Oda Wagner zurück. Ihre Kollegin übertrieb gerne, das hatte Christine in den letzten Tagen mitbekommen.

»Sie sind übrigens auf dem Weg zum Klo an ihm vorbeigerannt. Und wo der Chef nicht da ist, Ihnen aber die Leitung der Ermittlungen übertragen hat, will ich mich natürlich nicht vordrängeln.« Oda Wagner beugte sich über den Schreibtisch, die Arme auf der Tischplatte verschränkt, sodass ihr voluminöser Busen darauf auflag.

»Ist der Journalist jetzt im Besprechungszimmer?«, fragte Christine.

Oda Wagner nickte. »Ich kann natürlich mitkommen. Der Typ ist neu. Der war hier noch nie zu einem Pressetermin. Kommt wahrscheinlich auch aus Hannover. So, wie der auftritt …«

»Lassen Sie mal, ich schaff das schon allein.« Christine lächelte genauso falsch wie Oda Wagner. Dieser Fall war ihre Chance, sich in Wilhelmshaven zu beweisen, und die würde sie sich nicht verderben lassen.

Im Besprechungszimmer roch es nach Kaffee. Irgendwer – Christine vermutete, es war Nieksteit – hatte eine Thermoskanne, Tassen, Zucker, Milch und Kekse auf den furnierten Eichentisch gestellt, der, wie das restliche Mobiliar des Raumes, aus den fünfziger Jahren zu stammen schien. Bekanntlich war das Geld bei den Behörden immer knapp; an der Einrichtung wurde am ehesten gespart. Wir können froh sein, dass wir überhaupt schon Computer haben, statt noch auf klapprigen Schreibmaschinen rumzuhacken, dachte Christine. Der Mann, der am runden Tisch auf einem Block herumkritzelte, war der, den Christine vorhin flüchtig unten im Foyer gesehen hatte. Sie ersetzte das falsche durch ein echtes Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Kriminaloberkommissarin Christine Cordes, ich leite die Ermittlungen in diesem Fall«, begrüßte sie ihn. »Guten Tag, Herr …«

»Töpfer. Jürgen Töpfer.« Der Mann stand auf. »Vom Wilhelmshavener Kurier. Aber machen Sie jetzt bloß keinen Witz über meine Urahnen. Die kenne ich schon alle. Also, die Witze, nicht die Ahnen.«

Christine schmunzelte. »Nehmen Sie doch gern wieder Platz. Sie sind so wie ich neu in Wilhelmshaven, sagte meine Kollegin.«

»Ach, hat sie das sofort erkannt?« Töpfer klang amüsiert.

»Sie hat anscheinend einen Blick für Auswärtige.« Christine setzte sich ebenfalls. »Womit kann ich Ihnen helfen?«

»Es geht um den Mord an Dr. Beenke, wie Sie sich denken können. Wir hätten gern Informationen. Schließlich interessiert unsere Leser, was ihm zugestoßen ist.«

»Tja, außer dass er tot aufgefunden wurde, kann ich Ihnen im Moment leider nicht viel sagen. Wir müssen das Ergebnis der Obduktion abwarten. Dann wissen wir mehr. Das verstehen Sie sicher.« Christine goss Kaffee in die Tassen und schob dem Journalisten Milch und Zucker rüber. Ihr Magen knurrte. Rasch griff sie nach einem der Kekse und biss hinein.

»Sie tappen also noch im Dunkeln. Keine erste heiße Spur?«, fragte Töpfer.

»Wie es in solchen Fällen eben so ist. Das müssten Sie eigentlich wissen.« Christine sah ihm direkt in die Augen und verlieh ihrer Stimme einen etwas tieferen Tonfall. »Oder waren Sie bislang eher für Klatschspalten und die Berichterstattung über das Privatleben der Politiker zuständig?«

»Hehe, junge Frau. Nicht so biestig.« Lächelnd trank Jürgen Töpfer einen Schluck Kaffee. »Natürlich kenne ich mich in der Berichterstattung über Mordfälle aus. Genau wie in der für die Klatschspalten. Das zeichnet uns Journalisten doch aus, wie man landläufig weiß. Mit dem Privatleben unserer Politiker hab ich mich zugegebenermaßen weniger beschäftigt. Aber das mag noch kommen. In einer Stadt wie Wilhelmshaven ist man an diesem Thema garantiert viel näher dran.« Er grinste breit.

