Читать книгу AktenEinsicht - Christina Clemm - Страница 8

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CLAUDIA S.

Wie verirrt sitzt Claudia S. mit ihrem kleinen weißen Pelzjäckchen und dem gleichfarbigen Pudel in dem Wartezimmer der Anwältin. Als sie ins Besprechungszimmer gerufen wird, wirkt sie unschlüssig, sieht die Anwältin nicht an und sagt: »Cheri heißt sie, und ohne sie kann ich nicht leben. Glauben Sie mir, sie ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Komm meine Süße, wir sprechen jetzt mit der Anwältin.«

Sie betritt das Besprechungszimmer, setzt sich, hebt den Pudel auf ihren Schoß und fängt an zu weinen.

Zunächst sagt Claudia S. nicht viel. Sie hat Angst. Immer wieder vergräbt sie ihr tränennasses Gesicht in ihrem Pelzjäckchen. Dann fängt sie an, ihre Geschichte zu erzählen, anfangs unzusammenhängend und nur in Bruchstücken. Dass Kevin ihr Cheri geschenkt habe, dass sie vor Kevin geflohen sei, weil er sehr gewalttätig war. Dass sie ihn aber nie habe anzeigen wollen, weil es viel zu gefährlich sei. Und dass sie es jetzt aber leider doch getan habe, eigentlich aus Versehen, als er sie gefunden und ihr Cheri weggenommen habe. Lange dauert es, bis sie sich etwas sammelt und mehr erzählt.

Claudia S. ist die Tochter eines Oberstudienrates und einer Theologin. Sie ist als Einzelkind im gutbürgerlichen Berlin aufgewachsen, hat gerade das Abitur absolviert und ist auf dem besten Weg, ihr Psychologiestudium zu beginnen. Sie hat ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und viele Freund*innen, die meisten kennt sie aus der Schule. Es gibt und gab auch die ein oder andere Liebelei, aber der Richtige war noch nicht dabei. Bis sie in ihrem Fitnessstudio Kevin trifft und sich unsterblich in ihn verliebt. Er hilft ihr, die Gewichte an einem Gerät auszuwechseln, und lädt sie später zu einem Drink ein.

Weshalb sie darauf eingeht, weiß sie nicht, darüber wird sie später oft nachdenken. Womöglich, weil er so anders ist als alle in ihrer Umgebung. Womöglich, weil er ein so unglaublich freundliches Lächeln hat, vielleicht auch, weil er so stark ist. Kevin ist ganz anders als alle, mit denen sie bisher befreundet war. Er ist durchtrainiert, höflich, unverhohlen begeistert himmelt er sie an. Sie lachen viel an ihrem ersten Abend, und sie weiß, dass er sie auf Händen tragen wird. Er hat Geld, das er mit vollen Händen ausgibt. Kumpels, die ihm mit Respekt begegnen, auf den Partys in den angesagtesten Clubs der Stadt sind immer Plätze für sie reserviert.

Kevin überhäuft Claudia S. mit Geschenken, geht mit ihr in die teuersten Restaurants, in die besten Clubs, zu Partys auf den großen Yachten im Wannsee. Er nimmt sie mit zu illegalen Boxkämpfen, stellt sie all seinen Freunden vor. Alle gehen respektvoll mit ihr um.

Claudia S. ist fasziniert, fühlt sich wie in einem Film. Sie genießt das neue, das wilde, unangepasste Leben. Hier zählt nicht, wer welchen Abschluss hat, welchen Doktortitel, welches Buch man gelesen hat. Sie genießt die neue Gesellschaft, auch die Gesetzlosigkeit, die eigenen Regeln, die neue Gemeinschaft, das Berlin, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es existiert.

Kevin ist jemand im Drogengeschäft, arbeitet für die wirklich Großen. Den Verkauf für halb Ostberlin hat er unter sich. Er ist ein gut strukturierter Organisator, sitzt zu Hause lange am Rechner, führt Listen, die er stets im Tresor aufbewahrt.

Seinen Führerschein hat er schon lange verloren, deshalb hat er einen Fahrer. Der bringt auch Pizza, wenn sie nicht mehr rausgehen wollen, kauft ein, macht alles, was Kevin ihm sagt. Freunde, Brüder nennen sie sich.

Der Name Claudia befindet sich bald in seiner persönlichen Galerie. Auf seinem Bauch – als Tattoo. Ihren hat er größer tätowieren lassen als den von Leyla, mit der er immerhin zwei Jahre zusammen war. Es ist ihm sehr ernst mit ihr.

Seine Wohnung ist groß, bald zieht sie bei ihm ein. Jede Nacht sind sie lang unterwegs, tagsüber geht Kevin seinen Geschäften nach. Die sollen sie nicht kümmern, sagt er, davon soll sie besser nichts wissen.

Den Kontakt zu ihren Eltern bricht Claudia S. ab, nachdem diese in ihrer freundlich besorgten Art deutlich gezeigt haben, was sie von Kevin halten. Ihr waren sie schon lange zu spießig, zu brav, zu angepasst mit ihrer bildungsbürgerlichen Liberalität.

Claudia S. lebt mit Kevin, führt seinen Haushalt, bestellt Fastfood, manchmal kocht sie für ihn die Rezepte von Koch-Internetseiten nach und freut sich, wenn es ihm gefällt. Geputzt wird die Wohnung selbstverständlich von jemand anderem. Sie ist nur noch »Süße«, »Schätzchen«, »Zuckerschnäuzchen«, »geile Prinzessin«.

