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Placido kommt

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Durch einen Glücksfall erlebte Julia am nächsten Tag die Ankunft des neuen Pferdes mit. Sie sollte bei den Theoriestunden zum Reitabzeichen mitmachen – die Reiterpaßgruppe hatte ihren Unterricht am späten Abend – und wollte Kathi vorher beim Reiten zusehen. Der Unterricht in der Halle langweilte das Mädchen aber bald, und so streifte sie durch die Ställe und besuchte die Pferde.

Die Box, in der Frau Medanz’ Stute Prinzessin gestanden hatte, war sauber und frisch eingestreut. Frau Medanz brachte gerade ein neues Namensschild davor an. Leider war sie ebenso aufgeregt wie handwerklich ungeschickt. Zunächst schlug sie einen Nagel schief, dann fiel das Schild scheppernd herunter. Das Pferd in der Nachbarbox schnaubte nervös.

»Soll ich mal halten?« fragte Julia.

Frau Medanz sah auf. Sie war eine kleine Frau mit eher rundlichen Formen. Ihr Gesicht wirkte konzentriert und angespannt unter dem reichlich aufgetragenen Make-up.

»O ja, das wäre nett. Ich könnte ja den Stallmeister rufen oder auf Herrn Holthoff warten, aber ich möchte doch alles fertig haben, wenn er kommt.«

Frau Medanz warf einen verliebten Blick in die Box, als stände ihr neues Pferd schon darin.

›Placido‹ las Julia auf den Namensschild. Rasse: Andalusier. Geschlecht: Hengst.

»Wirklich ein Hengst aus Spanien?« erkundigte sie sich.

»Nicht direkt aus Spanien. Er kommt jetzt aus Hannover. Aus einem Andalusierverkaufszentrum. Aber ursprünglich stammt er aus Andalusien. Er ist hinreißend! Ah, ich glaube, ich höre den Wagen!«

Ohne Julia, dem Schild und den Werkzeugen noch einen Blick zu gönnen, eilte Frau Medanz aus dem Stall. Julia brachte Hammer und Nägel schnell in die Sattelkammer und lief dann auch hinaus. Auf keinen Fall wollte sie das Ausladen Placidos verpassen.

Tatsächlich fuhr draußen ein Transporter vor. Herr Friedhelm, ein anderer Privatpferdereiter, hatte häufig in Norddeutschland zu tun und brachte das Pferd für Frau Medanz mit. Schwungvoll parkte er sein Gespann vor dem Reitstall und stieg aus, um Frau Medanz zu begrüßen.

»Ein prachtvolles Pferd, Linde, wirklich. Aber nicht ohne! Der poltert dahinten nicht schlecht!«

Tatsächlich tönten Hufescharren und Schnauben aus dem Hänger, und nun wieherte das Pferd auch noch durchdringend.

»Wir sollten ihn rausholen, bevor er was zerschlägt«, schlug Herr Friedhelm vor, machte aber keine Anstalten, den Transporter zu öffnen. Frau Medanz nickte und blieb ebenfalls stehen.

»Er wird doch wohl nichts tun, wenn ich da reingehe?« fragte sie unschlüssig. »Immerhin ist er ein Hengst!«

»Vielleicht sollten wir auf Herrn Holthoff warten«, überlegte auch Herr Friedhelm.

Placido wieherte erneut, und ein kleines Mädchen lief den Reitlehrer holen.

»Er will raus«, stellte Julia fest. »Der Transporter nervt ihn. Sobald er hält, machen viele Pferde so ein Theater. Sogar Danny mag nicht gern in dem Kasten rumstehen. Soll ich ihn ausladen?«

Julia hatte keinen besonderen Respekt vor Hengsten. Ihr früheres Pflegepony Stormy hatte man auch nicht kastriert, und sie war trotzdem mit ihm ausgekommen. Von Ferienaufenthalten in einem Westernreitstall war sie es auch gewohnt, mit einem Quarter-Horse-Hengst umzugehen. »Besser ein gut erzogener Hengst als ein schlecht erzogener Wallach«, pflegte die dortige Reitlehrerin zu sagen.

»Du willst da rein?« fragte Frau Medanz ungläubig, während Placido erneut polterte.