Christine lächelte ebenfalls. »Sagen Sie, warum drehen wir den Spieß nicht einfach um, und Sie verraten mir, was Sie über Dr. Beenke wissen? Als Lokalredakteur werden Sie mir garantiert eine Menge über den öffentlichen Menschen John Beenke sagen können. Vielleicht sogar mehr als das, was in der Zeitung stand.« Christine nahm ein zweites Vanillekipferl. Das Magenknurren beruhigte sich erfreulicherweise allmählich.

»Lokalredakteur. Warum klingt es aus Ihrem Mund so abwertend?«

»Entschuldigung, das war absolut nicht so gemeint«, rechtfertigte Christine sich.

»Schon gut. Bedauerlicherweise kann ich Ihnen da allerdings nicht weiterhelfen. So gerne ich auch würde.« Töpfer zuckte mit den Schultern. »Ich bin nämlich erst seit Kurzem in der Stadt. Da fehlt mir noch das Insiderwissen über die hiesigen Seilschaften. Aber natürlich versuche ich, darüber mehr zu erfahren. Ich höre mich gern für Sie um. Und werde die Kollegen der Redaktion ausquetschen wie Zitronen. Im Archiv forsche ich ebenfalls nach. Und ich verspreche, Sie anzurufen, sobald ich etwas erfahre, das für den Fall relevant ist. Wir Wilhelmshavener Neulinge müssen doch zusammenhalten! Und es den einheimischen Urgesteinen bei der Zeitung und der Polizei zeigen! Kann ich davon ausgehen, dass Sie mich im Gegenzug ebenfalls informieren?«

Sein aufgesetzt naiver Hundeblick amüsierte Christine. »Ich fürchte, davon können Sie leider nicht ausgehen. Aus …«

»… ermittlungstechnischen Gründen. Ich weiß«, ergänzte Töpfer seufzend. »Aber einen Versuch war die Frage wert. Oder?«

»Selbstverständlich.« Christine lächelte und stand auf. »Je eher daran, desto eher davon, sagt meine Oma immer.«

Auch Töpfer schnappte seine Unterlagen und erhob sich. In der Tür stoppte Christine. Töpfer, der damit nicht gerechnet hatte, wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen. »Aber wissen Sie was«, flüsterte sie ihm vergnügt zu, »wenn ich den Täter habe, rufe ich Sie sofort an.«

***

»Was hatten Sie denn mit dem zu flüstern?«, fragte Oda skeptisch, als sie aus der Küche auf den Flur trat und Christine Cordes mit dem Journalisten tuscheln sah.

»Ach, nichts Wichtiges. Ich habe nur versprochen, ihn anzurufen, sobald ich den Täter habe«, antwortete die Neue und lächelte.

»Der Typ scheint Ihnen ja sehr sympathisch zu sein.« Oda verzog spöttisch den Mund. »Na, zwei Neulinge in einer Stadt, da rückt man wohl automatisch gegen die Front der Einheimischen zusammen.«

Christine Cordes lachte auf. »Ist es wirklich so schlimm hier? Das kann ich kaum glauben.« Das Gespräch mit dem Journalisten schien ihr gutgetan zu haben. In diesem Moment war sie Oda beinahe sympathisch. Gemeinsam gingen sie ins Büro zurück, wo Christine Cordes nur eben ihren Block auf den Schreibtisch legte und wieder hinauslief.

»Ich stelle schnell noch die benutzten Tassen in die Geschirrspülmaschine«, sagte sie erklärend beim Rausgehen. »Nicht dass man mir noch vorwirft, ich lasse hinter mir herräumen.« Dabei schmunzelte sie.