Wenn er weggeht, möchte er, dass sie zu Hause bleibt. Wenn sie doch weggeht, will er, dass der Fahrer nicht von ihrer Seite weicht. »Ich habe einfach Angst um dich, Schätzchen, die Welt ist viel schlechter, als du sie dir vorstellst. Und gerade in meinem Beruf. Da gibt es leider ein paar schlechte Menschen, die mir gerne schaden würden. Und das ginge am besten über dich. Vertraue mir. Ich beschütze dich.«

Kontakte mit den Freundinnen von seinen Freunden sind okay, die gehen auch nicht allein aus. Andere Kontakte sieht Kevin nicht gern, »die kann ich einfach nicht einschätzen, Püppchen«.

Claudia S. macht das nichts aus, es freut sie, dass Kevin sich Sorgen um sie macht. Sie will auch gar nichts mehr mit ihren alten Freund*innen zu tun haben, die langweilen nur.

Spricht ein anderer Mann, ein fremder Mann sie an, kriegt er eine Warnung, dann auf die Fresse. Kevins Kumpel wissen, wie man ihr und ihm gegenüber Respekt zeigt und was es heißt, zu ihm zu gehören.

Claudia S. liebt dieses Leben.

Mit der Zeit weiß sie doch von seinen Geschäften und kennt seine Partner. Einmal geht etwas schief, und sie müssen sehr schnell sehr viele Pakete in die Wohnung schaffen und am nächsten Tag wieder wegbringen. Sie reden nicht darüber. Besser, wenn sie es vergisst, besser, wenn sie wegsieht.

Alles ist wunderbar, wenn es läuft. Wenn es mal nicht so läuft, wie Kevin es will, ist es schwer. Kevin ist ruhelos, leicht kränkbar, prinzipientreu. Für ihn persönlich sind Drogen, Alkohol, Fremdgehen tabu, Diskussionen gibt es nicht. Ordnung ist wichtig, Treue und Vertrauen unabdingbar. Streit in der Beziehung ist abwegig. Ebenso Widerspruch. Er liebt es, mit ihr einzukaufen, Ketten, Ohrringe, Klamotten, Pelze.

Abends in den Clubs ist er der große Held.

Zu Hause mag er es, wenn sie ihn auspeitscht, ihn fesselt. Dann weint er, wimmert, jammert. Ganz klein ist er dann. Mit der Potenz ist es nicht weit her, die vielen Anabolika haben ihre Spuren hinterlassen. Claudia S. ist das nicht wichtig.

Als Kevin eines Tages mit Pudel Cheri im Körbchen zu ihr kommt, verliebt sie sich sofort in sie.

Fünfzehn Monate geht das so. Sie sprechen davon, eine Familie zu gründen. Ein kleiner Prinz, eine süße Prinzessin. Als es mit der Schwangerschaft nicht sofort klappt, meldet Kevin sie in einer Kinderwunschklinik an. Sie warten noch auf die Spermaanalyse, suchen schon eine größere, eine kindgerechte Wohnung. Alles läuft gut.

Aber dann trifft Claudia S., als sie in Begleitung des Fahrers mit Cheri Gassi geht, Tobias auf der Straße. Tobias kennt sie seit der Grundschule, er hat in der gleichen Straße gewohnt. Sie haben zusammen schwimmen gelernt und das Einmaleins. Als Tobias’ Familie in einen anderen Stadtteil gezogen ist, haben sie sich aus den Augen verloren.

Es ist der Tag ihres 22. Geburtstags. Kevin hat eine große Party für sein Schätzchen organisiert, der ganze Club über den Dächern Berlins ist nur für sie reserviert. Alle seine Freunde, all ihre gemeinsamen Bekannten werden kommen. Claudia S. erzählt Tobias von dem Fest und lädt ihn spontan ein.

Tobias kommt.

Auf der Party spricht sie fast zwei Stunden mit ihm über alte Zeiten, über die Grundschullehrerin mit der fiesen Stimme, über den Hausmeister, der die Kinder immer geschlagen hat, über ihre und seine Eltern. Über harmloses Zeug. Es freut sie, den alten Freund wiederzusehen, jemand aus ihrer alten Welt. Als er geht, folgt ihm der Fahrer.

Kaum ist Tobias weg, bestellt Kevin eine Magnumflasche Champagner. Er trinkt Alkohol. Das hat sie noch nie bei ihm erlebt. Er ist lustig, küsst sie vor aller Augen, lässt sie hochleben. Ausgelassen feiern sie bis in die Morgenstunden.

Als sie nach Hause kommen und Claudia S. gerade glücklich und etwas angetrunken die Tür hinter sich schließt, schlägt Kevin ihr ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Sie stürzt zu Boden, er tritt zu. Dann fesselt er sie, peitscht sie. Er penetriert sie, schlägt sie wieder, schleppt sie ins Badezimmer und uriniert auf sie. Dann penetriert er sie erneut. Er hat seinen ersten Orgasmus seit Langem. Sie schreit, sie weint. Sie fleht und wimmert. Irgendwann gibt sie auf. Er würgt sie, bis sie in Ohnmacht fällt.

Als sie erwacht, liegt sie auf ihrem Sofa. Kevin ist weg. Alles schmerzt. Ihr ganzer Körper ist zerschunden. Sie zieht sich ihren Jogginganzug an, zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Mit der Gemüsebürste schrubbt sie ihren Körper blutig.

Als Kevin ihr schreibt, dass der Fahrer sie gleich abholen wird, nimmt sie in Panik Cheri und rennt aus der Wohnung, zieht noch schnell das Pelzjäckchen über. Rennt kopflos und ohne Gefühl durch die halbe Stadt. Ohne es zu planen, landet sie bei ihrer alten Freundin Anke. Die kennt er nicht. Von der hat sie ihm nie erzählt. Ihr kann sie vertrauen, bei ihr ist sie sicher. Anke versteht die Not sofort, als sie Claudia S. sieht.

Eine Anzeige erstattet Claudia S. nicht. Die Polizei gibt keine Sicherheit, nicht gegen Kevin und seine Freunde. Zu oft hat sie mitbekommen, wie wenig Angst sie vor der Polizei haben, und der eine oder andere Beamte wurde ihr hin und wieder überschwänglich vorgestellt.