»Klar«, meinte Julia. »Machen Sie nur eben die Klappe auf.«

Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, schlüpfte sie durch das Seitentürchen in den Hänger. Unversehens fand sie sich einem großen Braunen mit langer, lockiger Mähne gegenüber. Das Pferd stellte die Ohren auf und hörte sofort auf zu scharren, als Julia es losband. Herr Friedhelm hatte inzwischen die Klappe geöffnet, und Julia führte das Pferd herunter.

»Was zum Teufel soll das?«

Kaum, daß sie die Klappe hinter sich gelassen hatte, wurde Julia von Herrn Holthoffs Gebrüll begrüßt. Der Reitlehrer hatte eine geübte Stimme und übertönte mühelos den Schrei des Hengstes, der den anderen Pferden lauthals seine Ankunft meldete.

»Sei still!« sagte Julia beruhigend zu Placido und wappnete sich gegen eine Standpauke des Reitlehrers. Hinter Herrn Holthoff waren eben die Mädchen der Reitabzeichenabteilung aufgetaucht. Jetzt würde er sie wieder einmal vor Petra und den anderen abkanzeln.

Zur Abwechslung konzentrierte Herr Holthoff sich aber nicht auf Julia, sondern auf die Erwachsenen.

»Was fällt Ihnen ein, das Kind da hineinzuschicken? Wenn Sie sich nicht trauen, Ihr Pferd abzuladen, dann warten Sie gefälligst, bis ich da bin. Was hätten Sie gemacht, wenn ihr was passiert wäre?«

Julia hatte noch nie erlebt, daß Holthoff erwachsene Privatpferdereiter so anschrie.

»Das Pferd ist ganz lieb, Herr Holthoff«, sagte sie schüchtern.

»Die meisten sind lieb, Julia. Aber ich habe mal erlebt, wie ein Bereiterlehrling beim Ausladen unter die Hufe einer Ausnahme geriet. Das möchte ich dir nicht wünschen. Also bitte, keine weiteren Mutproben!« Der Reitlehrer kam zu Julia und klopfte Placido den Hals.

»Was für ein prächtiger Bursche! Und gute Manieren scheint er auch zu haben. Nun nehmen Sie schon Ihr Pferd, Frau Medanz. Ich hab’s nicht so gemeint!«

Holthoffs versöhnliche Worte lösten Frau Medanz aus ihrer Starre. Mit kurzem Dank nahm sie Julia das Pferd ab. Erst jetzt konnte Julia den Spanier in voller Schönheit bewundern.

Sie schätzte Placido auf etwas über 1,50 m Stockmaß. Die hohe Aufrichtung – der Hengst trug sich geradezu majestätisch – ließ ihn allerdings größer erscheinen. Er war von den Proportionen her etwas gedrungener als beispielsweise Pretty – aber was am meisten auffiel waren sein gerader, edler Kopf und der lockige Behang. Sein Fell glänzte in einem satten Braun, der schwarze Stirnschopf fiel tief herab, und nur wenn der Hengst ihn etwas schüttelte, erkannte man seine großen, langbewimperten Augen. Placidos Blick war selbstbewußt, aber freundlich. Interessiert folgte er seiner neuen Besitzerin zum Stall.

In der Stallgasse drängten sich die Reiter und Pferde der Reitabzeichenabteilung. Petra stand vor Finessas Box und kratzte ihr die Hufe aus, und Kathi wollte ihre Pretty gerade hinausführen. Die Stute wurde während der Theoriestunde im Hof angebunden. Dort wartete sie geduldig, bis Kathi sie wieder nach Hause in ihren Offenstall brachte.

Kathi hielt sich nah an der Stallwand, während sie Pretty an Frau Medanz und dem neuen Pferd vorbeiführte.

»Vorsicht, Mädchen, das ist ein Hengst!« rief Frau Medanz, obwohl Kathi mindestens fünf Meter Abstand hielt. Sie fuhr zusammen und klammerte sich an Placidos Führstrick, als der Spanier Pretty mit gellendem Wiehern zur Kenntnis nahm. Herr Holthoff schlug die Augen gen Himmel. Wenn das so weiterging, konnte es ja heiter werden.