Als Christine Cordes wieder an ihrem Schreibtisch saß, fragte sie: »Ist eigentlich der Obduktionsbefund aus Oldenburg inzwischen da?«

»Nein, aber Krüger hat zu Siebelt gesagt, wir können heute Nachmittag mit dem Ergebnis rechnen.«

»Gut. Dann rufe ich bei dem Kuratoriumsvorstand an, diesem Diersen, bevor ich gleich zu Tisch gehe. Wir sollten nachher unbedingt noch mit ihm sprechen.«

»Das habe ich bereits getan«, erwiderte Oda mit leichtem Spott in der Stimme. »Diersen hat um halb zwei Zeit für uns. Bin gespannt, was er über den Stress erzählt, den er mit Beenke hatte.«

***

Henner Diersens Sekretärin empfing sie im eleganten, mit Kirschbaum-Inventar und blauem Veloursteppich ausgestatteten Empfangsbereich der Kanzlei. Ein angenehm würziger Geruch lag in der Luft. Die Brünette stöckelte auf Stilettos durch einen mit weißer Glasfaser tapezierten Flur und ließ sie in ein Büro eintreten, dessen Großzügigkeit Christine neidisch machte. Wenn sie da an ihr eigenes beziehungsweise an das dachte, das sie sich mit Oda Wagner teilen musste …

Dieses schätzte sie auf mindestens dreißig Quadratmeter. Ein riesiger Schreibtisch bildete das Zentrum, zwei elegante Sessel standen davor. Über einem Sideboard an der linken Wand hing ein Ölgemälde mit Segelschiffen auf aufgewühlter See. Die rechte Wand wurde ebenso wie die dem Flur zugewandte Seite von Einbauschränken und Regalen voller Aktenordner ausgefüllt. Überflüssiger Schnickschnack fehlte, der Raum strahlte männliche Dominanz und Nüchternheit aus.

Der dunkelhaarige Mann hinter dem Schreibtisch überraschte Christine. Sie hatte damit gerechnet, dass der Kuratoriumsvorsitzende im gleichen Alter wie Dr. Beenke sein würde, sah sich jedoch einem Mann gegenüber, der die vierzig vielleicht gerade überschritten hatte.

»Wie schön, dass Sie es ermöglichen konnten, sich nach meinem Terminplan zu richten.« Diersen kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Damit haben Sie mir sehr geholfen.« Er schüttelte Oda Wagner und Christine die Hand. »Denn so kurzfristig den Mandantentermin zu verlegen, wäre schwierig gewesen.«

Christine und Oda Wagner hatten ihre Mittagspause gekürzt, da Diersens Sekretärin am Telefon erklärt hatte, es sei für ihren Chef unmöglich, einen wichtigen Termin zu verschieben. Anwälte, hatte sie gedacht. Halten sich immer für etwas Besonderes. Nur mein Frank nicht.

Diersen deutete auf die beiden Schwingsessel vor seinem Schreibtisch und setzte sich wieder dahinter.

»Kein Problem. Die Kripo kann flexibel sein.« Christine lehnte sich entspannt zurück. »Und wir hoffen, dass Sie jetzt auch uns helfen können.«

»Bestimmt wissen Sie bereits, dass Dr. Beenke heute früh tot im Museum aufgefunden wurde?«, fragte Oda Wagner.

Diersen nickte betrübt. »Ja. So was verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Grauenhaft. Wer kann das nur getan haben?«

Christine sah ihr Gegenüber unverbindlich an. »Wir stehen noch am Anfang unserer Ermittlungen. Aber vielleicht waren Sie es ja und möchten nun ein umfassendes Geständnis ablegen?« Sie lächelte bei diesen Worten.

