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Einleitung

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Unser Leben ist wie eine Pilgerreise.

Wir sehnen uns nach etwas Heiligem,

das uns innerlich und äußerlich

zu heilvollen, segensreichen

Wegen führt.

Christian Probst

Wanderer brauchen eine gehörige Portion Mut. Die Taschen sind gepackt und stehen bereit. Die Ausrüstung ist auf das Nötigste beschränkt. Ein paar Kleidungsstücke und etwas Proviant müssen erst einmal reichen. Hauptsache, der Trinkschlauch wurde mit genügend Trinkwasser gefüllt.

Wer die Reise zu Fuß bestreiten will, ohne technische Erleichterungen, nur mit Wanderstecken und dem allernötigsten Gepäck, spürt von Anfang an eine Spannung, die nicht alleine von den Trageriemen der Taschen auf den Schultern ausgeht. Wanderer dürfen sich nicht einschüchtern lassen von unangenehmem Wetter, mühsamen Berganstiegen oder von Räubern und Wegelagerern.

Oft steht ein Geistesblitz am Anfang einer Wanderschaft: „Die Zeit ist reif.“ Das Fernweh treibt Menschen zum Ausgang ihrer vier Wände. Die Tür fällt ins Schloss. Der Schlüssel wird im Schlüsselloch umgedreht. Und dann kann es endlich losgehen. Alter Ballast bleibt zu Hause. Nur das Nötigste darf mit. Bei einer Pilgerreise auf neuen Wegen kann man endlich abschalten und freie Gedanken fassen, die dem Leben etwas Heilvolles einhauchen.

Schon Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung machten sich Pilger auf die Reise zu heiligen Orten wie dem Tempel in Jerusalem. Tage- und wochenlang gingen sie zu Fuß, mit dem Ziel, an diesem heiligen Ort Gott anzubeten. Dort angekommen, dankten sie Gott für ein gutes Geschick, wie zum Beispiel der israelitische Stammvater Jakob. Nachdem er an der Furt des Flusses Jabbok den Kampf mit einem mysteriösen Unbekannten gewann, versöhnte er sich mit seinem verfeindeten Zwillingsbruder Esau. Aus Dankbarkeit baute er Gott in Bethel einen Altar (1. Mose 35).

Andere pilgerten zu heiligen Orten, um Gott wegen eines schweren Schicksals um Hilfe anzuflehen. Hanna zum Beispiel beklagte dort ihre Kinderlosigkeit. Sie war eine von zwei Frauen des Leviten Elkana. Jahr für Jahr zog die Familie nach Silo. Dort betete Hanna zu Gott und klagte ihm ihr Leid (1. Samuel 1).

Am Heiligtum in Jerusalem wurden jedes Jahr große Feste, wie das Laubhüttenfest oder das Passafest, gefeiert. Kilometerlang wanderten die Menschen ohne Landkarte, mit bescheidenem Schuhwerk, auf Wegen unterschiedlicher Beschaffenheit. Sie suchten auf ihnen nach dem Heiligen, das ihre inneren Fragen und Sehnsüchte stillen würde.

Die Wege des Lebens können unergründlich sein. Das wird einem nicht nur bewusst, wenn man wie ein Pilger zu Fuß zu einer längeren Reise aufbricht. Auch auf unseren alltäglichen Wegen stoßen wir immer wieder auf Spannungen und Herausforderungen. Auf ihrer Lebensreise ziehen manche beruflich bedingt von einem Ort zum andern und fangen neu an. Andere müssen sich neu orientieren, weil frühere Strecken nicht mehr begehbar sind. Ein Traum endet in einer Sackgasse. Oder gemeinsame Wege gabeln sich plötzlich in verschiedene Richtungen: Ehepaare lassen sich scheiden. Kinder werden erwachsen und bauen sich ihre eigene Existenz auf. Lange Wegbegleiter segnen das Zeitliche. Wege führen zusammen oder auseinander. Erst wenn wir die verschiedenen Abschnitte des Lebens selbst beschreiten, erkennen wir, wo sie hinführen. Dann führen sie nicht „irgendwo durchs Nirgendwo“, fern und unerreichbar in eine ungewisse Zukunft. Sondern sie werden spürbar, erlebbar, lebendig. Franz Kafka bringt das in seinem bekannten Zitat auf den Punkt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“

Vielleicht erfreut sich das Wandern auf Pilgerwegen in den letzten Jahren gerade deswegen so großer Beliebtheit, weil man dabei selbst den Boden unter den Füßen spüren kann. Ohne einfach über bestimmte Wegetappen hinwegzufahren oder -zufliegen, muss man dort Wege vom Anfang bis zum Ende gehen.

Die Suche nach sich selbst verbindet sich während des Laufens mit dem Streben nach etwas Höherem. Einen Pilgerweg beschreitet man oft mit der großen Hoffnung, neue Bilder in sich aufzusaugen, mit denen man den eigenen Horizont erweitern kann. Wir sehnen uns nach Erfahrungen, die uns innerlich oder äußerlich frei werden lassen. Beim Wandern können wir endlich einmal in Ruhe nachdenken oder uns auf unsere Schritte konzentrieren. Einen Fuß vor den anderen zu setzen hat besonders für alltägliche „Büro-Hocker“ oder „Gremien-Hüpfer“ eine befreiende Wirkung.

Viele sehnen sich danach, über den eigenen Schatten zu springen. Andere würden gerne die Zeit langsamer laufen lassen oder begeben sich auf die Reise, um auf die großen Fragen des Lebens eine Antwort zu finden. Wir suchen nach einer Macht, die uns auf allen Wegen begleitet. Wir würden gerne mit ihr Kontakt aufnehmen und versprechen uns davon heilvolle Erlebnisse.