Anke fotografiert sie, fragt nicht, lässt sie erzählen, kocht Tee, deckt sie zu, lässt ihr immer und immer wieder ein Bad ein. Zwei Tage später überredet Anke sie, zum Arzt zu gehen. Sie gehen gemeinsam zu Ankes Ärztin, die ihre Praxis um die Ecke hat. Sie sieht die eingerissene Scheide, die Hämatome am ganzen Körper, das dunkle Würgemal am Hals. Sie dokumentiert alles und rät ihr dringend, die Polizei einzuschalten. Sie verschreibt ihr etwas gegen die Schmerzen. Noch Tage später hat Claudia S. Schwierigkeiten beim Sprechen, beim Schlucken, Gehen, Sitzen.

Claudia S. versteckt sich in Ankes Wohnung, sie hat große Angst.

Ihr Handy hat sie noch während ihrer Flucht weggeschmissen, nachdem sie eine letzte Nachricht an Kevin gesandt hatte: »Wenn du mir folgst, zeige ich dich an. Lass mich in Ruhe, dann wird nichts geschehen.«

Sie sucht keinen Kontakt zu ihren Eltern.

Nach ein paar Wochen bringt Anke sie nach Rostock. Dort hat sie Bekannte, bei denen Claudia S. erst einmal im Gartenhaus leben kann. Sie wissen nur, dass Claudia S. ein Problem mit ihren Eltern hat und nicht gefunden werden möchte. Sie spricht kaum, liegt tagelang im Bett. Langsam, ganz langsam wagt sie es, mit Cheri den Garten zu verlassen und mit ihr spazieren zu gehen.

Anke hat ihr etwas Geld geliehen. Aber bald geht es zur Neige. Claudia S. weiß nicht, wovon sie leben soll. Polizeilich anmelden kann sie sich unter keinen Umständen, das würde Kevin herausfinden. In einem Supermarkt arbeiten wäre auch viel zu öffentlich, dann würde sie immer nur angstvoll alle Käufer beäugen. Wochenlang denkt sie darüber nach und stöbert im Internet.

Dann findet sie die Anzeige eines Studios, das Dominas sucht. Von Diskretion ist dort die Rede und »ausgewählter Kundschaft«. Spontan meldet sie sich dort und erhält einen Vorstellungstermin. Es ist anders, als sie erwartet hatte. Eine große, kräftige, dunkelhaarige Mittfünfzigerin öffnet ihr. Nie hätte sie sie für eine Prostituierte gehalten, eher Typ Unternehmensberaterin.

Sie ist eine verantwortungsvolle Chefin, der gute Arbeitsbedingungen für die Frauen wichtig sind. Nur ausgewählte Kunden – »oberes Segment«. Es gibt sogar Supervision für die Frauen und gute Bezahlung.

Genau der richtige Ort für Claudia S. Es dauert nicht lang, bis sie ihrer Chefin von Kevin erzählt. Die ist nicht verwundert. Sie freunden sich an und verbringen viel Zeit miteinander. Langsam gewinnt Claudia S. ihr Selbstbewusstsein zurück, beginnt wieder zu fühlen und sich wieder zu mögen. Die Wunden heilen nach und nach.

Eines Tages, als sie sich schon nicht mehr ständig umsieht, passiert es. Kevin steht vor ihr, mitten im Supermarkt.

Nie wird sie erfahren, wie er sie gefunden hat. Kevin lächelt sie an, kommt auf sie zu. Dann droht er ihr, zischt ihr üble Beschimpfungen zu. Sie schreit – so laut sie kann. Kevin geht langsam, sehr langsam, erst lächelnd, dann lachend hinaus. Er nimmt Cheri mit, die draußen angeleint ist. Claudia S. wagt es nicht, den sicheren Supermarkt zu verlassen, muss tatenlos zusehen, wie er ihr Liebstes nimmt.

Im Supermarkt hat jemand die Polizei angerufen. Als sie kommen, zeigt sie ihn an. Spontan. Monate nach der Tat. Zunächst wegen Diebstahl des Hundes. Aber die Polizeibeamtin merkt, dass es mehr gibt als den gestohlenen Hund, und Claudia S. ist nicht in der Lage, es zu verschweigen. So erzählt sie von der Vergewaltigung.

Später wird die Anzeigesituation Anlass zu großem Misstrauen geben. Immer wieder wird im Verfahren behauptet werden, dass sie die Vergewaltigung nur erfunden habe, um den Hund zurückzubekommen. Ihre Glaubhaftigkeit sei schon deshalb eingeschränkt, da sie nicht unmittelbar nach der Tat zur Polizei gegangen sei, denn ein echtes Vergewaltigungsopfer zeige sofort nach der Tat an.

In Deutschland gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 114.393 weibliche Opfer von vollendeten und versuchten Delikten sogenannter Partnerschaftsgewalt.1 Mehr als 3100 Personen wurden Opfer sexueller Übergriffe und sexueller Nötigungen im Rahmen von Beziehungen im sozialen Nahbereich, wovon 92 Prozent weiblich waren.2

Das hohe Maß an Gewalt belegt auch eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2014, nach der 33 Prozent der befragten Frauen in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben.3

Die Dunkelfeldforschung geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, also von zahlreichen Taten, die nicht angezeigt werden. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2003 – leider gibt es keine aktuellere Studie – zeigen gerade einmal acht Prozent aller Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, diese bei der Polizei an.4 Dieses Schweigen ist nicht zuletzt der alltäglichen Kultur geschuldet, in der Betroffenen von Vergewaltigung die Schuld zugewiesen wird.

