Читать книгу Julia im Liebestaumel - Christina Brand - Страница 3

Kapitel 1

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Mit schnellen Schritten eilte Julia den Hang hinauf. Atemlos und keuchend hastete sie die letzten Meter zu ihrem Haus. Ruhe wollte sie, nichts als Ruhe, keine Fragen nach dem Geschehenen, es war ein Unglück, ja bestimmt, es war ein schlimmer Unfall. Sie glaubte nicht, was die Leute sich erzählten, und von den nicht enden wollenden Fragen des Reporters hatte sie mehr als genug. Sie wollte endlich allein sein, sich ausruhen und niemanden sehen. Die ganze Fahrt hierher war für sie wie ein Albtraum. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und hoffte, dass sie hier ihre innere Ruhe finden würde.

Sie durchquerte den kleinen Vorgarten ihres Ferienhauses und schloss die Haustür auf. Eiligst hing sie ihre Jacke an der Garderobe auf, lief ins Wohnzimmer, zog den Rollladen hoch und öffnete die Tür zur Terrasse. Sie ließ sich in einem Korbsessel nieder, winkelte die Beine an und atmete tief durch. Ihr Blick durchstreifte die wunderschöne Landschaft und die glutvolle Sonne, die langsam hinter einer Bergkuppe verschwand. Zu ihren Füßen lag der See, umrahmt von sanften Bergen und Hügelketten. Rechts unten befand sich die Stadt, und man konnte von hier oben das turbulente Treiben, das sich in den Straßen und Gassen abspielte, erahnen. Welch eine Stille hier oben. Julia war heilfroh, dem Trubel der letzten Tage entkommen zu sein, und schloss die Augen.

Vater hatte recht, dachte sie, es gibt kein schöneres Fleckchen Erde, wohin man sich zurückziehen kann, und sie war dankbar, dass er ihr dieses Ferienhaus geschenkt hatte. Seit ihrer Kindheit war sie jedes Jahr für einige Wochen mit ihren Eltern hierher gekommen, um den Urlaub zu verbringen. Aber das hatte sich geändert ‒ seit dem Tod ihrer Mutter vor nunmehr über zehn Jahren. Vater wollte nicht mehr an diesen Ort, zu viele Erinnerungen hingen an dem Haus, und er schenkte es seiner Tochter. Julia kam auch jetzt Jahr für Jahr in ihr Feriendomizil und genoss für einige Wochen das milde Klima, die Stille ringsum und die fantastische Aussicht über das Tal, den See und das Gebirge.

Frau Morandi, ihre Nachbarin, kümmerte sich während ihrer Abwesenheit liebevoll und das Haus und den Garten. Julia hatte sie kurz vor ihrer Abreise aus München informiert, dass sie heute schon in ihr Ferienhaus reise, und Frau Morandi hatte wie gewohnt eingekauft und den Kühlschrank mit dem Nötigsten versorgt. Julia konnte sich auf sie verlassen, sie war immer da, wenn sie jemanden brauchte, besonders seit es ihre Mutter nicht mehr gab. Ein plötzliches Läuten an der Tür ließ Julia erschrecken. Noch müde von der langen Fahrt erhob sie sich von ihrem Sessel, um zu öffnen.

„Hallo, Julia, ich habe deinen Wagen unten auf der Straße parken gesehen und wollte fragen, ob alles in Ordnung ist“, sagte Frau Morandi. In ihrem Arm hielt sie einen Korb voller Früchte, den sie Julia reichte. „Hier, die habe ich gerade geerntet, nimm sie, sie werden dir schmecken.“ Julia bat Frau Morandi einzutreten und deutete auf einen Stuhl im Wohnzimmer, auf dem sie Platz nehmen sollte. „Du bist ja so blass und erschöpft, Julia, sicher die lange Reise. Ich werde dir später helfen, das Gepäck aus dem Wagen zu holen, aber nun erzähle mal, warum bist du so Hals über Kopf abgereist? Du wolltest doch erst in einem Monat Urlaub machen. Was ist passiert?“