Gelassen wanderte der Spanier an den Boxen von Finessa und Picasso vorbei und bezog den Stall neben dem gutmütigen Smutje. Sofort begann er, die Box ausgiebig zu beschnuppern, wobei er ab und zu genüßlich flehmte. Dazu zog er die Nüstern hoch und reckte den Hals. Offensichtlich roch der Stall noch nach Stute, und der Hengst nahm ihren Duft besonders intensiv wahr.

»Und der geht nun klassische Dressur?« fragte Herr Holthoff.

Frau Medanz nickte stolz.

»Piaffe, spanischer Schritt, Levade . . . alles. Er ist absolut traumhaft. In Spanien ist er bei Stierkämpfen geritten worden.«

»Ach, der Arme«, bemerkte Julia.

»Was heißt denn ›der Arme‹?« fragte Herr Friedhelm. »Stierkampf, das ist doch noch was. Da können die Pferde sich beweisen! Und die Reiter, nebenbei gesagt!« Der kleine dicke Mann, selbst ein eher mäßiger Reiter, bekam leuchtende Augen.

»Da laden die Männer ihre Hengste auch noch selbst ab!« Die Bemerkung kam nicht sehr laut, aber vernehmlich aus Finessas Box. Petra hatte sich mit der Stute vorsichtshalber schnell verzogen und sattelte nun im Stall ab.

»Petra!« Herr Holthoff lud eine Standpauke der Marke »Konzentrier dich gefälligst auf dein eigenes Pferd und kümmere dich nicht um die anderen« auf dem allseits bekannten Lästermaul ab. Aber als Julia später in der Stallgasse stand und Kathi von Placidos Auftritt erzählte, hörten sie den Reitlehrer in der Sattelkammer lachen . . .

»Sollen wir wieder ein Schaubild reiten? So zwischen Dressur und Springen?« Julia und Stephanie ließen ihre Pferde im Schritt über einen Waldweg gehen und sprachen über die Reitabzeichenprüfung. Durch das viele Hallenreiten und die früher einbrechende Dunkelheit kam Julia nur noch selten in den Rauhforst. Dabei war der Wald gerade jetzt so schön. Die Bäume standen in leuchtenden Herbstfarben und das herabgefallene Laub bildete eine weiche goldene Schicht auf den Reitwegen. Wenn Julia darübergaloppierte, träumte sie oft vom Jagdreiten.

»Warum nicht? Das Westernbild vom Turnier hat ja allen gut gefallen. Aber will eure Frau Medanz nicht was zeigen, mit dem Andalusier? Wenn der wirklich so gut ist, wie alle sagen, können Danny und Vio da nicht mithalten.«

Stephanie hatte Placido bisher nur kurz in der Box gesehen und war begeistert von seiner Schönheit.

»Bisher hör’ ich immer nur, wie toll er gehen soll. Gesehen hat es noch keiner.« Aus Julias Worten sprach der Frust der gesamten Reitabzeichenabteilung. Die Jugendlichen brannten darauf, den edlen Spanier in Aktion zu sehen, aber nicht einmal die neugierige Petra konnte etwas über ihn berichten. Wahrscheinlich ritt Frau Medanz ausschließlich vormittags. Herr Holthoff mußte Bescheid wissen, aber den wagten sie nicht zu fragen.

»Wenn er tatsächlich im Stierkampf eingesetzt wurde, muß er gut sein«, meinte Stephanie. »Sonst hätte er das nicht überlebt.«

»Stierkampf! Ist das nicht gräßlich? Wenn ich mir vorstelle, mein Pferd . . .« Julia schüttelte sich.

»Andere Länder, andere Sitten, Julia. Bevor du dich über die Stiere in der Arena aufregst, guck dir erst mal die Bullenmast hierzulande an. Dunkle Boxen, Schlachthof . . . Die spanischen Kampfstiere wachsen dagegen in Freiheit auf. Na ja, und was die Pferde angeht . . . Stierkampf ist sicher nicht sonderlich pferdefreundlich, aber S-Springen auch nicht. Man sollte immer erst vor die eigene Tür gucken!«

Stephanie versuchte stets, die Dinge von allen Seiten zu sehen. Sie war Redakteurin bei einer Pferdezeitschrift und wußte eine Menge über ungewöhnliche Pferderassen, Reitweisen und Pferdehaltung in fremden Ländern.