Diersen lachte kurz auf. »Geständnis? Ich? Warum sollte ich Beenke töten?«

»Wer weiß? Wir hörten, es gab Unstimmigkeiten. Oder sollten wir es Hahnenkämpfe um die Herrschaft über das Museum nennen?«

»Ach, hören Sie auf.« Diersens Nonchalance verschwand. »Natürlich gab es dann und wann Unstimmigkeiten zwischen der Museumsleitung und dem Kuratorium. So etwas gibt es überall und jeden Tag. Aber werden deshalb gleich alle Museumsdirektoren oder Kuratoriumsmitglieder umgebracht? Nein.« Er hob die Hände wie ein Priester beim Segen. »Ich gebe zu, Dr. Beenke und ich standen uns nicht sonderlich nahe. Wir schätzten uns, was das Fachliche anging, aber darüber hinaus verband uns nichts. Natürlich trafen wir uns oft auf den gleichen Veranstaltungen, das ist nun mal so in Wilhelmshaven. Man trifft sich, das ist unausweichlich. Aber auch nicht schlimm. Es ist das Schöne an dieser Stadt, dass sie so intim ist. Wissen Sie, ein guter Freund von mir hält sich mehrere Monate im Jahr in Ascona auf. Anfangs hat er es genossen, quasi inkognito zu sein. Inzwischen vermisst er die zufälligen Treffen, die zu Gesprächen oder einem kurzen Kaffeehausbesuch führen. Er ist sich des Wertes einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt, jetzt sehr bewusst.«

»Jeder jeden? Ich denke, da gibt es sicher nur gewisse Kreise, in denen man sich kennt.« Typisch Oda Wagner, dachte Christine. War ja irgendwie klar, dass die bei einer solchen Aussage gleich dagegen anwetterte.

»Nun ja, ich kann eben nur von den Kreisen ausgehen, in denen ich mich bewege.«

Arroganter Schnösel, dachte nun auch Christine, behielt ihre Meinung jedoch für sich. »Kommen wir zurück zum Thema«, bat sie. »Gab es in letzter Zeit besonders heftige Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und Dr. Beenke?«

»Nicht mehr als die üblichen«, antwortete Diersen. »Es gab jedes Mal ein gewaltiges Hin und Her vor neuen Ausstellungen. Beenke wollte grundsätzlich mehr Geld, als im Etat vorgesehen war. Dabei stehen auch uns nur begrenzte Mittel zur Verfügung.« Er lächelte süffisant. »Wir können nicht so mit unserem Geld aasen wie der Staat.«

Christine ignorierte die Spitze. »Gab es denn für die geplante Ausstellung ›Kirche, Kunst und Küste‹ ungewöhnlich hohe finanzielle Forderungen vonseiten Dr. Beenkes?«

»In der Tat.« Diersen legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Dr. Beenke wollte in diesem Fall den Etat um einiges überziehen. Selbstverständlich kam es deswegen zu Differenzen.«

»Und diese Differenzen führten gestern zu einer tödlichen Auseinandersetzung.« Oda Wagner mischte sich ein. Sie fragte nicht, sie stellte fest.

»Wie bitte?«

»Immerhin waren Sie der Letzte, der Dr. Beenke lebend gesehen hat. Sieht so aus, als seien Sie derzeit unser Hauptverdächtiger.« Oda Wagner lächelte herausfordernd.

»Moment!« Diersen wirkte sichtlich entrüstet. »Also, ich sitze ja nicht allein im Kuratorium. Auch die anderen Kuratoriumsmitglieder waren dagegen, dass Beenke wieder einmal den Etat überzog. Ich war lediglich derjenige, der berufsbedingt den engsten Kontakt zu Dr. Beenke hatte. Fragen Sie doch Merkens, Burmann und Fischer.«

»Das werden wir tun, Herr Diersen«, sagte Christine freundlich, bevor ihre Kollegin reagieren konnte. Sie würde sich von der nicht an die Seite drängen lassen. »Darauf können Sie sich verlassen.«

»Er lebte noch, als ich ging, das müssen Sie mir glauben«, sagte Diersen kühl. »Es muss noch jemand nach mir da gewesen sein.«

***

Tomke Beenke saß auf der Couch und starrte aus dem Fenster auf die graubraune Nordsee. Die Elemente schienen sich austoben zu wollen, der Wind nahm Orkanstärke an. Der Parkplatz vor dem Seewasseraquarium war vorsorglich gesperrt worden, wie sie vorhin im Radio gehört hatte. Unterhalb ihres Fensters, auf dem Fliegerdeich, standen jedoch etliche Fahrzeuge. Menschen, die sich aus dem geschützten Auto heraus das Naturschauspiel ansehen wollten.