95 Prozent der Täter*innen sind männlich, 95 Prozent der Opfer weiblich. Nur bei sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen sind die Opfer zu 20 Prozent männlich. Trans- oder Interpersonen werden von der Statistik nicht erfasst. Es ist aber davon auszugehen, dass diese ein noch erheblich höheres Risiko haben, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden.5

Claudia S. sagt viele Stunden bei der Kriminalpolizei aus. Äußerst kritisch werden ihre Aussagen beleuchtet, immer wieder erlebt sie die Befragung so, als glaube man ihr nicht, als sei sie schuldig und habe das gesamte Geschehen nur erfunden. Jedes Detail der Vergewaltigung berichtet sie, so gut es geht, einiges hatte sie schon verdrängt.

Sie berichtet nichts über Kevins Geschäfte. Voller Angst und Ekel verlässt sie die Polizeidienststelle und nimmt die abschließend freundlichen Worte des Vernehmungsbeamten kaum noch wahr, der ihr mitteilt, dass man sie einfach so hart habe drannehmen müssen, um die Wahrheit herauszufinden und zu prüfen, ob sie eine spätere Hauptverhandlung durchhalten werde. »Wenn Sie wüssten, was da noch alles auf Sie zukommt – dagegen ist unsere Befragung ein Zuckerschlecken!«

Ihr wird auch gesagt, dass das Verfahren in Berlin geführt werden wird und sie gut beraten sei, sich möglichst rasch eine Anwältin in Berlin zu suchen.

Offenbar hatte man ihrer Aussage Glauben geschenkt, die Akte aus Rostock sofort an die Staatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet, die einen Haftbefehl beantragt und erhalten hat. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass Kevin für die Ermittlungsbehörden kein unbeschriebenes Blatt ist.

Als Kevin zwei Tage nach der ersten Aussage von Claudia S. festgenommen wurde, haben die Polizisten Cheri mitgenommen und ihr mitgeteilt, dass sie sie abholen könne.

Claudia S. beschließt deshalb, sofort nach Berlin zurückzukehren, und schlüpft wieder bei Anke unter. In Rostock fühlt sie sich sowieso nicht mehr sicher. Die Angst ist wieder da, fast wie am ersten Tag.

Als sie zehn Tage später bei der Anwältin am Besprechungstisch sitzt, will sie eigentlich nur eins: ihre Anzeige zurücknehmen.

Sie sitzt da in ihrem kleinen Pelzjäckchen, hat Cheri auf dem Schoß, spricht leise, viel zu schnell, nervös. Wenn es bei der Anwältin klingelt, zuckt sie zusammen. »Die werden mich finden und fertigmachen. Ich werde nichts sagen über die Drogen, nichts über die ganzen Verbindungen. Aber das wissen die ja nicht. Es ist ein absolutes Tabu, man wendet sich einfach nicht an die Bullen, nie, unter keinen Umständen. Wie konnte ich nur so blöd sein!«

Aber sie kann die Anzeige nicht einfach zurücknehmen.

Eine Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Wenn eine sexuelle Nötigung mit Gewalt oder besonders erniedrigend erfolgt, was etwa bei dem Eindringen in eine Körperöffnung der Fall ist, ist sie mit einer Mindeststrafe von ein bis zwei Jahren belegt, wenn sie sogar konkret lebensbedrohlich war, mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren. Bei solch schweren Straftaten liegt es nicht in der Hand der Betroffenen, zu entscheiden, ob das Verfahren durchgeführt wird oder nicht. Sobald die Ermittlungsbehörden von einer solchen Straftat hören, müssen sie ermitteln, unabhängig von dem Wunsch der Betroffenen. Diese sind verpflichtet auszusagen, selbst wenn sie dies aus welchen Gründen auch immer nicht möchten. Es gilt den staatlichen Strafanspruch zu erfüllen, nicht das Interesse der Einzelnen. Dabei wissen viele Betroffene, dass gerade bei Sexualdelikten oder bei Delikten im häuslichen oder sonstigen Nahbereich die Verfahren äußerst belastend sind, ihnen massives Misstrauen begegnet und sie retraumatisiert werden können. Viele Opferhilfeorganisationen und Anwält*innen, die in diesem Bereich tätig sind, diskutieren seit Jahren, ob der Strafprozess der richtige Weg für die Betroffenen ist oder man ihnen von der Erstattung von Strafanzeigen abraten sollte.6 Aber was käme stattdessen? Sollte man ganz auf Strafverfahren verzichten und für die Betroffenen allein auf Entschädigungsverfahren setzen, wie es liberale Strafverteidiger*innen fordern?7 Sinn, Zweck und Wirkung von Strafen ist durchaus umstritten, aber eine gute und schlüssige Antwort darauf, wie man mit dem Massenphänomen der sexualisierten und physischen und psychischen Gewalt gegen Frauen umgeht, gibt es aus progressiver Sicht bisher nicht. Besorgniserregend ist, dass konservative und extrem rechte Organisationen in diese Lücken drängen und sich als überwachende und/oder ausführende Macht anbieten. Dabei fordern sie wahlweise mehr Polizei und einen starken Staat oder auch die Bildung von Bürgerwehren.8

Kevin sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft will das Verfahren schnell durchführen, sie schreibt schon an der Anklageschrift. Ein erster Haftprüfungsantrag von ihm wurde bereits zurückgewiesen, erst einmal bleibt er in Haft.