»Vielleicht kannst du zusammen mit Frau Medanz was machen«, lenkte Julia ab. »Du könntest im Damensitz reiten, im spanischen Kleid.«

Stephanie lachte. Sie führte ihren Danny zu gern im Damensattel vor.

»Lust hätt’ ich schon. Vielleicht kommt die Dame ja morgen zur Reitstunde. Dann kann ich mich mit ihr absprechen. Aber jetzt laß uns mal schneller reiten. Magst du den kleinen Sprung dahinten nehmen? Reit mit Schwung an, gib die Zügel vor, ohne sie wegzuwerfen und laß deine Unterschenkel nicht nach hinten fliegen!«

Julia galoppierte an, hielt auf das kleine Naturhindernis zu und versuchte, alle Hinweise zum perfekten Springsitz im Gedächtnis zu behalten. Wenn es um gutes Reiten ging, war Stephanie ebenso streng wie Herr Holthoff.

»Haben Sie nachher noch etwas Zeit, Frau Heiden?« Julias Reitstunde würde gleich anfangen, und Herr Holthoff schien erfreut, Stephanie zu sehen. »Ich wollte Sie ein paar Dinge fragen.«

»Klar«, Stephanie nickte. »Und wenn’s darum geht, Ihnen beim Aufbauen der Hindernisse zu helfen, sage ich gleich ja. Beim Rumstehen in der Halle friere ich nur.«

Die junge Frau kletterte in die Reitbahn und schleppte nach Holthoffs Anweisungen Bretter, Plastikplanen und Stangen in die Mitte. Julia und die anderen Reiterinnen wärmten inzwischen ihre Pferde auf. Frau Medanz war wieder nicht erschienen.

»Wie sie ein U bauen und eine Plane auslegen, wissen Sie ja selbst!« lächelte der Reitlehrer. Solche Hindernisse aus dem Western-Trail-Parcours gab es in seiner Reitschule erst, seitdem er bei Stephanie einen Kurzkurs in Leichter Reitweise genommen hatte.

Stephanie rollte eine gelbe Plastikplane aus und fixierte sie rechts und links mit Stangen. Frau Fests Schimmelstute scheute schon jetzt vor dem Geräusch.

»Passen Sie doch auf!« rief die Reiterin aufgeregt. »Herr Holthoff, wozu brauchen wir denn so was?«

Der Reitlehrer schmunzelte und setzte zu einem längeren Vortrag an.

»Der Reiterpaß, Frau Fest, ist eine Prüfung für Freizeitreiter, also für Leute, die sich schwerpunktmäßig im Gelände bewegen. Abgeprüft wird, ob Reiter und Pferd mit Geländeschwierigkeiten wie kleinen Sprüngen, Kletterstellen, Engpässen und so weiter fertig werden. Der Richter kommt dazu mit nach draußen. Wie Sie wissen, haben wir aber leider kein ideales Ausreitgelände in Stallnähe. Wir können also nicht in jeder Stunde rausgehen. Deshalb müssen wir den Ernstfall in der Halle proben, und dafür sind diese Hindernisse ideal. Wir beginnen mit dem U. Julia fängt an. Bitte reinreiten, Julia, und rückwärts wieder raus.«

Mit dem U wurden alle noch recht gut fertig, aber schon, als es galt, in einem Stangenviereck um 180 Grad zu wenden, gerieten manche in Schwierigkeiten. Frau Berndts Corsar schien die Stangen gar nicht zu bemerken. Unaufmerksam trampelte er darüber und verschob den Aufbau, ohne sich daran zu stören, daß seine Hufe gegen die Stangen stießen. Frau Köppkes Picasso reagierte dagegen völlig verängstigt, als ihm eine Stange zwischen die Beine geriet, und machte einen mächtigen Sprung zur Seite.