Tomke hatte die Ärmel ihres schwarzen Pullovers bis zu den Fingerknöcheln gezogen. Sie griff nach ihrem Becher, in dem der Tee kalt geworden war. »Kannst du dir vorstellen, dass er jetzt nicht mehr für uns da ist?«, fragte sie ihren Bruder, der auf einem der Sessel saß. »Nie mehr?«

»Er war noch nie für mich da.« Max Beenke sprach nüchtern, ohne erkennbare Emotionen. Er hatte weder geweint, als er bei Tomke ankam, noch gab es äußerliche Kennzeichen der Trauer. Max trug seine üblichen Blue Jeans, dazu ein weiß-blau gestreiftes Hemd und ein Sakko, das er allerdings abgelegt hatte, als er sich setzte. Seine dunkelblonden Haare, die Tomke liebevoll als straßenköterfarben bezeichnete, waren kinnlang und hinter die Ohren geklemmt.

Tomke war schon immer stolz auf ihren großen Bruder gewesen. Wenn sie ihn nun ansah, regte sich ein Funken Bedauern in ihr. Bedauern darüber, dass er keine feste Freundin hatte, die ihm in dieser Situation Halt geben könnte. Sicherlich war da die eine oder andere Frau gewesen, aber es hatte nie lange gehalten. Genau wie bei ihr. Vielleicht waren sie beide beziehungsunfähig? Wie hieß es doch: So, wie die Eltern es vorleben, machen es auch die Kinder. Tomke hatte ihre Eltern selten miteinander lachen sehen, selten eine Verbundenheit zwischen ihnen festgestellt. Sie waren einfach nur zwei Erwachsene, die mit ihren Kindern unter einem Dach lebten. Ob sie sich zumindest aufrichtig geliebt hatten, als sie geheiratet hatten?

»Natürlich war Papa für dich da, Max«, rügte sie ihn nun. »Genau wie für mich.«

»Für dich. Ja. Da war er immer da. Wenn seine Principessa etwas wollte, dann sprang er. Aber bei mir? Wann war er jemals ein Vater für mich? Wann hatte er Zeit? Da war immer erst seine Arbeit, dann kamst du und dann lange nichts mehr.«

»So darfst du nicht reden, Max!« Tomkes Stimme nahm einen leicht hysterischen Tonfall an. »Er hat dich genauso geliebt wie mich. Das weiß ich.«

»Gezeigt hat er es nie.«

»Vielleicht wart ihr euch zu ähnlich«, sagte Tomke besänftigend. »Ihr habt beide die gleiche Art, seid starrköpfig und wollt euren Willen durchsetzen. Und ihr habt es ja auch immer geschafft. Auf die eine oder andere Weise.«

»Quatsch, mit unserem Vater habe ich nicht die geringste Ähnlichkeit. Ich will sie auch gar nicht haben. So wie er wollte ich nie werden. Aber das ist ja nun hinfällig. Ich muss mich nicht mehr nach seinen Ansprüchen richten, mich nicht mehr von ihm an der Erfolgslatte messen lassen. Ich bin frei.« Max atmete tief durch.

»Max!« Tomke weinte. »Du darfst so nicht sprechen, das macht mir Angst.«

Sofort beugte sich Max vor und streichelte ihre Hand. »Das will ich nicht, Tomke, du brauchst keine Angst zu haben. Ich passe von nun an auf dich auf. Wirst sehen, wir können auch sehr gut ohne Papa leben.«

»Aber …«

»Schhhh …« Max setzte sich zu ihr auf das Sofa und nahm sie in den Arm. Tomke schmiegte sich an ihn. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Das tat gut. Sie fühlte, wie sie etwas ruhiger wurde.

