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12. September 1861, Oberstadt, Lorenz Reinhardt

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Er war so schnell gerannt, wie ihn seine Füße mit den klobigen Schuhen tragen konnten. Den ganzen Berg durch den Wald hinunter, an Lederers Garten vorbei, durchs Kalbstor, die Kugelgasse lang rüber zum Markt. Es waren nur wenige Menschen so früh schon unterwegs, manche schliefen vielleicht noch selig, andere fütterten das Vieh.

Lorenz Reinhardt betrat mit eiligen Schritten das Eckhaus an der Reitgasse und bog ganz gegen seine Gewohnheit nicht zur Wirtschaft im Erdgeschoss ab, sondern nahm die steilen Treppen ins Obergeschoss, wo sich seit Jahr und Tag die Kurfürstliche Polizei-Direktion befand. »Esch häße Reinhard«, keuchte er mit hochrotem Kopf. »Forstläufer. Mir hun e Leich obbe am Dammelsberch! Kumme se schnell!«

In der Amtsstube hatte der Regierungs-Polizeidirektor offenbar gerade seinen Dienst angetreten. Er schien sich über die überschwängliche Energie des jungen Mannes am frühen Morgen zu wundern, sicher hatte er wieder die halbe Nacht unten in der Gaststätte verbracht. Man munkelte schon länger, dass er ein Verhältnis mit dem Staatsprokurator habe und deswegen regelmäßig nach den Dienstbesprechungen noch auf ein paar Schnäpse beim Georg unten einkehrte, um später mit seinem Geliebten in einem Hinterzimmer zu verschwinden. Das passierte natürlich nicht täglich, aber schon hin und wieder. Manchmal, so unkten die Leute, lohne sich für ihn nicht mal mehr der Heimweg in sein windschiefes Häuschen zu seiner kugelrunden Frau unten an der Augustinertreppe.

»Jetzt mal langsam!« Betulich nahm der hohe Staatsbeamte erst einmal Platz und knöpfte in Ruhe seine Jacke auf. Dann suchte er gemächlich einen Stift und ein Blatt Papier auf dem zugemüllten Schreibtisch, auf dem sich Geständnisse und Zeugenaussagen stapelten.

Keiner Wunder, dachte Reinhardt, dass die Schuldigen der Massen-Schlägerei der betrunkenen Verbindungsstudenten am 1. Mai oder des Branntwein-Skandals vom Frühjahr noch nicht überführt waren. Was für eine abgründige Arbeitsmoral hier herrschte! Mitten auf allen Blättern und Kladden lag ein dickes, angebissenes Brot mit ahler Wurst. Unter anderen Umständen hätte er ihm das geneidet, heute war Reinhardt der Hunger wirklich vergangen.

»Eine Leiche also. Männlich, weiblich, tot oder lebendig?« Er lachte über seinen eigenen Witz.

Lorenz Reinhardt kratzte sich am Kopf. Er hätte es gleich wissen müssen. Der Alte war der falsche Ansprechpartner für einen solchen Notfall. Die Frau dort oben im Wald war übel zugerichtet worden. Alles blutverschmiert, und es saßen Tausende Fliegen auf ihren halbgeschlossenen Augen. Ihr Bauch hatte eine deutliche Wölbung, so als hätte sie ein Kind getragen. Reinhardt hatte sich ein ganzes Stück weiter unten im Wald gehörig übergeben müssen und stand unter Schock. Totes Wild hatte er ja schon oft geborgen. Ein totes Weib bislang noch nie.

»Es ess e Frah. Dos Gesicht is unkenndlich«, stammelte er jetzt. Er konnte die Schnapsfahne seines Gegenübers bis zur Tür riechen. »Isch kenne se nit. Esch mähn, s’ könnt ä Tagelöhnerin sain!«

»Sehr gut, Reinhardt. Das ist ein neuer Fall für die Kurfürstliche Polizeidirektion Marburg. Endlich mal was los in der Bude. Ich schreibe das jetzt alles genauestens auf, und Sie setzen Ihren Egon drunter. Dann sind wir schon einen großen Schritt weiter!«

»Egon?« Was wollte der von ihm? Der Mann dachte sicher, er sei was Feineres als er, nur, weil er kein Platt sprach.

»Na, Ihre Unterschrift, mein Lieber«, fügte der Beamte selbstgefällig hinzu. Und während er den Gerichtsdiener aus dem Vorzimmer herrief, um beim Kriminalgericht Meldung zu machen, schrieb er gleichzeitig dem Physikus Stadler eine Botschaft. »Jetzt fehlen nur noch die Männer aus der Anatomie in der Ketzerbach. Dann geht es los!«

»Häst dos, mir müsse noch wordde?«

»Eins nach dem anderen, nicht wahr? Entspannen Sie sich! Wenn schon die Fliegen da sind, liegt die Leiche eh schon ein paar Tage. Da kommt es auf ein paar Stunden jetzt auch nicht mehr an. Und wehe, wir finden dort oben nix. Sagen Sie es lieber gleich, wenn Sie heute Morgen schon einen über den Durst getrunken und sich das Ganze nur eingebildet haben.« Der Polizeidirektor brach in schallendes Gelächter aus. Dann nahm er sich das Brot vom Teller und biss herzhaft hinein. »Köstlich, Reinhardt. Es geht doch nichts über die ahle Wurst vom Liebig!«

Hinkels Mord

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