Читать книгу Wenn jede Stunde zählt - Christiane Schlenzig - Страница 5

Die Villa

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Der ICE nach Köln hält mich fünfeinhalb Stunden im Bann. Ich habe mir in der Ruhezone einen Fensterplatz mit Tisch reserviert, klappe den Laptop auf, sehe in meinem Postfach nach und checke die Mails. Der Verlag gibt mir eine Auszeit von vier Tagen. Ich lehne mich in die Polster zurück, schließe die Augen: … Kümmre dich um Erna! Indem Wälder, Wiesen, Ortschaften an mir vorbeifliegen, hole ich das Briefbündel aus der Tasche und beginne in Ernas Briefen zu lesen:

Liebe Hanna!

Das Klassentreffen, ein Austauschen von Erinnerungen.

Du wirst Dich gewundert haben, dass ich so wortkarg neben Dir saß. Ich wollte die Geschehnisse und dunklen Punkte meines Lebens nicht vor Euch ausbreiten. Meine alles beiseite witzelnde Sprache, mit der ich mich geschmückt hatte, war mein Panzer.

Ich wollte für Euch die reiche beneidenswerte Erna aus dem Westen bleiben. Aber Du, die einzige in meinem Leben, der ich vertraue, Du sollst wissen, wie es mir ergangen ist, nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten.

Weißt Du noch? 1945 - wir hatten schulfrei, wohl wegen der ständig zu befürchtenden Luftangriffe, außerdem hieß es, das Heizmaterial wäre knapp geworden. Du warst aufs Land zu Deinen Großeltern gezogen.

Ich verbrachte die Zeit oft im Luftschutzkeller, Mutter hielt meine Hand, und ständig spürte ich ihre Angst neben mir. Dann an einem der Tage…, ein Krach, ein mächtiger Knall. Stille. Dann ein erneutes Beben.

Die Erinnerung, wie ich mit staubblinden Augen, mit blutenden Händen mich aus dem Schutt herausgekratzt habe, wie ich auf der Straße stand, die keine Straße mehr war, sondern ein schauriges Gebirge aus Trümmern und Asche. Um mich herum Krater, Bombentrichter. So etwas vergisst man nie. Menschliche Überreste. Eine Stille, in die sich Schreie einlagerten, ein Stöhnen, ein Ächzen. Ich suchte nach meiner Mutter.

Ich schaufelte in den Gesteinsbrocken. Ich weiß nicht, ob ich weinte, ob ich schrie. Plötzlich ein Gesicht über mir. Rußgeschwärzt. Ein Gesicht, das nicht meiner Mutter gehörte …

Ich fand mich in einem fremden Bett, einer fremden Umgebung wieder. Wie ich dort hingekommen war, wusste ich nicht. Marie, die Frau, die sich im Trümmerfeld meiner angenommen hatte, redete nicht, sie brachte mir ein Glas Wasser, ein Stück Brot, stellte beides auf dem kleinen run-

den Tisch ab, gestikulierte mit beiden Händen, bewegte ein wenig die Lippen und verschwand hinter der schweren Eichentür. Anfangs dachte ich, sie wäre taubstumm. Als ich mühsam das Brot in mich hineingestopft hatte, mit den Augen den Raum abtastete, kam sie erneut herein, strich über meine Wolldecke und legte etwas bunt Schillerndes darauf, ich erkannte Mutters Haarspange, berührte sie vorsichtig, wollte fragen, sah Maries traurige Augen, und fragte nicht.

Ich spürte in meinem Brustkorb ein Knistern, als ob etwas zerbricht, und wünschte mir ein steinernes Herz …

Meyerrings Villa, in der ich aus meinem Schockzustand erwacht war, ist das einzige Haus gewesen, das im ganzen Umkreis unzerstört geblieben war. Menschen, zusammengewürfelt auf engstem Raum – Flüchtlinge, Ausgebombte, hatten hier Unterschlupf gefunden. Marie ließ mir keine Zeit zum Nachdenken oder zu Grübeleien. Sie steckte mich in die Küche – Essenausgabe, Geschirrspülen, ich lernte kochen: Fitzfädelsuppe, Rübenbrei …, die ganze Palette der Nachkriegsgerichte.