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Christine parkte ihr Peugeot Cabrio in der Auffahrt ihres Hauses. Frank war noch nicht da, zumindest stand sein Auto nicht in der Garage. Es war spät geworden, sie hatte ihren Vorsatz, noch Aufschnitt zu kaufen, auf morgen verschoben. Zumindest das Brot war ja frisch, und die Reste von Käse und Schinken würden für heute Abend reichen.

Vielleicht hatte Frank noch Lust, essen zu gehen, obwohl er in der letzten Zeit immer müde und abgekämpft aus dem Büro kam. Er kniet sich viel zu sehr in seine Arbeit, dachte Christine, als sie den Schlüssel aus der Tasche kramte und die Tür aufschloss. Im Moment hatten sie fast genauso wenig Zeit füreinander wie früher, als sie noch in Hannover wohnte. Aber das würde sich sicher einspielen.

Als sie das Licht im Flur anmachte, verglich sie ihr Heim unwillkürlich mit dem der Beenkes. Natürlich war der Maadebogen keine so exklusive Wohnlage wie das Villenviertel, hier wohnten überwiegend jüngere Familien. Und selbstverständlich konnte man den Neubau mit Sprossenfenstern in der Sven-Hedin-Straße nicht mit der Villa in der Kantstraße vergleichen. Ganz sicher käme auch niemand auf die Idee, ihre Einrichtung in einem Hochglanzmagazin für schöneres Wohnen abzulichten, aber ihr Haus strahlte Gemütlichkeit aus. Wärme. Man sah ihm an, dass hier gelebt wurde. Auch wenn der sichtbare Beweis dafür gerade aus dem Korb mit leeren Flaschen bestand, den sie heute Morgen vergessen hatte mitzunehmen.

Christine zog ihre Pumps aus, ging die hölzerne Treppe hinauf ins Schlafzimmer und tauschte das Kostüm gegen den kamelfarbenen Nickianzug, den sie in der letzten Vorweihnachtszeit gekauft hatte. Dann lief sie wieder nach unten, nahm aus ihrer Tasche einen Umschlag und legte ihn auf den Wohnzimmertisch. Er enthielt den Obduktionsbericht, der erst kurz bevor sie Feierabend gemacht hatte per Fax gekommen war.

Sie dimmte das Licht, zündete die beiden Kerzen auf dem Tisch an und setzte sich mit angezogenen Beinen auf die Couch. Einen Moment betrachtete sie den weißen DIN-A4-Umschlag. Ob der Inhalt sie weiterbringen würde? Sie zog die Blätter heraus, auf denen Dr. Krüger seinen Bericht verfasst hatte.

Neben der Wunde an der Stirn gab es Spuren von vier Schlägen auf Beenkes Hinterkopf. Einer davon war so stark gewesen, dass er zu den Gehirnblutungen geführt hatte, die durch ein bisher wohl unbemerktes Aneurysma verstärkt worden waren. Körpertemperatur und Mageninhalt begrenzten die Todeszeit auf die Zeitspanne von siebzehn Uhr dreißig bis neunzehn Uhr. Außerdem konnten im Intimbereich des Toten Spuren von Gleitmittel sichergestellt werden. Dr. John Beenke, der verheiratete Museumsdirektor, hatte vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. Christine war baff. Mit seiner Frau hatte Beenke sicher nicht geschlafen, so wie die von ihrer Ehe erzählte. Obwohl: Hätte sie etwas so Intimes erwähnt? Bestimmt nicht.

Christine legte den Bericht beiseite. Wo Frank nur blieb … Es war schon fast halb neun. Sie überlegte, ihn auf seinem Handy anzurufen, wusste aber, dass er das Telefon nur ungern mitnahm. Meistens ließ er es irgendwo liegen. Überwiegend zu Hause. Oder in der Kanzlei. Oft hatte sie es im Haus klingeln gehört, wenn sie seine Nummer gewählt hatte. Frank war absolut kein Freund der modernen Technik. Mit seinem Computer stand er beinahe auf Kriegsfuß, benutzte ihn zu Hause nie und konnte im Büro auch nur die Programme bedienen, die für seine Arbeit unerlässlich waren. Ob sie einfach mal im Büro anrufen sollte?