Julia ließ sich auf dem gegenüberstehenden Sessel nieder und sagte leise: „Frank ist verhaftet worden. Er soll seine von ihm getrennt lebende Frau umgebracht haben. Er wird verdächtigt, sie einen Abhang hinunter gestoßen zu haben, wobei sie so schwere Kopfverletzungen erlitten habe, dass sie sofort tot gewesen sei. Aber man weiß nichts Genaues, die polizeilichen Untersuchungen sind noch im Gange.“

Julia stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Frau Morandi schaute ihr ungläubig nach und stammelte: „Aber doch nicht Frank, nein, das nicht, zu so einer Tat ist er nicht fähig.“

„Das denke ich auch,“ entgegnete Julia, „er kann so etwas niemals tun. Ich habe ihn im Untersuchungsgefängnis besucht, habe ihn gefragt, wie es zu diesem Verdacht kommen konnte, aber er hat nichts gesagt, er hat mich immer nur angesehen und geschwiegen. Ich habe auch mit seinem Anwalt gesprochen, aber der meinte, wenn Frank weiter schweigen würde, könnte er nicht viel für ihn tun.“

„Aber was für ein Motiv soll Frank denn haben, sag Julia.“

„Es gibt kein Motiv, beide wollten die Scheidung, und Kirstin lebte längst wieder in einer neuen Beziehung.“

„Aber dann kann es doch auch ein anderer gewesen sein! Wieso verdächtigt man gerade Frank?“

„Jemand hat zum fraglichen Zeitpunkt Franks Wagen auf dem Hügel gesehen.“

„Das ist ja fürchterlich, wie kann man Frank nur zum Reden bringen? Er muss sich doch verteidigen, warum sagt er nichts?“

„Ich weiß es nicht, vielleicht ist er selbst von den ganzen Vorkommnissen so entsetzt, dass er einfach nicht fähig ist zu reagieren. Das einzige, was er dem Anwalt gegenüber äußerte, war der Wunsch, mich zu informieren. Aber wie kann ich ihm helfen? Er tut mir so leid, richtig niedergeschlagen sah er aus. Ich bin selbst noch ganz mitgenommen, konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Deshalb habe ich mich entschlossen, jetzt schon herzukommen. Man muss Frank Zeit geben, das Geschehene zu verarbeiten. Ich möchte mich jetzt ausruhen, würden Sie mir helfen, meine Koffer heraufzutragen?“

Frau Morandi erhob sich, sie schüttelte noch immer ungläubig den Kopf und begab sich mit Julia hinunter auf die Straße, um das Gepäck zu holen.

„Wie geht es Ihrem Mann, Frau Morandi? Hat er noch so viele Beschwerden beim Gehen?“

„Es wird jeden Tag ein bisschen besser. Es war halt keine einfache Operation. Der Arzt meint, in ein paar Wochen wäre es überstanden und er könne dann wieder ganz normal laufen.“

„Das freut mich. Grüßen Sie ihn, sicher sehen wir uns bald.“

Als auch die letzte Reisetasche in Julias Haus gebracht war, verabschiedete sich Frau Morandi, und Julia begann ihre Sachen auszupacken.

Es war bereits später Vormittag, als Julia die Augen aufschlug. Ein paar Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Fensterläden in ihr Schlafzimmer, mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, schob die Vorhänge zurück und zog den Laden auf. Die Sonne stand hoch am Himmel, ein paar weiße Wölkchen zogen vorüber, es war ein schöner Tag. Sie ließ die frische Luft in den Raum und verschwand im angrenzenden Bad. Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, bereitete sie sich das Frühstück und beschloss, hinunter in die Stadt zu fahren. Sie hatte noch einige Besorgungen zu erledigen, zuvor aber wollte sie Franks Anwalt ihre Ferienadresse und ihre Telefonnummer mitteilen. Falls er noch Fragen hatte, konnte er dann sie hier erreichen. Sie hatte ihm fast alles über Frank erzählt, dass sie von Kindheit an kannte, dass beide vieles in ihrer Jugend gemeinsam erlebt hatten und noch heute die besten Freunde seien. Beide hatten sich immer gut verstanden, und wenn sie sich zufällig trafen, erzählte Frank häufig von Kirstin. Dass es nicht einfach für ihn sei, mit ihr zu leben, aber er liebe sie. Erst vor ein paar Wochen, als Julia gerade dabei gewesen war, ihre Galerie zu verlassen, hatte Frank vor der Eingangstür gestanden und sie sprechen wollen. Julia war überrascht gewesen, und sie hatten beschlossen, zusammen zum Italiener an der Ecke zu gehen, um sich dort ungestört zu unterhalten. Frank schien nervös und angeschlagen. Julia versuchte, ruhig zu bleiben und der Situation etwas Normales zu geben. Nachdem sie bestellt hatten, ergriff Frank Julias Hände:

„Kirstin will sich von mir trennen.“

Seine Stimme zitterte, Julia schaute ihn mit großen Agen an.

„Ja, aber warum, Frank?“

„Sie will ihre Freiheit, sie will nicht mehr an mich gebunden sein. Stell dir vor, sie ist bereits ausgezogen mit allen ihren Sachen und wohnt jetzt bei ihrer Freundin Karla.“

„Das gibt’s doch nicht! Frank, du musst noch mal mit ihr reden!“

„Das wollte ich, aber sie will nicht mehr mit mir sprechen, und wenn ich bei Karla anrufe, lässt sie sich verleugnen. Heute morgen habe ich ein Schreiben von ihrem Anwalt erhalten, dass sie die Scheidung eingereicht hat.“

„Ja, aber warum alles so schnell? Das verstehe ich nicht.“

Kirstin war schon immer so, sie überlegt nicht lange, fasst schnelle Entschlüsse.“

Frank sprach plötzlich lauter, am Nebentisch drehten sich die Köpfe zu ihnen herüber.

„Reg dich nicht auf“, sagte Julia, „wir werden ganz ruhig darüber reden.“

Der Kellner schenkte ihnen Wein ein und servierte die Pizza.

„Frank, du hast immer erzählt, dass es nicht einfach wäre, mit Kirstin zu leben. Vielleicht ist es doch besser, wenn ihr auseinander geht?“

Frank stützte sein Kinn in die Hände und schüttelte den Kopf.

„Ich liebe sie, Julia.“

„Aber es ist eine einseitige Liebe, Frank, überlege mal. Über kurz oder lang hättet ihr euch auseinander gelebt, hättet immer häufiger gestritten.“

„Du hast ja recht, aber warum will sie keine Aussprache mit mir?“

„Sie wird befürchten, dass du sie nicht verstehen willst, davor hat sie Angst.“

Julia schaute auf die Uhr und deutete an, dass sie noch schnell zur Druckerei müsse. Am Samstag fände eine Vernissage in ihrer Galerie statt, und sie müsse noch die Einladungen verschicken. Der eilends herbei gerufene Kellner kassierte, und Julia verabschiedete sich von Frank mit ein paar tröstenden Worten:

„Komm doch am Samstag in die Galerie, wenn du Lust hast, das lenkt dich ein wenig von deinem Kummer ab.“

„Ich werd’s mit überlegen,“ meinte Frank, und beide winkten sich zum Abschied zu.