Über die Plastikplane gingen in dieser Stunde überhaupt nur Danny und Corsar – und letzterer auch erst, nachdem Frau Berndt abgestiegen war und ihn führte. Sie bekam für diesen Einfall ein dickes Lob von Stephanie. Die erfahrene Trail-Reiterin hatte die Beratung der Reiter an der Plastikplane übernommen, während Herr Holthoff mit Frau Fest und Frau Köppke am Stangenviereck arbeitete.

Zum Schluß durften alle ein kleines Hindernis springen.

»Es war noch nicht gerade olympiareif . . .« sagte Holthoff entschuldigend zu Stephanie, während die Reiterinnen ihre Pferde wegbrachten.

Stephanie lachte.

»Ich wäre mir gar nicht so sicher, ob die Pferde der Olympiamannschaft auf Anhieb über gelbe Plastikplanen steigen. Und außerdem haben wir doch alle mal angefangen.«

»Ihre Geduld möcht’ ich haben. Aber wahrscheinlich reichte die auch höchstens für drei Reitstunden wie diese . . . Wie auch immer, ich wollte Sie eigentlich nicht als Hilfsreitlehrerin heranziehen, sondern um Ihren Rat wegen eines Pferdes bitten. Dieser Pla. . . Pla. . .«

»Placido«, half Julia aus. Sie hatte beim Aufräumen der Halle geholfen und wollte nun Danny holen. Der braune Wallach wartete an einem Anbindeplatz.

»Richtig, Placido. Komischer Name. Aber tatsächlich soll er noch schlimmer heißen. Die Besitzerin hat ihn nach ihrem Lieblingssänger umbenannt. Kennen Sie den?«

Stephanie kicherte. »Wenn es Placido Domingo ist, ja. Ein Opernsänger. Aber dem Hengst hätte Schlimmeres passieren können. Wenn ich bedenke, wie sich andere Sangeskünstler so nennen . . .«

Aus Finessas Box kam Gelächter. Petra und ihre Freundin Simone überlegten laut, Finessa in »Madonna« umzutaufen und Smutje nach den »Toten Hosen« zu nennen.

Holthoff räusperte sich.

»Kommen Sie mit, Frau Heiden, hier haben die Wände Ohren.« Er führte Stephanie in den Schulpferdestall. »Dieser Hengst, wie auch immer er heißt, soll bisher phantastisch Dressur gegangen sein. Piaffe, Traversalen, alles mögliche. Aber jetzt zeigt er gar nichts mehr, hibbelt nur noch herum. Frau Medanz meint, er habe den Spanischen Schritt auf dem Transport verloren . . .«

»Dann sollte sie die Strecke noch mal abfahren«, meinte Stephanie trocken. »Vielleicht findet sie ihn ja noch.«

Der Reitlehrer grinste. »Ich wünschte, ich könnte das auch mit Humor nehmen. Aber für mich ist es ein echtes Problem. Ich hab’ so ’n Pferd noch nie geritten, kaum jemals gesehen. Und Frau Medanz möchte Ratschläge von mir. Können Sie mir helfen?«

Stephanie zuckte die Schultern. »Gesehen habe ich Andalusier schon öfter. Viele Freizeitreiter reiten damit klassische Dressur. Draufgesessen hab’ ich aber auch noch nicht. Und Dressur ist nicht gerade mein Spezialfach. Ich reite natürlich ein bißchen Western – das basiert ja auf der Vaquero-Reitweise – aber was ich da kann – na ja, auf Ihr Fach übertragen wär das etwa A-Niveau.«

»Aber immerhin wissen Sie, wie so ein Pferd unterm Sattel aussehen soll. Wollen Sie ihn sich nicht mal ansehen?«

»Klar, sehr gern. Wann reitet denn die Dame?« Stephanie war immer interessiert an neuen Pferden.

»Vormittags. Meist gegen elf. Haben Sie da Zeit?«

»Kann ich einrichten. – Bist du fertig, Julia? Beeil dich, es ist schon stockdunkel draußen!«

Stephanie hätte gar nicht so laut zu rufen brauchen. Julia war den Erwachsenen gefolgt und hatte den letzten Teil der Unterhaltung mit angehört. Während sie Danny im Scheinwerferlicht von Stephanies Auto nach Hause ritt, haderte sie mit den Ungerechtigkeiten des Lebens. Kathi hatte morgen nur bis elf Uhr Schule. Sie dagegen mußte sich durch zwei endlos langweilige Deutschstunden quälen. Und dabei hätte sie Frau Medanz so gern beim Reiten zugesehen! Na, immerhin würde Kathi dabei sein und konnte ihr hinterher alles erzählen.

