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Sehnsucht

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Psalm 120

1 Zu Gott in solcher mir gewordenen Not habe ich schon gerufen und Er antwortete mir.

2 Gott rette meine Seele von Lügen-Lippe, von trügerischer Zunge.

3 Was gibt es dir, was mehrt es dir, trügerische Zunge!

4 Eines Mächtigen Pfeile sind schon geschärft, nebst immer glimmenden Kohlen.

5 Erwünschter wäre es mir, ich hätte unter Meschech geweilt, hätte gewohnt bei Kedars Zelten.

6 Übersatt hat sich meine Seele gewohnt bei Hassern des Friedens.

7 Ich bin Friede, auch wenn ich rede. Sie sind des Krieges.

(Übersetzung nach Rabbi Samson Raphael Hirsch)7

Charlotte Knobloch

„Zu Gott rief ich in meiner Angst, und er erhörte mich.“ Mit diesen Worten beginnt der Psalm 120. In diesem ersten Satz, wie im Übrigen an diversen weiteren Stellen in der Tora oder den jüdischen Gebeten, kommt die Idee zum Ausdruck, dass wir Menschen uns in jeder Lebenslage der göttlichen Präsenz bewusst sein können. Nicht nur in der Not dürfen wir auf „Haschem“8 vertrauen, sondern insbesondere in Momenten der Verzweiflung, der Furcht oder gar der Hoffnungslosigkeit finden wir Trost und Zuversicht in dem festen Wissen, in Gottes Hand zu sein, uns auf IHN verlassen zu können.

Der Ausdruck „sich auf jemanden verlassen“ verdient eine exakte Betrachtung. Inflationär „verlassen“ wir uns heutzutage auf Personen, Institutionen oder die Technik. Beim Worte genommen, ist jene Wendung jedoch von existenzieller Aussage. Wir „verlassen“ uns, gehen also aus uns heraus, geben unsere Autonomie, unsere Selbstbestimmung und unsere Eigenverantwortlichkeit auf, und übergeben diese an jemand oder etwas außerhalb unseres Macht- und Einflussbereiches.

In sehr jungen Jahren musste ich lernen, dass Vertrauen sehr gefährlich, ja tödlich sein kann. Mein kindliches Urvertrauen musste ich mir also sehr früh abgewöhnen und stattdessen lernen, Vorsicht, Skepsis und grundsätzliches Misstrauen als Lebensversicherung anzuerkennen. Diese frühkindliche Prägung habe ich bis heute nicht vollständig ablegen können. Bis heute überkommen mich bisweilen Zweifel, ich könnte vorschnell vertraut haben, könnte mich leichtfertig verlassen haben. Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Loyalität und Integrität – eben nach Vertrauenswürdigkeit – trägt wohl jeder Mensch in seinem Herzen. Wer sehnt sich nicht nach jener Geborgenheit, wie zu viele Menschen auf dieser Welt sie zuletzt im Mutterleib verspürten?

Psalm 120 bildet den Auftakt der sogenannten Stufenpsalmen, die von den Leviten zur Zeit der Existenz des Tempels beim Betreten des Tempelbezirks auf den 15 Stufen zur Tempelvorhalle gesungen wurden. Dieser Psalm soll den zum Tempel als Herzstück des Judentums pilgernden Menschen ermutigen, sich dem Sog des Aufwärtsstrebens auszusetzen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch umschrieb diesen Zustand als „die darin sich offenbarende Gotteswirkung schauen und sie zum Ausdruck bringen“. Die 15 Psalmen werden „Schirej hama’alot“, „Stufenlieder“, genannt, wobei der Begriff „Schir“ im Hebräischen als „ein Gott schauendes Lied“ definiert wird.

Die Stufenpsalmen bilden eine Stufenleiter, welche Israel seine Aufgabe vergegenwärtigt: ein Licht für die Völker zu sein. Als Juden sind wir der Tora, den göttlichen Geboten, verpflichtet. Diese Verpflichtung lässt Israel mitunter auch alleine dastehen und führt es zur Besinnung auf die Tatsache, dass alleine Gott es ist, der sein Volk führt. Gott führte das Volk Israel aus Ägypten ins Heilige Land. Die Sehnsucht jener Jahre der Wanderung durch die Wüste, die Sehnsucht nach Heimat und die Hoffnung auf Heimkehr sind zentrale Motive der jüdischen Religion.

Gott spricht zu Israel: „Rette meine Seele von Lügen-Lippe, von trügerischer Zunge“ (Psalm 120,2). In diesem Psalm lernen wir also auch die Auswirkungen lügenhaften Redens: Die Lippe als Rand des Sprachorgans, umfasst, so interpretiert Rabbiner Hirsch, das ganze Sprachvermögen. Die Zunge hingegen gestaltet das einzelne Wort. Das ganze Sprachvermögen steht im Dienst der Lüge, die in ihrer Rede „nicht zum Ausdruck der Wahrheit der Dinge und der Gedanken und der Gesinnungen“, sondern „zu deren Verschleierung dient“.9

Jedes gesprochene Wort dient der Täuschung. Hirsch geht der Frage nach, was mit dieser Täuschung erreicht wird. Er kommt zu dem Schluss, dass damit nichts erreicht wird, im Gegenteil: Das Bestehende erhält keine dauernde Förderung. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der zum Frieden führenden Absichten.