Während Marie ihre Stummheit langsam verlor, nahm meine zu. Ich lag auf der nassgeweinten Bettdecke wie auf einer Insel. Mit angezogenen Knien, die Arme darum geschlungen, brachen all die ungeweinten Tränen aus mir her-

aus. Ich war krank vor Sehnsucht nach meiner Mutter, spürte einen Abgrund in mir, als wäre die ganze Welt nur noch eine riesige, menschenleere Hütte. Um mich zu trösten, schloss ich die Augen, griff nach der bunten Haarspange, spürte Mutters warme Hand.

Erinnerst Du Dich? Wir wollten studieren … Ich träumte davon, Ärztin zu werden. Nun hatte ich weder eine Studienmöglichkeit noch eine Familie.

Im Sommer neunzehnhundertachtundvierzig stand plötzlich ein junger Mann im Torbogen. Sohn Rudolf, der bei den Großeltern auf dem Lande gewohnt hatte, kam, um sich von den Eltern zu verabschieden. Er sagte, er wolle nach Amerika auswandern.

Ich lehnte am Türholz und schaute wie auf ein Bühnenstück. Ich sehe noch Marie, wie sie sich mit der Schürze die Tränen abwischte: Was willst du in Amerika.

Dann sah er plötzlich zu mir, und in seinem Blick hatte sich etwas entzündet. Ich spürte ein Glühen. Seine Augen wanderten über meinen Körper. Ein Kribbeln in meinen Gliedern bis in die Fußspitzen, die in verdreckten Gummistiefeln steckten. Na, junges Fräulein, wie wäre es mit Amerika?, hatte er gefragt. Seine Stimme drang an mein Ohr, wie aus einem Zimmer, dessen Eingang ich nicht fand.

Am Abend lag ich müde und erschöpft in meiner Kammer, strich über meinen nackten Körper, das Flattern noch in mir. Ich zählte die Holzbretter an der Decke. Von der Küche hörte ich schroffe Töne. Die Tür knarrte, dann wurde sie krachend ins Schloss geworfen, die Wände meiner Kammer erzitterten.

Am nächsten Tag habe ich meine wenigen Sachen gepackt und bin mit Rudolf zur Bahnstation gepilgert.

Ein Reiz? Eine Lockung? Ein Begehren? Die Jugend, so weiß ich heute, ist eine Zeit, in der man vorgefertigte Bilder liebt und noch lange nicht den Menschen.

Gerade erst achtzehn, war mir, als hätte ich schon zwei Leben gelebt. Mein erstes Leben endete, als ich auf dem Trümmerfeld nach meiner Mutter suchte, mein zweites in dem Moment, als ich nach langem Fußmarsch neben Maries Sohn auf einem Bahnhof stand, um nach Amerika zu fahren. Mir war, als hätte ich in der Hand einen Faden, der an mir zog, dem ich willenlos hinterherlief.

Wir sind nie über Köln hinausgekommen.

Hier endet der Brief abrupt. Ich habe das Gefühl, einen spannenden Roman in den Händen zu halten, bei dem die letzten Seiten fehlen.

Als ich das zweite, noch dickere Papierbündel an mich nehme, das Datum lese, spüre ich ein dumpfes, drückendes Gefühl hinter meinen Augenlidern, die Ziffern, die Zahlen …, ein zukunftzerstörendes Datum. Ich war mit Mutter zur Computertomografie ins Krankenhaus gefahren. Der Arzt zeigte auf die Röntgenbilder, die er am erleuchteten Schaukasten befestigt hatte, tippte mit einem Bleistift auf die hellen Flecke. Wie ein Polizist, der den Angehörigen des Opfers Fotos vom Mörder zeigt. Krebs-Metastasen, sagte er.

Irgendwo zwischen Fulda und Frankfurt lege ich die Briefe zurück in meine Reisetasche, schließe die Augen, sehe die beiden Frauen vor mir: Was sie in ihrer Jugend erlebt haben, kenne ich nur aus Büchern, aus Funk und Fernsehen, aus dem Geschichtsunterricht in der Schule.