»Nehmen Sie das Pferd da weg, dies ist ein Hengst!« Frau Medanz’ ängstlicher Ruf gellte durch die Stallgasse. Dabei nahm Placido, den sie am Zügel führte, gar keine große Notiz von Danny. Stephanie war auf ihrem Morgenausritt vorbeigekommen und hatte Danny im Gang zwischen den Ställen und der Reithalle festgebunden. Der Ponywallach trug schon ein dichtes, flauschiges Winterfell und schwitzte schnell. Nun sollte er in Ruhe trocknen, während Stephanie Frau Medanz zusehen wollte. Er hatte sofort ein Hinterbein in Ruhestellung angewinkelt und zu dösen begonnen.

»Danny schlägt nicht«, beruhigte Stephanie. »Und überhaupt würde er auf die Entfernung kaum treffen. Aber ich kann ihn ja wegstellen.« Sie verließ ihren Stammplatz an der Bande, band Danny los und sah sich eben nach einem neuen Anbindeplatz um, als das Getöse vor der Halle einsetzte. Der Krach von Metall auf Metall, dazu Schimpfen, Klirren und weiteres Scheppern weckte Danny aus seiner schläfrigen Stimmung. Aufgeschreckt machte er einen Hupfer, wobei er rein zufällig in Placidos Richtung sprang. Frau Medanz schrie auf und ließ den Hengst los. Placido sah sich kurz um und wandte sich dann zum Ausgang. Dazu brauchte er nicht einmal die Boxreihen zu durchqueren, denn neben der Halle gab es ein Tor nach draußen. Unglücklicherweise stand es offen.

»Brr!« Holthoff brüllte dem Pferd nach, obwohl er sich kaum Chancen ausrechnete, beachtet zu werden. Er wollte dem Braunen nachsetzen, aber kaum daß er um die Ecke war, sah er Placido vor dem Ausgang zurückschrecken. Julia und Petra waren gerade hereingekommen und hatten das Pferd aufgehalten. Während Julia nach den Zügeln griff, schloß Petra das Tor.

»Das war knapp«, sagte Herr Holthoff aufatmend. »Aber was macht ihr überhaupt hier? Habt ihr keine Schule?«

»Wir hatten . . .«

»Unsere Deutschlehrerin ist krank«, übernahm Petra. Beide Mädchen waren völlig außer Atem, denn sie hatten sich ein heißes Fahrradrennen geliefert, um als erste im Stall zu sein. Woher Petra von dem Termin mit Frau Medanz wußte, war Julia allerdings schleierhaft.

»Und als ihr eure Räder geparkt habt, ist euch nicht zufällig der Fahrradständer umgekippt?« Das war Stephanie, und ihre Stimme klang drohend. »Der arme Danny hat sich zu Tode erschrocken.«

Schuldbewußt gab Julia Placido an Herrn Holthoff weiter und ging zu ihrem Lieblingspferd. Danny ließ sich ihre tröstende Liebkosung gleichmütig gefallen. Den Schreck hatte er schon vergessen.

»Da sehen Sie, wie gefährlich das ist, die Pferde hier anzubinden«, erklärte Frau Medanz. Mit zitternden Fingern nahm sie Holthoff ihr Pferd ab.

»Sie mußten Placido ja nicht gleich loslassen«, meinte Stephanie. »Danny kam schließlich nicht mal in seine Nähe.«

»Aber dies ist ein Hengst!«

Petra seufzte theatralisch. Diesen Satz konnten alle im Reitstall bereits nachsingen.