Wie ein Film lief dies alles vor Julias Augen noch einmal ab. Rasch räumte sie das Geschirr zur Seite, griff nach ihrer Jacke, lief aus dem Haus den Hang hinunter zu ihrem Auto. Eigentlich war der Tag viel zu schön, um an traurige Dinge zu denken, aber Franks Schicksal ließ ihr keine Ruhe. Hier in dem idyllischen Ort hatten sie früher viel gemeinsam unternommen. Er war der Sohn von Bekannten ihrer Eltern und wohnte damals ganz in ihrer Nähe. Von klein auf waren sie zusammen gewesen, zuerst in der Grundschule und später auf dem Gymnasium, wo sie beide das Abitur ablegten. Da Julia keine Geschwister hatte und sich mit Frank so gut verstand, hatten ihre Eltern erlaubt, dass er die Ferien mit ihnen in ihrem Domizil hoch über dem See verbrachte. Es war eine schöne Zeit gewesen, die sie in den Sommermonaten miteinander verlebt hatten. Sie machten zusammen Ausflüge in die Umgebung und fuhren zum See, um zu baden. Und als sie etwas älter geworden waren, waren sie abends häufiger mit Raffaela und Angelo, zwei jungen Leuten, die sie im Ort kennengelernt hatten, in ein Tanzcafé gegangen. Es war immer etwas los gewesen, und sie hatten eine Menge Spaß gehabt. Aber wie lange lag das schon zurück? Es war noch vor dem Tod ihrer Mutter gewesen, erinnerte sich Julia, danach hatte sie Frank nicht mehr so häufig gesehen. Sie war für drei Jahre nach Genf gegangen, hatte dort Kunst studiert und anschließend eine Galerie in München eröffnet. Frank studierte zur gleichen Zeit Sprachen am Dolmetscherinstitut und war nun als Übersetzer in einer großen Firma tätig. Auch ihn hatte es nach München verschlagen, obwohl sie beide aus Hamburg stammten. Sie telefonierten gelegentlich miteinander, aber der Kontakt war immer spärlicher geworden, und manchmal hörten sie monatelang nichts voneinander. Bis eines Tages Frank bei ihr angerufen hatte: „Julia, ich habe die Frau meines Lebens gefunden. Wir werden bald heiraten und möchten dich zur Hochzeit einladen.“ Mit überschäumender Freude hatte er von Kirstin berichtet, die er in einem Fotoatelier kennengelernt hatte. Sie hatte Passfotos von ihm gemacht, und da hatte es gleich gefunkt. Er wollte wieder von sich hören lassen, denn er hatte vor, ihr als seiner vertrautesten Freundin Kirstin bald vorzustellen. Er war ganz verrückt gewesen vor Freude, sodass er nicht einmal nachfragte, wie es ihr ginge. Julia hatte nur „Ja, bis bald“ gesagt und aufgelegt. Damals schien es ihr, dass Frank der glücklichste Mann auf Erden werden müsse. Und nun das: Kirstin war tot, und Frank saß im Gefängnis.

Auch ihre Beziehung zu Florian war vor kurzem auseinander gebrochen. Er hatte sich, als sie übers Wochenende verreisen musste, mit Myriam, einer gemeinsamen Bekannten eingelassen. Nun war sie schwanger. Myriam wollte das Kind unbedingt haben, ob mit oder ohne Vater. Florian selbst mochte sich weder für noch gegen das Kind entscheiden, war unschlüssig und ratlos. Julia nahm ihm den Seitensprung nicht einmal übel. Denn bevor Florian sie hintergangen hatte, war ihre Liebe zu ihm merklich abgekühlt gewesen. Sie hatte eigentlich keine Ursache für die Entfremdung gesehen und konnte sich selbst nicht erklären, warum sie immer weniger für Florian empfand. Sicher, zunächst hatte sie sich in ihrem Stolz verletzt gefühlt, aber dann überwog der Verstand. Es war besser so! Florian war nicht der richtige Mann für sie. Er sah alles viel zu oberflächlich, war mit seinen dreißig Jahren manchmal wie in Kind, unreif und ohne Verantwortungsbewusstsein. So war es auch jetzt, da Myriam ein Kind erwartete, und er nicht wusste, wie er sich entscheiden sollte. Aber das musste er alleine herausfinden, sie hatte keine Lust, ihm Ratschläge zu erteilen, für die er sicher dankbar gewesen wäre. Er hätte sich bestimmt noch ganze Tage mit ihr über sein Problem unterhalten, hätte alles Unangenehme bei ihr abgeladen, so wie er es immer getan hatte und anderen die Verantwortung übertrug. Aber Julia hatte ihm dieses Mal keine Gelegenheit dazu gegeben. Es war nun seine Sache, und er sollte sich mit Myriam auseinandersetzen. Vielleicht würde er jetzt erwachsen werden. So hatte Julia nur „Adieu, Florian, mach’s gut!“ gesagt und einen völlig verunsicherten Mann zurückgelassen.