Im Herbst feiern wir Juden im Gedenken an den Auszug aus Ägypten Sukkot – das Laubhüttenfest. Gläubige Juden leben, speisen, schlafen und empfangen ihre Gäste eine Woche lang in Hütten unter freiem Himmel. Ein nicht blickdichtes Dach, das mit Zweigen oder Palmwedeln gedeckt ist, lässt tagsüber die Sonnenstrahlen hindurch und eröffnet nachts den Blick in den weiten Sternenhimmel. Diese Tradition erinnert uns an die Wüstenwanderung nach dem Exodus, an die harte Zeit zwischen der ägyptischen Knechtschaft und der ersehnten Ankunft im „gelobten Land“.

Sukkot offenbart eindeutig das Motiv der Sehnsucht, bringt aber ebenso unmissverständlich das Bewusstsein zum Ausdruck: Gott beschützt sein Volk auch auf gefährlichen Wegen. Zugleich jedoch beinhaltet das Laubhüttenfest die klare Warnung, sich zu behaglich in vermeintlich geordneten Verhältnissen einzurichten, mit zu schwerem Gepäck unterwegs zu sein oder sich an Eigentümer zu klammern – sowie die Warnung davor, blind zu vertrauen, sich zu sehr zu verlassen. Denn jederzeit kann ganz plötzlich der Ruf ins Ungewisse ergehen. Menschliche Existenz ist immer unsicher.

Angesichts all jener latenten täglichen Unwägbarkeiten gibt es nur den einen sicheren Halt: Gott. Im letzten Monat des jüdischen Jahres bis zum letzten Tag von Sukkot wird Psalm 27 in das tägliche Gebet eingefügt, in dem es heißt: „Der Ewige ist mein Licht und meine Hilfe, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Ewige ist meines Lebens Schutz, vor wem sollte ich Angst haben? Nähern sich mir Bösewichter, um mein Fleisch zu verzehren, meine Bedränger, die mir feindlich gesinnt sind, sie straucheln und fallen. Stellt sich ein Lager gegen mich, mein Herz fürchtet es nicht; erhebt sich ein Krieg gegen mich, trotz allem vertraue ich. [...] Denn Er bringt mich in Seine Hütte am Tag der Boshaftigkeit, birgt mich im Versteck Seines Zeltes, auf den Fels hebt Er mich. [...] Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, doch der Ewige nimmt mich auf. Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg, und führe mich auf den Pfad der Gradheit, wegen meiner Feinde. [...] Hoffe auf den Ewigen und ermutige Dein Herz und hoffe auf den Ewigen.“10

In der Kraft dieses Glaubens hat das jüdische Volk alle Katastrophen seiner Geschichte überlebt. Ein kleines, unscheinbares, ständig verfolgtes und gejagtes Volk, das über die Jahrtausende hinweg die Sehnsucht nach einer besseren, gerechten Welt wachgehalten hat. Die Sehnsucht nach dem Messias, dem von Gott gesandten Befreier.

„Nicht Gott entscheidet, wann der Messias kommt, sondern wir, die Menschen“, schrieb einst der jüdische Gelehrte und Romancier Elie Wiesel. Der Hass der Wahrheit schließt den Hass des Friedens in sich: „Übersatt hat sich meine Seele gewohnt bei den Hassern des Friedens“ (Psalm 120,6). Nur wenn alle Menschen – in der Übereinstimmung ihres Denkens, Wollens, Redens und Handelns mit dem Sein und Sollen der Verhältnisse – der Wahrheit huldigen, können die Menschen bei der Mannigfaltigkeit ihrer Eigenart in Frieden nebeneinanderbleiben und streben. Dann wird es uns ein Leichtes sein, uns auf unsere Nächsten zu verlassen, weil wir wissen, dass wir alle nur nach dem einen streben: Nach einem friedlichen Miteinander aller Menschen – ohne Ansehen von Religion, Hautfarbe, Kultur oder sonstigen künstlichen Grenzen.

In Wahrheit findet jeder den Raum und die Grenze seiner Berechtigung. Die Lüge, so Hirsch, entzieht allen und allem den Boden. Dieser Psalm kann somit als ein durchaus aktuelles Manifest für den Frieden und gegen die Lüge gesehen werden.

Unter Gottes Obhut hatte mein Vater seligen Angedenkens die Kraft, den richtigen Menschen zu vertrauen, mich den richtigen Menschen anzuvertrauen. Menschen, die ihr eigenes Leben und das ihrer Liebsten riskierten, um mich zu retten durch die vielleicht dunkelste Zeit, die diese Welt je sah. So lernte ich auch, dass man sich im Laufe des Lebens bisweilen auch verlassen können muss.

Des Menschen Bestimmung ist es schließlich, gemeinsam mit Menschen zu leben. Wer auf Gott vertraut, und das tue ich, wer sich auf ihn verlässt – aber ohne dabei sein Leben aus der Hand zu geben –, der hat allen Grund, weniger sehnsüchtig als vielmehr mit Freude und Hoffnung in die Zukunft zu blicken.

Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München/Oberbayern.

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