»Nun kommen Sie schon, Frau Medanz«, sagte Holthoff begütigend. Er fürchtete eine bissige Entgegnung Stephanies und einen ausführlichen Vortrag über Hengsthaltung, aber zum Glück beherrschte sich die junge Frau. »Und Sie bitte auch, Frau Heiden. Ich schließe zur Feier des Tages die Tribüne auf.«

Auch Kathi, die schon gewartet hatte, Julia und Petra fanden einen Platz in den sonst für Ehrengäste reservierten drei Sitzreihen. Ganz zuletzt schob sich noch Silvia Berndt hinein.

»Das wird ja richtig voll hier!« vermerkte Holthoff unwillig. »Was treibt Sie denn am frühen Morgen aus Ihrem Amt?«

»Ich hab’ heut’ frei«, antwortete Frau Berndt schüchtern. »Und da dachte ich, wenn ich beim Reiten zugucke, könnte ich vielleicht was lernen.«

»Reiten lernt man am besten durch Reiten, Frau Berndt! Geben Sie nur zu, daß sie genauso sensationslustig wie die Mädchen sind!« Holthoff polterte schon wieder.

Frau Berndt schaute wie ertappt zu Boden.

»Ich wollte den Spanier sehen«, meinte sie schließlich. »Ich finde ihn so schön, und da dachte ich . . .«

Bevor Holthoff sich weiter mit ihr befassen konnte, zog Placido die Aufmerksamkeit aller Zuschauer auf sich, indem er durchdringend wieherte.

»Schon deshalb bevorzuge ich Wallache und Stuten!« Stephanie hielt sich die Ohren zu.

Frau Medanz hatte ihr Pferd inzwischen in die Mitte der Reithalle geführt und versuchte aufzusteigen. Placido trug einen prächtigen spanischen Sattel. Lange Lederbänder fielen vom Stirnband seines Zaumzeugs und betonten den Fall seiner Mähne. Das Pferd war auf Stange gezäumt.

»Die Zäumung wirkt ganz schön scharf, wenn Sie mich fragen«, raunte Holthoff Stephanie zu.

Sie nickte.

»Man muß sie vorsichtig handhaben. Ich habe auch so eine für Danny, aber ich reite ihn nur bei Shows damit.«

Frau Medanz schien der Unterschied zwischen Stange und Trense nicht so klar zu sein. Sie griff schon vor dem Aufsteigen kräftig zu. Der Hengst wich ängstlich nach hinten aus.

»Zügel locker, Frau Medanz!« brüllte Holthoff. Erschrokken ließ Frau Medanz los, und Placido stand still. Jedenfalls so lange, wie sie brauchte, um den Fuß in den spanischen Kastensteigbügel zu setzen. Weil sie diesen beim Aufsteigen verdrehte, stießen die Kanten in die Flanken des Hengstes. Placido machte einen Seitensprung.

»Die Dinger wirken wie Sporen«, bemerkte die scharfsinnige Kathi.

»Dafür sind sie auch gedacht«, stimmte Stephanie zu. »Aber solange die Dame da unten die Beine nicht ruhig halten kann, sollte Herr Holthoff ihr lieber zu gewöhnlichen Bügeln raten.«

Frau Medanz war endlich oben und nahm etwas ruckartig die Zügel auf. Gleichzeitig gab sie Schenkelhilfen. Erschrokken ging Placido rückwärts – streng genommen rannte er rückwärts – und hielt erst inne, als Frau Medanz ihn mit den Fersen und damit auch den Kastensteigbügeln bearbeitete. Nervös trat er auf der Stelle, es sah aus wie eine reichlich mißlungene Piaffe.

»Geben Sie ihm mehr Zügel, Frau Medanz!« brüllte Holthoff.

Frau Medanz gab endlich nach, und Placidos Spannung entlud sich nach vorn. Der Hengst machte einige kurze Galoppsprünge.

»Da sehen Sie’s!« sagte Holthoff zu Stephanie.

Sie nickte. »Aber das ist doch eher ein Problem der Reiterin als des Hengstes. Wenn sie die Zügel lockerer läßt und vorsichtiger treibt, geht er sicher vorwärts. Wie ist er denn, wenn Sie ihn reiten?«

»Etwas besser. Jedenfalls geht er nicht pausenlos rückwärts. Aber er ist unheimlich heiß, und wenn ich ihn mit normalem Annehmen und Nachgeben reite, geht er mitunter regelrecht in die Luft. Ich möchte das nicht gerade ›Levade‹ nennen . . .«

Stephanie lachte.