Julia hatte Glück und fand eine Parklücke nahe der Seepromenade. Sie wollte zunächst alle Besorgungen erledigen, zur Bank gehen und später in Ginos Restaurant eine Kleinigkeit essen. Sie nahm den Einkaufskorb, schloss ihren Wagen ab und lief beschwingt die paar Schritte zur Fußgängerzone. Was für ein herrlicher Tag, die Wärme tat ihr gut und sie fühlte sich jetzt schon besser als in den vergangenen Tagen. Es war richtig gewesen, dass sie ihren Urlaub einfach früher genommen hatte, sie musste ausspannen, auf andere Gedanken kommen. Da war dieser Ort gerade richtig. Einerseits das heitere, pulsierende Leben, das sich hier in den Straßen und Gassen dieser interessanten Stadt abspielte, und andererseits die märchenhafte Ruhe in ihrem idyllisch gelegenen Ferienhaus ‒ beides erleichterte es ihr, auf andere Gedanken zu kommen und die Erlebnisse der letzten Tage zu verdrängen, und sie war froh darum. Zielstrebig lenkte sie ihre Schritte dem Markt zu. Ja, das war ihr zweites Zuhause, die vielen kleinen Läden und Boutiquen, die Obst-, Gemüse- und Delikatessengeschäfte, ein paar Studenten, die immer an derselben Stelle auf dem Marktplatz Musik spielten, um sich ihr Studium zu finanzieren. Dieser romantische Teil der Stadt mit seinen winkligen Ecken und Arkaden gefiel ihr besonders gut. Julia ließ sich Zeit und bummelte von Laden zu Laden, schaute sich eingehend die Auslagen in den Schaufenstern an und erledigte ihre Besorgungen. Dann schlenderte sie zum See hinüber und ließ sich auf einer Bank direkt am Ufer nieder. Mehrere Ausflugsschiffe tuckerten vorbei, viele frohe und glückliche Menschen winkten sich zu. Hier und da flitzte ein Motorboot vorüber und ließ eine lange Wellenschleife hinter sich zurück. Julia sog die frische Seeluft in sich auf, drehte ihr Gesicht zur Sonne und schloss die Augen.

In einer halben Stunde würde sie zum Essen gehen und anschließend Raffaela und Angelo anrufen, um ihren Besuch anzukündigen. Beide hatten sehr früh geheiratet und bereits drei süße Kinder, lauter Mädchen, wobei die ersten beiden ein Zwillingspärchen waren. Eine rundum glückliche Familie, dachte Julia. Raffaela ging in ihrer Mutterrolle völlig auf und war mächtig stolz, wenn man ihre Mädchen bewunderte. Sie war den ganzen Tag mit ihnen beschäftigt und verlor nie die Geduld, wenn sie sich einmal stritten. Die Kleinen hingen sehr an ihrer Mutter, und es war eine Wonne zuzusehen, wenn Raffaela sie zum Ausgehen fertig machte. Das Jüngste saß im rosa Rüschenkleidchen im Kinderwagen, und das Zwillingspärchen lief genauso adrett gekleidet rechts und links neben ihr her. Wenn Angelo, der eine Autowerkstatt besaß, abends nach Hause kam, liefen sie ihm entgegen. Zuerst die Zwillinge, dann mit ein bisschen Abstand Raffaela mit der Kleinsten auf dem Arm. Alle freuten sich, wenn er wieder da war, und Angelo konnte nicht genug Küsse an „seine Mädchen“ verteilen. Ein Lächeln huschte über Julias Gesicht.

Was würden sie Augen machen, wenn sie ihnen von Frank erzählte. Sie würden es genauso wenig begreifen können wie all ihre Freunde. Raffaela und Angelo waren ebenso wie Julia überzeugt, dass er mit Kirstin sehr glücklich sein müsse. Es war ein gelungenes Fest gewesen, als beide vor drei Jahren geheiratet hatten. Dass diese Ehe so schnell zu Ende gegangen war, würden sie sicher so wenig verstehen wie sie.

Julia stand auf, verstaute ihren Einkaufskorb im Auto und machte sich auf den Weg zu Gino. Heute wollte sie draußen in der Weinlaube essen, das Wetter lud dazu ein. Es waren noch genügend Tische frei, sodass sie sich einen Platz aussuchen konnte, von wo aus sie das rege Treiben auf dem Platz beobachten konnte. Da kam auch schon der Kellner und lächelte sie an.