Die Anwältin weiß, über wen sie Kontakt zu denen aufnehmen kann, vor denen Claudia S. Angst haben muss. Sie kennt die Anwälte, die für Kevins Bosse arbeiten. Es ist ein unverbindliches, wie zufälliges Gespräch, das sie ein paar Tage später im Anwaltszimmer führt. Sie trifft einen »bestimmten« Kollegen wie beiläufig am Kaffeeautomaten und erzählt ebenso beiläufig, dass sie von Claudia S. mandatiert sei. »Ich weiß ja nicht, ob du Herrn O. in dem Vergewaltigungsverfahren vertrittst, aber möglich wäre es ja. Mir und meiner Mandantin ist wichtig zu betonen, dass es nur um die Vergewaltigung gehen wird, ansonsten gibt es nichts zu erzählen für sie, gar nichts.« Der Kollege sieht sie an, anscheinend irritiert, und sagt, dass er von diesem Verfahren gar nichts wisse und mit dieser Information erst recht nichts anfangen könne, und verabschiedet sich.

Ein paar Tage später begegnen sie sich wieder, ganz »zufällig«, und der Kollege sagt, dass er sich umgehört habe. »Er wird nicht von einem von uns verteidigt, da muss deine Mandantin etwas falsch verstanden haben. So wichtig ist er nicht. Wenn du meine Meinung wissen willst: Für die Vergewaltigung, wenn er sie denn begangen hat, kann er verfolgt werden, da muss er selbst durch. So was macht man einfach nicht. Wenn deine Mandantin nur dazu etwas sagt und ihm nicht noch andere Sachen anhängen will, dann stellt das sicher kein Problem dar.« Dann spricht er unvermittelt weiter von seiner Haftbeschwerde, die er gerade in anderer Sache gewonnen hat.

Das reicht zunächst für die Sicherheit von Claudia S.

Schon zwei Monate nach der Anzeige hat die Staatsanwaltschaft die Anklage fertig. Kevin wird bei einer Schöffengerichtabteilung des Amtsgerichts wegen Vergewaltigung angeklagt.

Eigentlich wurde mit dem StORMG (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs) im Jahr 2013 eingeführt, dass bei Verfahren, bei denen die mehrfache Befragung der Opfer zu erheblichen Belastungen führt, nicht beim Amtsgericht, sondern erstinstanzlich bei einem Landgericht angeklagt werden soll. Damit soll den Betroffenen, insbesondere von Sexualstraftaten, erspart werden, in einer möglichen zweiten Instanz erneut befragt zu werden. In der Realität wird dies aber in zahlreichen Gerichtsbezirken nicht so gehandhabt, im Gegenteil werden dort fast alle Vergewaltigungsverfahren vor den Amtsgerichten angeklagt, da die Landgerichte kaum Ressourcen haben.9 Dies führt im Endeffekt dazu, dass die erstinstanzlichen Verfahren zwar oft innerhalb von ein bis zwei Jahren abgeschlossen sind, es aber bei Verurteilungen meist zu einer weiteren Verhandlung in der Berufung kommt, was letztlich dazu führt, dass Vergewaltigungsverfahren oft erst nach drei bis vier Jahren abgeschlossen werden und zahlreiche, häufig sehr belastende Befragungen in den Instanzen erfolgen. Anders ist dies nur bei Haftsachen, also wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet. Dann gilt ein besonderes Beschleunigungsgebot, und die Verfahren werden sehr viel schneller und vorrangig bearbeitet.

Die Hauptverhandlung beginnt fünf Monate nach Kevins Inhaftierung und dauert lediglich zwei Verhandlungstage. Kevin bestreitet die Tat, sagt nicht aus. Sein Verteidiger ist wenig engagiert, rechnet von vornherein mit einer Verurteilung und der zweiten Instanz und stellt weder Fragen noch einen einzigen Antrag. Claudia S. sagt sicher aus, berichtet von der Tat ausführlich. Es kommt zu keinen Widersprüchen mit ihrer polizeilichen Aussage und anderen Zeugenaussagen. Die Fotos, die ärztliche Untersuchung, die Aussage von Anke ergänzen sie. Das Gericht hat es eilig und ist offenkundig erfreut, so wenig Schwierigkeiten in dem Verfahren zu haben.

Am Ende wird Kevin zu dreieinhalb Jahren verurteilt und tobt bei der Urteilsverkündung. Er bleibt in Untersuchungshaft und kündigt seinem Verteidiger.

Da Kevin weiterhin in Haft bleibt, muss sich das Landgericht, bei dem die Berufungssache eingeht, beeilen. Schon vier Monate nach dem erstinstanzlichen Urteil beginnt die zweite Instanz vor der Berufungskammer.

Er hat nun doch zwei der »richtigen« Anwälte, einer von ihnen ist der vom Kaffeeautomaten. Vor allem aber hat er jetzt mehrere neue Zeug*innen, die bereit sind, für ihn falsch auszusagen und Kübel mit Dreck über Claudia S. auszugießen. Auch die Anwälte sind dazu bereit.

Claudia S. sagt aus, erklärt sich. Sieben lange Verhandlungstage wird sie als Zeugin vor der Berufungskammer befragt. Sie beantwortet alle Fragen, erläutert ihr Verhältnis zu ihren Eltern, zu ihren ehemaligen Freund*innen, zu Kevin. Sie stockt, als sie gefragt wird, ob ihr ihr damaliger Freund ebenbürtig gewesen sei. Sofort hakt der Verteidiger nach: »Frau S., ich will es mal so fragen: Stehen Sie darauf, sich überlegen zu fühlen? Genießen Sie das?«

»Nein«, sagt sie. »Ich fühlte mich nie überlegen. Ich war in einer für mich vollkommen neuen Welt, in der er sich sehr viel besser auskannte und bewegte als ich.«