»Nichts für ungut, Herr Holthoff, aber ich glaube, der braucht eine extrem weiche Hand. Spanische Pferde werden so erzogen, daß sie auf kleinste Zügelzeichen reagieren. Damit das klappt, faßt man sie während der Ausbildung ziemlich hart an. Wenn Sie nun zufassen wie bei Ihrem Ephraim, erinnert sich der Placido daran und geht die Wände hoch.«

»Und wenn . . . wenn er so heiß ist. . . könnte das nicht auch an der Haltung liegen?« Das war Kathi. »Der Placido kommt doch sicher nie auf die Weide.«

»Auf die Weide?« fragte Holthoff verdutzt. »Das ist ein. . .«

»Hengst!« riefen Julia und Petra wie aus einem Mund. Sie schauten sich an und hätten beinahe gemeinsam losgeprustet. Aber dann fiel ihnen doch wieder ein, daß sie sich nicht mochten.

»Hengste«, sagte Stephanie gelassen, »sind männliche Pferde. Ebenso wie weibliche Pferde fressen sie Gras.«

»Aber ich bitte Sie, Frau Heiden!« Holthoff stand auf und öffnete die Tür zwischen Tribüne und Stallgang. »Ich kann den Hengst doch hier nicht auf die Weide lassen. Da gehen Stuten vorbei – wenn der über den Zaun springt . . .«

». . . müßte er mehr Springveranlagung und weniger Manieren haben als bei Andalusiern üblich. Auf jeden Fall sollten Sie ihn aber mal in der Halle freilaufen lassen. Diese zwanzig Minuten Nahkampf mit Frau Medanz jeden Morgen füllen ihn bestimmt nicht aus.«

Julia und Kathi verließen kichernd die Tribüne. Nun war nur noch Frau Berndt in der Halle. Die junge Frau starrte Placido mit glänzenden Augen an.

»Ist er nicht wunderschön?« fragte sie, als Herr Holthoff auffordernd mit den Schlüsseln klapperte. »Ich wollte, ich könnte ihn einmal reiten!«

Holthoff stöhnte. »Möchte bloß mal wissen, was an dem Gaul dran ist«, brummelte er. »Bei seinem Anblick werden alle Frauen verrückt!«

Stephanie blinzelte Frau Berndt zu.

»Ich würde ihn auch gern mal reiten«, sagte sie.

Frau Medanz war abgestiegen, als sie in die Halle kamen.

»War doch schon besser, nicht?« fragte sie ihren Reitlehrer.

Holthoff brummelte etwas Aufmunterndes. Dann stellte er Stephanie förmlich vor, die gleich erzählte, wie schön sie den Hengst fände, und ein paar Fragen zu ihm stellte. Frau Medanz gab bereitwillig Auskunft. Placido, so erklärte sie ihren interessierten Zuhörern, sei acht Jahre alt und stamme aus der Linie Rodriguez, einer bekannten, spanischen Pferdezucht. Er sei klassisch ausgebildet, hatte Stierkämpfe mitgemacht und sei dann in ein Andalusierzentrum in Deutschland gebracht worden. Eigentlich sollte er als Deckhengst verkauft werden, aber Frau Medanz war anderen Interessenten zuvorgekommen.

»Ihre Julia hat mir erzählt, Sie reiten auch ein bißchen klassisch«, wandte sie sich am Ende ihres Berichtes an Stephanie, »und Sie würden am Tag der Abzeichenprüfungen gern ein Schaubild mit mir machen. Ich finde das eine reizende Idee!«

Nach dem, was sie gerade gesehen hatte, fand Stephanie die Idee eigentlich gar nicht mehr so reizend. Frau Medanz schien ihr Zögern jedoch nicht zu bemerken.

»Wir müssen natürlich vorher noch etwas üben«, erklärte sie. »Aber Pferd und Reiter müssen sich immer erst zusammenraufen, und Placido ist schließlich ein . . .«

»Hengst!« kam es einstimmig von Julia, Kathi und Petra.

Julia und der Hengst aus Spanien

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