Wir sehnen uns nach dem heiligen Gott, hinterfragen aber gleichzeitig seine Existenz, besonders wenn wir auf unserer Lebensreise zerbrochenen Menschen begegnen, die harte Wegstrecken zurücklegen müssen. Wir sehnen uns nach beständigen Werten, die unsere Gesellschaft prägen und unser Leben wertvoll und gleichberechtigt neben anderen stehen lassen.

Die Sehnsucht nach Anerkennung der eigenen Person bzw. allgemeiner Werte verbinden wir hoffnungsvoll mit etwas, das unsere Gedanken übersteigt, aber das uns mit einem Gefühl erfüllt, etwas „Heiligem“ begegnet zu sein.

Der Soziologe Hans Joas führt die Entwicklung der Menschenrechte auf eine persönlich gelebte Heiligkeit (Sakralität) zurück. Menschen hätten durch das Zusammenleben entdeckt, dass jedes einzelne Individuum als heilig erachtet werden müsse.4 Auch heute könne der Mensch uns wieder „heilig“ werden, wenn uns seine Würde in einem heiligenden Prozess, einem „Sakralisierungsprozess“, wieder neu bewusst würde. Ich möchte diesen Ansatz weiterführen und behaupte: Alle Wege des Lebens bieten Anknüpfungspunkte zum Heiligen. Wenn wir uns danach sehnen, stellen sich unsere Antennen auf, und wir bereiten uns darauf vor, Erfahrungen zu machen, die unser eigenes „Ich“ transzendieren. Das kann ein Sonnenuntergang mit einem überwältigenden Farbenspiel sein. Ein Konzert mit einem riesigen Orchester; der Moment, in dem man nach langen Jahren einer alten Freundin begegnet; oder wenn jemand sich im Fußballstadion rechtzeitig in eine La-Ola-Welle einreiht und danach staunt, wie die Welle auf andere überschwappt. Ein „heiliges Erlebnis“ entsteht sicher auch, wenn Menschen ihre Rechte praktizieren können und den Wert von anderen Lebewesen achten. Aber es wirkt nicht nur nach außen, sondern berührt uns ebenso in unserem Innersten. Es führt den Reisenden weiter, gibt ihm Orientierung und eröffnet vorher unbekannte Wege. Solche Erlebnisse können sogar die Grenze von Intelligenz überschreiten, reichen über unseren Verstand hinaus und können uns in Kontakt bringen mit dem heiligen Gott als einem persönlichen Gegenüber.

Unser ganzes Leben bereisen wir ähnlich wie Pilger ihren Weg zu einem Heiligtum. Voller Sehnsucht, unsere Sinne zu erweitern. Mit den großen Fragen des Lebens im Gepäck. Spiritualität, göttliche Gegenwart zählen zu den großen menschlichen Ursehnsüchten. Auf unseren Wegen stellen wir immer wieder fest, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die weder ein tiefgründiger Verstand noch die schärfsten Sinne erfassen können. Die drei großen Weltreligionen haben bis heute heilige Orte, zu denen Menschen in Scharen reisen. Jerusalem hebt sich als besonders faszinierende Stadt sicher hervor. Mich beeindrucken aber auch die Bilder von der sogenannten Hadsch, der muslimischen Pilgerreise nach Mekka, die jedes Jahr bombastischere Ausmaße anzunehmen scheint. Auch klassische christliche Pilgerstätten, wie Rom und Santiago de Compostela, erfreuen sich weiterhin außerordentlich großer Beliebtheit. Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist im 21. Jahrhundert wieder zu einer Massenbewegung geworden.

Die Sehnsucht nach etwas Heiligem muss man jedoch nicht auf bestimmte Orte begrenzen. Das ganze Leben ist von ihr geprägt, sei es nun bewusst oder eher unbewusst. Jeden Tag setzen wir unsere Füße auf Wege. Jeden Tag wünschen wir uns Erfahrungen, die unser Leben mit etwas Heiligem bereichern. In diesem Buch soll es nicht um einen bestimmten Pilgerweg zu einem hervorragenden Heiligtum gehen.

Die sechzehn Autoren dieses Buches nehmen die sogenannten „Wallfahrtspsalmen“ (Ps. 120-134) des Ersten Testamentes zur Hilfe, um sich auf die Spur von etwas Heiligem zu machen, das unser Leben auf allen Wegen begleitet. Die Psalmen wurden wahrscheinlich früher tatsächlich auf den Pilgerwegen nach Jerusalem gesungen. Durch ihre Kürze und einen volksnahen „Touch“ kann man sich sogar vorstellen, dass sie von den Pilgern wie ein kleines Gebetbüchlein mitgeführt wurden.5 Die fünfzehn Psalmen passten gerade auf eine kleine Papyrusrolle und somit gut ins Handgepäck.

Seit meinem ersten theologischen Examen haben mich diese Psalmen nicht mehr losgelassen. Ich wollte sie unbedingt gedanklich und musikalisch zum Klingen bringen.6 In ihnen stecken die unterschiedlichsten Themen, die man mit Lebenswegen verbindet. Sie stellen durch ihr gottesfürchtiges Lob und ihr tiefgründiges Ringen und Klagen Verbindung zu dem Heiligen Gott „JHWH“ her. Diese Psalmen bringen unsere Gedanken auf eine Spur, die uns auf der Pilgerreise des Lebens die Lichtstrahlen des Heiligen in und um uns entdecken lässt.

Christian Probst, Jahrgang 1973, ist evangelischer Theologe und Musiker. Er hat schon bei diversen Musikprojekten mitgewirkt und komponiert Lieder, die auch bei Gottesdiensten, Band- und Chorkonzerten eingesetzt werden. Derzeit arbeitet er als Pfarrer in Fürth-Burgfarrnbach.

Wege zum Heiligen

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