Sie soll erklären, weshalb sie sich so verändert habe, von der gutbürgerlichen Lehrerstochter zur schicken Szenemieze im Pelzjäckchen, und wie schnell es ging, sich wieder zurückzuverwandeln. Wann und wie oft sie gelogen habe, will der Verteidiger wissen, im Allgemeinen, aber auch im Speziellen. »Haben Sie Schule geschwänzt, Ihre Eltern angelogen, Ihre Freunde gegeneinander ausgespielt? Was haben Sie Ihren Eltern erzählt am Anfang Ihrer Beziehung mit Kevin? Haben Sie sie angelogen? Weshalb haben Sie sich aller alten Freundinnen entledigt? Bedeuten Ihnen Beziehungen zu anderen Menschen nichts? Haben Sie auch schon andere Freunde von einem Tag auf den anderen verlassen, und wenn nein, nennen Sie uns doch bitte die Namen und Adressen der Freundinnen, die Sie nicht im Stich gelassen haben.«

Selbstverständlich kommen auch Fragen zu Tobias – darauf ist sie vorbereitet: »Wann haben Sie Ihre alte Liebe mit Tobias wieder aufgenommen? War Tobias eifersüchtig? Wollte er, dass Sie Kevin verlassen? Wann merkten Sie, dass er besser zu Ihnen passte als Kevin?« und: »Wann wurden Sie eigentlich Kevins überdrüssig?«

Je nach Delikt, sozialem Status, Herkunft und Geschlecht wird Zeug*innen eher geglaubt oder misstraut. So gilt bei Gericht etwa die Grundannahme, dass Polizeibeamt*innen vor Gericht nicht zu Lügen tendieren und ihnen grundsätzlich geglaubt werden könne.10 Denn man geht davon aus, dass Polizeizeug*innen kein Interesse daran hätten, die Unwahrheit zu sagen, und als quasi Berufszeug*innen einen besonders geschulten Blick für das Richtige hätten und der Wahrheit verpflichtet seien. Gleiches gilt für Angehörige von Justiz oder anderen Behörden, denen man grundsätzlich vertraut. Hingegen besteht grundsätzliches Misstrauen, wenn Frauen über Taten wie häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch oder auch schweren Menschenhandel aussagen.

Der Mythos der stets falsch bezichtigenden rachesuchenden Frau, die, etwa um sich einen Vorteil zu verschaffen oder um vielleicht auch nur der verflossenen Liebe zu schaden, Ermittlungsbehörden dreist belügt und Straftaten erfindet, ist hartnäckig und wirkmächtig. Es gibt unendlich viele Vorurteile, wie eine »echte Vergewaltigung« aussehen soll und wie sich ein »echtes Vergewaltigungsopfer« verhalte. Man spricht deshalb von Vergewaltigungsmythen.11 Tatsächlich gibt es keine wissenschaftlich fundierten Zahlen, die beweisen, dass Frauen überproportional Sexualdelikte oder Partnerschaftsgewalt falsch anzeigen.12

Immer noch werden in Gerichtsverhandlungen intimste Fragen zu allen Lebensbereichen gestellt, etwa zum gesamten Vorleben, zu sämtlichen Sexualpartner*innen und -praktiken, zu Freund*innen, Verwandten und Bekannten, einfach allem Erdenklichen, was irgendwie geeignet sein könnte, Zweifel zu säen. Immer wieder kommt es vor, dass Zeug*innen als Lügner*innen beschimpft, verlacht und verunsichert werden, sie werden verächtlich und herablassend befragt, oder es werden einfach Behauptungen in den Raum gestellt, die vor allem dazu geeignet sind, die Zeug*innen aus der Fassung zu bringen, wie etwa: »Könnte es auch daran liegen, dass Sie häufig sexuelle Erlebnisse später bereuen?«, oder: »Wenn Sie schon lange keinen Sex mehr hatten, dann waren Sie womöglich einfach von der Situation überfordert, dass endlich mal einer ernst machte, oder?«

Gern werden auch Fragen gestellt wie: »Trinken Sie häufig zu viel?« »Haben Sie sich oft nicht unter Kontrolle?« »Bereuen Sie häufig etwas, was Sie noch kurz vorher wollten?« Frauen wird unterstellt, sich durch das Verfahren das alleinige Sorgerecht erschleichen zu wollen oder endlich keinen Umgang mehr gewähren zu müssen, oder dass sie einfach mal ihren Vorgesetzten fertigmachen wollten, der sie nicht befördert habe. Auch welch unglaublichen finanziellen Vorteil die Verletzten aus der Falschbezichtigung zögen, wird behauptet.

Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird. Häufig ist die strafrechtliche Verfolgung ökonomisch eine Katastrophe für die Betroffenen, etwa wenn der Vergewaltiger oder Misshandler der Ehemann und Alleinverdiener war und ins Gefängnis kommt. Oder wenn der Täter etwa ein Arbeitgeber ist und besonderes Ansehen genießt. Dann wird, selbst wenn er verurteilt wird, die anzeigende Frau in dieser Branche kaum noch eine Anstellung finden, gilt sie doch als schwierig, belastet oder eben als die, die den anderen angezeigt hat. Auch die Schmerzensgeldsummen sind in Deutschland so gering, dass sie, wenn das Geld überhaupt eintreibbar ist, nicht annähernd für das Ausmaß der Folgen angemessen sind.

Claudia S. macht ihre Sache gut. Sie ist bestens auf den Termin vorbereitet, weiß, dass es darum geht, sie zu verunsichern, dass versucht werden würde, sie an einen Punkt zu bringen, sei er noch so abseitig, an dem sie sich in Widersprüche verwickeln, an dem sie lügen würde. Eine altbewährte und beliebte Fragetechnik. Aber Claudia S. lügt nicht, antwortet konzentriert und offen. Sie weiß auf alles eine Antwort, manchmal überlegt sie etwas länger, manche Details erinnert sie nicht mehr genau und kann dies darstellen. Es gibt keine Widersprüche, keine Unsicherheiten. Das Thema Drogen umschiffen alle gemeinsam.