Der Zug rollt auf den letzten Schienenkilometern dahin. Mit einem Pappbecher ungenießbarem Kaffee in der Hand und der Aussicht auf unruhige, unplanbare Tage, lasse ich Wiesen, Bäume, Häuser an mir vorbeifliegen. Ich liebe die Fahrten mit der Bahn, das Ankommen. Die plötzlich einsetzenden Schatten der Bahnhofshalle, wenn der Zug mit einem letzten Rucken zum vollständigen Stillstand kommt, wenn ich das Quietschen der Bremsen höre. Wenn ich den Fuß auf den Bahnsteig setze …, die Stimme aus dem Lautsprecher …

Doch heute ist alles anders.

Es ist später Nachmittag als ich im Hotel einchecke. Ich gehe auf mein Zimmer, packe die Reisetasche aus, greife mir das Smartphone, den Notizblock und beschließe, umgehend die Meyerringsche Adresse aufzusuchen.

Drei Bushaltestellen nur, dann bin ich in der Luisenstraße. Diese Straße ist als Sackgasse ausgeschildert. Die Hausnummer dreizehn befindet sich am Ende des Villenviertels. Zwei breite, mit Efeu überwucherte Betonpfeiler flankieren die Einfahrt. Kein Namensschild, keine Klingel. Zwischen den Pfeilern ist eine Eisenkette gespannt, ein Schild in der Größe eines Plakates mit der Aufschrift Zutritt verboten! versperrt den Zugang. Ich ignoriere es und steige über die Kette. Die gekieste Einfahrt schlängelt sich wie ein breites Band durch Buchsbaumhecken und wild wuchernden Knöterich. Obwohl es scheint, als habe hier schon lange niemand mehr von einer Heckenschere Gebrauch gemacht, blühen Azaleen und Rhododendron und recken ihre Köpfe durch das Blätterdach, der Abendsonne entgegen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Einfahrt noch regelmäßig benutzt wird. Nach einigen Metern öffnet sich das üppige Grün und gibt den Blick frei auf ein quadratisches, zweistöckiges Haus. Die Fassade ist an der Südseite mit wildem Wein dicht bewachsen. Durch das freiliegende Mauerwerk ziehen sich Risse, der Putz bröckelt an einigen Stellen. Ich gelange an eine umzäunte Anlage, vermutlich ein Gemüsegarten. Jetzt wuchert hier das Unkraut, es sind noch die exakt angelegten Beete zu erkennen. Im Hintergrund Reste eines Gewächshauses. Alles ist still. Das Gebäude wirkt unbewohnt. Als ich es umrunde, stelle ich jedoch fest, dass die Fenster im Obergeschoss teilweise geöffnet sind. Ich nähere mich langsam der Eingangstür, zucke erschrocken zusammen, als sich plötzlich die Tür öffnet. Ein dunkelhäutiger Mann steht vor mir: Sie die Dolmetscherin?, er schaut mich mit großen Augen an, spricht mit englischem Akzent, zeigt auf die halbgeöffnete Innentür neben dem Eingang: Betreuer Martin wartet schon, er lächelt und schlurft über den Kies davon.

Ich werfe einen Blick in die Eingangshalle, die über zwei Stockwerke reicht, sehe eine Kassettendecke aus dunklem Holz, in der Mitte ein rechteckiges Oberlicht aus Milchglas, durch welches gedämpftes Tageslicht hereinfällt. Ein breiter Treppenaufgang, auf dem Absatz eine großbauchige Porzellanvase mit Papierblumen darin.

Was wollen Sie hier, haben Sie das Verbotsschild am Eingang nicht gelesen? Offenbar hält Betreuer Martin mich nicht für die Dolmetscherin. Sein bohrender Blick lässt mich einige Schritte zurückweichen. Entschuldigung, ich suche einen Herrn Meyerring. Er schaut mich prüfend an: Ich kenne nur eine Frau Meyerring, und diese Dame wohnt nicht mehr hier.

Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?

Der Mann zuckt mit den Schultern:

Sie ist in irgendein Altenheim gezogen. Diese Villa und das gesamte Anwesen hat sie an die Stadt vermietet, mit der Auflage, Asylbewerber in dem Haus unterzubringen. Ich bin als Verwalter eingesetzt. Er

fuchtelt nervös mit den Händen durch die Luft, schaut auf seine Armbanduhr: Entschuldigen Sie mich, ich erwarte in einer Woche über hundert Flüchtlinge und habe noch wahnsinnig viele Vorbereitungen zu treffen.