„Sind Signorina wieder da?“

„Ja, Marco, bringen Sie mir bitte die Speisekarte und einen Aperitif.“

„Con piacere, Signorina.“

Julia wählte ein Gericht, und ihre Augen schweiften über die Piazza und die dahinter liegende Kirche. Zahlreiche Menschen zwängten sich durch die Gassen, strömten über den Platz, manche hektisch, andere gemütlich. Mindestens die Hälfte davon waren Touristen, dachte sie. Man merkte es sofort. Sie studierten eifrig den Stadtplan, schauten sich immer wieder nach den Sehenswürdigkeiten um und lasen zuerst die Speisekarte an den vielen Feinschmeckerlokalen und Trattorien, ehe sie sich entschlossen einzukehren. Julia genoss die trotz allem beschauliche Atmosphäre, das Unbeschwerte und Heitere, das den wahren Charme der Stadt ausmachte. Nachdem Marco ihr das Essen serviert hatte, erkundigte sie sich nach Gino, dem Chef des Hauses, und musste erfahren, dass er geschäftlich unterwegs war. Nun, sie würde ihn noch öfters sehen, dachte Julia, ihr Urlaub hatte ja erst begonnen. Sie ließ Gino Grüße ausrichten und rief Raffaela und Angelo an. Sie hatte Glück. Raffaela war gleich am Apparat. Julia teilte ihr mit, dass sie seit gestern hier sei, und fragte, ob sie, ehe sie wieder in ihr Haus zurückfuhr, bei ihr vorbeischauen könne. Noch ehe Julia ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, jubelte Raffaela in ihrer temperamentvollen Art, dass sie sich wahnsinnig freue, und sie solle sich gleich auf den Weg machen. Wie würde sie über die drei kleinen Mädchen staunen, sie hätte sie schon über ein Jahr nicht mehr gesehen, und überhaupt gäbe es so viel zu erzählen. „Beeile dich, Julia!“

Julia winkte Marco zu, dass sie bezahlen wolle, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Wagen. Unterwegs besorgte sie in einem Spielzeugladen noch ein paar Geschenke für die Kinder und sah jetzt schon ihre strahlenden Gesichter vor sich. Es war heiß geworden und sie schob das Wagenverdeck zurück. Inzwischen hatte der Betrieb an der Seepromenade zugenommen. Kleine Reisegruppen erkundeten die Fahrpläne an der Schiffsanlegestelle, und in den Lauben und Parks der gegenüberliegenden Hotels und Bars saßen Leute. die sich angeregt unterhielten oder vor sich hin dösten. Das südliche Flair beflügelte Julia und sie fühlte sich so richtig wohl. Es war richtig gewesen, hierher gekommen zu sein.

Nun musste gleich der Abzweig kommen, der zu dem Dorf führte, in dem Raffaela und Angelo wohnten. Nach kurzer Zeit bog Julia von der Hauptstraße ab und einen langsam ansteigenden Weg hinauf. Noch zwei bis drei Kurven, dann müsste sie da sein. Da erblickte sie auch schon Raffaela, die ihr mit den Kindern ein Stück Wegs entgegenkam. Julia stoppte ihren Wagen, riss die Fahrertür auf, und schon lagen sich die beiden Frauen in den Armen. Die Kleinen zupften an Julias Rock und wollten auch begrüßt werden. War das ein Wiedersehen! Julia überreichte den Kindern die mitgebrachten Spielsachen, nahm das Jüngste auf den Arm, herzte und küsste dann eins nach dem anderen und kniff immer wieder Raffaela in die Seite, um ihre Freude zum Ausdruck zu bringen.

„Wollen wir nicht endlich ins Haus gehen?“, fragte Raffaela und schob die Kinder vor sich her. Die beiden Großen eilten gleich voran, und Julia hielt einen Moment inne, ihr Blick schweifte über die Kastanienwälder zu den Bergkegeln ringsum und senkte sich dann hinunter zu Stadt und See. Vielleicht werde ich eines Tages ganz hierher ziehen, dachte sie und betrat mit den anderen das Haus. Raffaela hatte bereits Kaffee aufgesetzt und ermunterte Julia zu berichten. Julia erzählte zuerst von der Arbeit in der Galerie, dass alles sehr gut liefe und sie eigentlich völlig ausgelastet sei. Trotzdem habe sie einige Termine abgesagt und kurz entschlossen Urlaub genommen.