Irgendwann verstehen die Verteidiger, dass sie mit dieser Taktik nicht weiterkommen und Claudia S. mit jeder Frage nur noch glaubwürdiger wird. Sie beantragen eine Pause zur Beratung, stellen danach die Strategie um und keine einzige Frage mehr. Jetzt will man sie nicht mehr in Widersprüche verwickeln, sondern ihr zu gutes Aussageverhalten problematisieren. Ihre Vernehmung wird abgeschlossen, und unmittelbar danach gibt einer der Verteidiger eine kurze Stellungnahme ab, wie sie jeder Verfahrensbeteiligte nach jeder Beweisaufnahme abgeben darf, und erklärt:

»Ich bedaure es, dass ich Frau S. so lange befragen musste. Für sie war es sicherlich eine Qual, und es ist nicht schön, sein Privatleben so ausbreiten zu müssen. Wir würden dies am liebsten auch nicht tun. Aber es ist eine Qual, die man auf sich zu nehmen hat, wenn man einem anderen Menschen die noch viel größere Qual beschert, seine Freiheit einzubüßen, in Untersuchungshaft, womöglich sogar in Strafhaft zu sitzen, unschuldig inhaftiert zu sein.

Claudia S. ist eine phantastische Zeugin. Wir wissen, was uns unser Mandant erzählt, und deshalb mussten wir versuchen, Ihnen nahezubringen, wie sie wirklich ist. Aber, das müssen wir hier einräumen, es ist uns kaum gelungen.

Claudia S. ist, ich will das mal so flapsig sagen, anders als der Angeklagte, eine Zeugin von uns, eine, die vielleicht einen Abschluss als Juristin machen könnte oder in Philosophie, in Psychologie. Wir können uns vorstellen, wie sie Hörsäle füllt oder eine Klinik leitet, ihr steht die Welt offen. Sie ist schlau, eloquent, gewandt. Wenn man sie hier sitzen sieht, ihr zuhört, versteht man alles, was sie weshalb getan hat, und man wünscht ihr aus tiefstem Herzen, dass sie wieder auf die Beine kommt, weg von der Prostitution, hin zu dem Leben, das ihr ihre Eltern so gerne bereitet hätten.

Nur eines versteht man nicht: Weshalb sie mit diesem Angeklagten mehr als einen One-Night-Stand hatte. Sie muss es doch nach kürzester Zeit durchschaut haben, was für ein Typ der Angeklagte ist. Sie muss seine Freunde verachtet haben, seinen Lebensstil, seine Ziele und Werte.

Nie würde man glauben, dass sie noch andere, abgründige, hinterhältige Seiten hat.

Unserem Mandanten ging es nicht anders. Er sah sie und verliebte sich unsterblich. Er himmelte sie an, befand sich im siebten Himmel, den wir alle so gern erreichen möchten. Auch alle seine Freunde mochten sie, bewunderten ihn dafür, sich eine solche Frau geangelt zu haben.

Wie ist das möglich?

Weil sie wandelbar ist, weil sie Phantasie hat, und …«

– hier macht der Verteidiger eine Pause –

»‰ Hohes Gericht – es ist nur meine Meinung – und ich weiß, dass sie nicht von Bedeutung ist –, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Zeugin so überzeugend ist, weil sie sehr, sehr gut lügen kann.«

Selbstverständlich gibt es auch falsch anzeigende Frauen, die eine Vergewaltigung zu Unrecht behaupten, so wie es falsche Anzeigen wegen Brandstiftung, Diebstahl, Raub oder Beleidigung gibt.

Es gibt aber keinerlei belastbare Zahlen dazu, dass es höhere Falschanzeigezahlen bei sexualisierter Gewalt gibt als bei anderen Delikten. Auch die Mär, dass ein Mann, allein dadurch, dass ihm ein Sexualdelikt vorgeworfen wurde, vor dem beruflichen und sozialen Aus stehe, ist durch zahlreiche prominente Beispiele widerlegt.13

»Weil sie jedem erzählen kann, was gerade ins Konzept passt, und sie intelligent und begabt genug ist, das Geschehen so zu drehen, wie es für sie am besten ist. Das muss man hier beachten. Die Aussagen von einfach strukturierten Menschen zu beurteilen, Hohes Gericht, mit Verlaub, das ist einfach. Aber wenn jemand über so viel Intelligenz und Eloquenz verfügt wie diese Zeugin, dann tun wir uns schwer, lassen uns gern blenden, so wie es vor dem Amtsgericht geschehen ist. Mein Mandant versteht bis heute nicht, weshalb es so gekommen ist, weshalb sie ihn plötzlich verlassen hat und weshalb sie ihn mit diesem falschen hinterhältigen Vorwurf belastet. Vielleicht reichte ihr das Leben mit ihm einfach, vielleicht bevormundete er sie zu sehr, war zu eifersüchtig, zu besitzergreifend. In der Welt meines Mandanten ist Emanzipation nicht gerade großgeschrieben, Frauen haben schön zu sein, nett zu sein, den Mund zu halten. Er trug sie auf Händen. Wollte eine Familie mit ihr gründen. Vielleicht ging es ihr zu schnell, wusste sie schon, dass sie nicht an seiner Seite alt werden wollte.