Christine griff zum Telefon, das neben ihr auf der schon leicht speckigen dunkelbraunen Ledercouch lag. Frank liebte dieses Möbelstück. Mehrfach hatte Christine versucht, ihn zu einer neuen Garnitur zu überreden, doch er beharrte darauf, dass dieses Teil blieb. Sie hatten es für ihre erste gemeinsame Wohnung in Hannover gekauft, als er noch Student und das Geld knapp gewesen war. Frank machte sich nicht viel aus Luxusgütern, genauso wenig wie aus gepflegter Wohnkultur. Wenn er abends zu Hause war, zog er gleich seinen Schlafanzug unter den marineblauen Bademantel, während Christine erst einen Hausanzug wählte. Das sei unnützes Umziehen, meinte Frank, im Schlafanzug fühle er sich genauso wohl. Außerdem müsse, wer abends unverhofft zu Besuch käme, damit rechnen, den Hausherrn bettfertig vorzufinden. Punkt. Und dieses Sofa gehörte zu ihm. Er würde sich mit Händen und Füßen wehren, falls jemand auf den Gedanken käme, es auszutauschen. Dabei hatte Christine letztens im Prospekt eines Möbelhauses eine wunderbare Garnitur in Eierschalfarbe gesehen … Sie seufzte, wählte seine Nummer in der Kanzlei, doch auch nach neunmaligem Läuten nahm dort niemand ab. Wahrscheinlich war Frank schon auf dem Heimweg.

Ihr Magen meldete sich. Sie ging in die Küche und schmierte Brote. Zum Glück waren noch drei Tomaten im Kühlschrank, die sie viertelte, mit Basilikumblättern dekorierte und an den Tellerrand legte. So sah das Mahl nicht ganz so armselig aus. Franks Teller deckte sie mit Zellophanfolie ab, ließ ihn stehen und kuschelte sich im Wohnzimmer wieder auf die Couch.

Sie musste eingenickt sein, denn sie zuckte zusammen, als Frank den Fernseher anmachte und sich in den Sessel fallen ließ. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es kurz nach zehn war. »Hey«, sagte sie zärtlich, setzte sich auf und beugte sich zu ihm. »Krieg ich denn gar keinen Kuss?«

Frank wandte ihr unbeteiligt das Gesicht zu, sie küsste ihn zart auf den Mund und streichelte ihm über die Wange. »Ist ja schon wieder so spät geworden.«

»Kann ich auch nichts dran ändern.«

»Das war doch kein Vorwurf.« Enttäuscht über seine Reaktion setzte Christine sich wieder. Was war denn falsch daran, so etwas zu sagen? Überhaupt hatte sie in letzter Zeit das Gefühl, sie machte in Franks Augen alles verkehrt.

»Hmm.« Frank starrte auf den Fernseher, in dem eine Comedy-Sendung lief. Christine sah ihn nachdenklich an. Er arbeitete einfach zu viel. Es wurde dringend Zeit, dass er mal wieder Urlaub machte. Nur würden sie damit warten müssen, denn sie musste sich erst einmal in der neuen beruflichen Umgebung eingewöhnen. Vielleicht konnten sie zumindest übers Wochenende mal irgendwo hinfahren. Auf eine der Ostfriesischen Inseln. Da hätten sie keine lange Anreise und wären komplett raus.

Gerade, als sie ihm einen Wochenendausflug vorschlagen wollte, stand Frank auf. »Ich geh ins Bett. Bin hundemüde.« Er lief an ihr vorbei. Kein Kuss. Nichts. Sein leeres Rotweinglas blieb neben dem Teller auf dem Tisch stehen.