„Und warum das, Julia?“, fragte Raffaela.

„Es ist wegen Frank!“

„Was hast du mit Frank zu schaffen? Ich meine, er ist dein Jugendfreund, was hat das aber mit deinem vorzeitigen Urlaub zu tun?“

„Er sitzt in Untersuchungshaft und wird beschuldigt, Kirstin umgebracht zu haben.“

„Was?“ Raffaela schrie es, fast hätte sie die Kanne fallen lassen, die Kinder schauten ihre Mutter mit großen Augen an. Sie hieß die Kleinen in ihr Zimmer zu gehen, denn was Julia äußerste, war nicht für deren Ohren bestimmt.

Julia erzählte der Reihe nach, was vorgefallen war. Sie habe Frank vierzehn Tage vor seiner Verhaftung in ihrer Galerie getroffen, wo er ihr mitgeteilt habe, dass er nun auch mit der Scheidung von Kirstin einverstanden wäre und ebenfalls einen Anwalt bemüht hätte. Durch Zufall sei er ihr in einem Café begegnet, sie habe dort Händchen haltend mit ihrem neuen Freund am Tisch gesessen. Als sie Frank erblickt habe, schaute sie ihn kühl und abweisend an, musste ihn aber notgedrungen ihrem neuen Lover vorstellen. Sie sei Frank gegenüber sehr reserviert gewesen und habe wenig Interesse gezeigt, sich mit ihm zu unterhalten. Mittlerweile habe sie sogar ihren Job im Fotoatelier gekündigt und sei zu ihrem Freund gezogen. Außerdem würde sie jetzt ganz für ihn arbeiten, angeblich als Geschäftsführerin in einer Bar.

„Es ist alles ein bisschen zwielichtig gewesen.“

„Aber es ist doch merkwürdig, dass Kirstin sich nicht nur schnell von Frank trennte, sondern auch ihren Studiojob gleich mit aufgab.“

„Das kann keiner verstehen“, meinte Julia. „Ich kann nur hoffen, dass Frank sein Schweigen aufgibt, damit endlich Licht in diese Sache kommt. Als ich ihn im Gefängnis besucht habe, schien er mit seinen Gedanken weit weg zu sein, ich bin der Ansicht, er hat es noch gar nicht begriffen. Ich werde mich in den nächsten Tagen wieder mit seinem Anwalt in Verbindung setzen. Vielleicht weiß man schon mehr darüber. Die Polizei wollte auch ihren Freund unter die Lupe nehmen.“

„Ich kann es nicht glauben, Julia, dass Frank so etwas getan haben soll.“

„Und ich bin sogar überzeugt, dass er nichts damit zu tun hat.“

Nebenan wurden die Stimmen der Kinder immer lauter. Beide standen auf, um sich den Kindern zu widmen.

„Was macht eigentlich Florian? Warum ist er nicht mitgekommen, Julia?“

„Es ist aus zwischen uns.“

„Wieso das? Und so plötzlich?“

„Florian hatte ein Verhältnis mit Myriam, einer gemeinsamen Bekannten, und wird Vater. Zur Zeit befindet er sich in einer schweren Krise, du weißt ja, dass es ihm nicht leicht fällt, Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich richtig überlege, hatten wir uns schon länger nichts mehr zu sagen. Ich war so eingespannt in meine Arbeit, dass ich gar nicht merkte, dass so vieles zur Routine geworden war. Es musste wohl so kommen.“

„Dann ist es auch besser so, Julia. Vergiss das Ganze!“

„Wie geht es Angelo?“

„Oh, sein Geschäft läuft sehr gut, er musste sogar noch zwei Leute einstellen. Am Wochenende sind wir alle bei seiner Familie eingeladen. Komm doch einfach mit, Julia, sie würden sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen.“

„Vielleicht, ich werde dir Bescheid geben.“

Julia im Liebestaumel

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