Wieder auf der Luisenstraße, lehne ich mich an eine Litfaßsäule, schließe für einen Augenblick die Augen. Ich bin von einem Frösteln befallen, das nicht von eigentlicher Kälte herrührt, es ist die Stimmung ringsum, die mich frieren lässt.

Die Häuser um mich herum wirken ausgestorben, einsam. Die Vorgärten, wie auf dem Reißbrett entworfen. Kurzgezupft, glatt geharkt. Leblos schön.

Ich schaue auf die ineinanderverflochtenen Nadeln einer Fichte, die sich mir entgegenstrecken wie eine leere Hand, die um eine milde Gabe bettelt. Wie werden die Villenbewohner reagieren, wenn ihre Straße von Flüchtlingen bevölkert wird?

Als wüssten sie um mein Befinden, fangen die Stadtvögel aufdringlich laut zu zwitschern an,

Abendgezwitscher. Zwischen den Baumreihen der Tannen singt eine Amsel ihr Lied.

Was ist eigentlich mit all den Vögeln in den zerstörten Städten? Syrien, Afghanistan, in all den Kriegs-

gebieten? Fliehen sie auch? Oder finden sie Unterschlupf zwischen Trümmerbergen und Schutt.

Die drei Haltestellen lege ich zu Fuß zurück zum Hotel. Die Bewegung hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.

Liebste Hanna!

Danke für das Foto. Wo hast Du es nur aufgetrieben? Eine mächtige Tränenlawine hat es in mir ausgelöst. Ich weinte, weinte, weinte. Mein Herz dröhnte. Wie eine Reliquie habe ich das kleine schwarzweiße Zackenfoto vorsichtig in einen Rahmen gesteckt und neben unser Farbfoto gestellt. Das Foto von unserem Ausflug vor zwei Jahren, erinnerst Du Dich? Die Schifffahrt auf dem Rhein, der charmante Herr, der uns unbedingt fotografieren wollte …

Nun habe ich uns beide hier vor mir. In klein, in groß, in schwarzweiß, in farbig, hier auf meinem Schreibtisch. Je länger ich das kleine Foto betrachte, desto geheimnisvoller scheint es sich zu beleben. Manchmal glaube ich, Du zwinkerst mir zu. Wir beide, zwei Mädchen mit Zöpfen, Zahnlücken. In buntem Badeanzug.

Im Hintergrund der Silbersee. Unsere Sommerferienidylle. Wir sprangen vom Steg ins Wasser, wieder und wieder, ließen uns treiben, hielten uns an Zweigen und Ästen fest, die übers Wasser ragten.

Mein Vater hatte uns an einem heißen Sonnentag im See das Schwimmen beigebracht. Er hatte uns abwechselnd an den Hüften gehalten, mal mit dem Bauch nach unten, mal mit dem Bauch zum Himmel. Wir ruderten mit Armen und Beinen wie Schiffbrüchige. Ein, zwei Stöße, immer und immer wieder. Allmählich schafften wir es bis zur Sandbank. Dort hüpften wir auf dem warmen Sand hin und her, beglückt: Wir können schwimmen! Jubelten und wedelten mit unseren Armen. Vater lag im Sand und schaute in den Himmel. Wir buddelten uns in den nassen Schlamm ein.

Als mein Vater seinen Himmelsblick, sein Schweigen beendet hatte, uns lachend ins Wasser schubste, zerteilten wir die Wellen mit unseren Armen und schwammen zurück ans Ufer. Beglückt noch …, am nächsten Tag war Vater in aller Frühe verschwunden. Später habe ich gedacht, er hat es gewusst, damals auf der Sandbank, der zweite Weltkrieg hatte begonnen …

Ich lege den Brief zu den anderen auf das Nachttischchen, starre an die Decke des Hotelzimmers, beobachte das Lichtmuster, das die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos an die Wand zeichnen. In der Wandzeichnung ein Gesicht? Zu dem Gesicht eine Stimme? Als Kind hatte ich ein kleines Sorgenpüppchen unter meinem Kopfkissen. Mutter hatte es mir geschenkt und gesagt: Es hilft dir, schwerwiegende Gedanken abzustreifen (ich wusste damals mit diesen Worten nichts anzufangen), aber es beruhigte mich trotzdem.

Nun bin ich versucht, Ernas Briefbündel unter das Kissen zu legen.

Wenn jede Stunde zählt

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