Ein paar Minuten versuchte Christine noch, sich auf die Show zu konzentrieren, doch dann drückte sie die Aus-Taste der Fernbedienung. Sie räumte das Geschirr in die Küche, ging ins Bad und schminkte sich ab. Natürlich hatte sie Frank und auch sich selbst eine Umgewöhnungszeit an das Wiederzusammenleben eingeräumt. Aber diese Zeit müsste inzwischen vorbei sein. Sie zog den Nickianzug aus und schlüpfte in ihr Nachthemd. Im Schlafzimmer brannte kein Licht mehr, Frank schlief. Sei nicht so mädchenhaft, Ehen sind nun mal so, hörte sie die Stimme ihrer Oma, als sie hellwach im Bett lag. Nimm endlich die rosarote Brille ab, Kind.

***

»Na, Mama, ist ja spät geworden«, begrüßte Alex Oda, als sie die Wohnung betrat. Er sah ihr von der Küchentür aus entgegen, ein Glas Cola in der Hand. »Gab’s was Besonderes?«

»Einen Toten im Nordseemuseum.« Oda nahm Alex das Glas aus der Hand und trank einen Schluck. »Der Direktor.«

»Nee, sag bloß, ein Mord?«

»Jo.«

»Mit viel Blut?«

»Alex!« Ihr sechzehnjähriger Sohn hatte derzeit eine Vorliebe für blutrünstige Filme, Bücher und ebensolche Musik. Gemeinsam mit seinen Freunden Kurtchen und Björn spielte er in einer Band Black Metal. An sich mochte Oda diese Musik nicht, doch wenn Alex auf der Bühne stand, seine blonden Wuschellocken mit Gel glatt auf dem Kopf gebändigt und das Gesicht schwarz-weiß angemalt, dann war sie stolz wie Oskar. Sie drückte ihm das Glas wieder in die Hand, schnappte sich den Wasserkocher, füllte Wasser hinein und stellte ihn an. »Trinkst du einen Tee mit?«

»Ich hab ja die Cola.« Er griente. »Zumindest das, was du mir übrig gelassen hast.«

»Ist doch bestimmt noch mehr da. Wie sieht’s mit Abendbrot aus?«

»Joa, da bin ich dabei.«

»Dann fang schon mal an, den Tisch zu decken.« Oda nahm einen Teefilter aus dem Schrank und gab Teeblätter hinein.

»Was war denn nun mit dem Museumsdirektor?«, bohrte Alex nach, während er Holzbrettchen und Messer auf den Tisch legte und Aufschnitt und Käse aus dem Kühlschrank nahm.

»Das war echt bizarr. Der saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch, den Kopf auf der Glasplatte. Ich hab mich hingehockt, da konnte ich sein Gesicht von unten inmitten des Blutes sehen, das um seinen Kopf verteilt war. Irgendwer hat ihm mit einem Gegenstand mitten auf die Stirn geschlagen.«

»Krass.« Alex schnitt ein paar Scheiben Gurke ab und steckte sich eine in den Mund. »Aber ihr wisst noch nicht, wer der Täter ist?«

»Nee.« Oda goss das kochende Wasser über die Teeblätter.

»Und wie war deine neue Kollegin heute? Hast du das Gefühl, dass es langsam besser wird zwischen euch?« Alex ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und streckte die Füße von sich.

Oda atmete tief ein. »Die kam heute im Mäntelchen mit Kostüm und High Heels ins Büro. Muss ich noch mehr sagen?«

Alex prustete los. »Nee. Alles klar. Das passt nun wirklich nicht. Macht die gleich einen auf Chefin, oder was?«

»Ich weiß es nicht. Die ist so distanziert … Ich kann sie schwer einordnen. Auf jeden Fall geht mir ihre Art gehörig auf den Senkel.« Der Tee war fertig, Oda nahm den Beutel heraus und goss sich in den Becher mit dem Glückspilz ein, den sie zu ihrem letzten Geburtstag von Alex geschenkt bekommen hatte.

Mord am Jadebusen

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