Vielleicht war es Claudia S. auch einfach leid, sich täglich mit diesem Mann, der ihr intellektuell sagenhaft unterlegen ist, abzugeben. Wahrscheinlich spürte sie, dass ihr das Leben an seiner Seite nicht reichen würde. Aber sie kannte seine Eifersucht, sie wusste, dass sie nicht einfach so gehen könnte. Sie musste etwas gegen ihn in der Hand haben, wenn er sie finden würde. Damit wollte sie ihn erpressen, ihn fertigmachen, wenn er es wagen sollte, sie zurückzuholen. In der Nacht vor ihrem Verschwinden ist der Sex entglitten, es war einverständlich, SM, so wie sie es beide mochten. Aber es ging etwas weiter als sonst, sie hatten beide Drogen konsumiert, dass er sie würgte, gehörte dazu, auch dass er sie schlug. Diesmal aber war es vielleicht mehr als sonst. Unschön, aber nicht strafbar. Claudia S. ergriff die Gelegenheit. Nur so ist es zu erklären, weshalb sie nicht sofort nach der angeblichen Vergewaltigung die Polizei aufgesucht hatte. Das wäre doch der sicherste Weg gewesen. Die Spuren waren frisch. Stattdessen rannte sie zu ihrer unschuldigen Freundin, sammelte Beweise, aber zeigte ihn nicht an. Machte sich aus dem Staub mit dem Pelzmäntelchen und dem Hund, dem Schmuck, dem neuen Handy und Bargeld in einer nicht unbeträchtlichen Höhe. Und schrieb ihm noch die SMS – ›Wenn du mir folgst, zeig ich dich an.‹ Ein schlauer Plan.«

Verteidiger*innen verteidigen nie eine Tat, machen sich nicht mit einer Mandant*in und ihrem Handeln gemein. Sie verteidigen ihre Mandant*innen und sorgen als Teil der Rechtspflege dafür, dass am Ende eines Verfahrens ein rechtsstaatliches Urteil gesprochen wird. Oft wissen sie nicht, ob ihre Mandant*in die vorgeworfene Tat begangen hat, oft wissen sie es, lassen es außer Betracht. Es geht nicht um Wahrheit, nicht um Gerechtigkeit im moralischen Sinn in einem strafrechtlichen Verfahren. Richtig und gerecht ist ein Urteil, wenn es ergeht, nachdem die zur Entscheidung berufenen Richter*innen die gewonnenen Beweise und Argumente zur Kenntnis nehmen und abwägen und unvoreingenommen zu einem rechtsstaatlichen Urteil kommen. Die vorliegenden Beweise eröffnen meist einen weiten Beurteilungsraum für die Richtenden, Aufgabe der Verteidigung ist es, diesen so eng wie möglich zugunsten der Mandantschaft zu gestalten.

Es kommt vor, dass ein Freispruch ergeht, selbst wenn bewiesen ist, dass die angeklagte Person die Täter*in der angeklagten Tat ist, etwa weil die Beweise rechtsstaatswidrig erlangt worden sind oder die Taten unterdessen verjährt sind. Häufig ergehen Freisprüche, weil das Gericht nicht ohne vernünftigen Zweifel von der Schuld der angeklagten Person überzeugt ist und in richtiger Anwendung des Zweifelsgrundsatzes dann freizusprechen hat.

Wenn die anwaltlich gut beratenen Beschuldigten schweigen und anhand der Akteneinsicht die Ermittlungsergebnisse nachvollzogen werden können, entwickelt man gemeinsam mit den Mandant*innen eine Verteidigungsstrategie, die für sie zum besten Ergebnis führen soll. Das kann ein Geständnis sein, auch Reue, auch Wiedergutmachung, das Ziel einer möglichst milden Bestrafung.

Es kann aber auch der Weg sein, für einen Freispruch zu kämpfen und dafür alle Mittel einzusetzen, die der Rechtsstaat erlaubt.

In den seltensten Fällen erklären Mandant*innen ihren Verteidiger*innen sofort, dass sie die vorgeworfene Tat begangen haben, wenn sie sie begangen haben. Erfahrene Verteidiger*innen setzen nicht darauf, lassen es sich und ihren Mandant*innen offen, um möglicherweise auch während einer Beweisaufnahme umzuschwenken und doch noch ein spätes Geständnis ablegen zu können. Das ist schwer, wenn die Verteidiger*in selbst von der Unschuld überzeugt ist und womöglich das Mandat nur unter der Prämisse der Unschuld der Mandant*in übernommen hat.

Verteidiger*innen ermitteln manchmal selbst, suchen nach Schwachstellen bei Belastungszeug*innen, Fehlern bei der Spurensicherung, der Lichtbildvorlage, dem Beschluss zur Telefonüberwachung, der Lücke in der Argumentation der Anklage. Sie suchen nach Zeug*innen, die die Wahrheit der Beschuldigten bestätigen oder auch nur eine andere Version des Anklagegeschehens möglich machen. Oft stochern sie im Nebel. Sie haben nicht die Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden und häufig wenig Kapazitäten, um aufwendig selbst zu recherchieren. Sie versuchen, irgendeine Schwachstelle zu finden, ein Geheimnis, das sich nicht gut macht vor Gericht, ein Dilemma, das eine Zeug*in partiell zu Lügen verleitet, deren sie später überführt werden kann.

Verteidiger*innen machen meist keine Supervision, denn sie lassen die Fälle gar nicht an sich herankommen. Sie lesen sich Obduktionsberichte durch, begutachten Fotos von Folterspuren, lesen Aussagen schwerster Misshandlungen allein mit dem Blick durch, wo Lücken sein könnten, Ungereimtheiten, Fehler. Erfolgreich abgeschlossen sind Fälle dann, wenn die Verteidigungsstrategie zumindest teilweise durchgesetzt werden konnte.

Die Verteidiger von Kevin bringen mehrere Zeug*innen an, die aussagen, dass Claudia S. schon länger unzufrieden gewesen sei, dass es Streit unter den beiden gegeben habe, dass sie mehr wollte, als nur Kevins Schoßhund zu sein. Als Claudia S. davon hört, muss sie lachen, nie hatte es einen solchen Streit gegeben, nie hätte sie es gewagt, vor anderen Personen Unzufriedenheit mit Kevin auszudrücken, ganz abgesehen davon, dass es diese Unzufriedenheit auch nicht gab. Der Chauffeur bestätigt die Geldsumme, die Kevin angeblich nach dem Verschwinden von Claudia S. fehlte, verweigert aber die Aussage zur Herkunft des Geldes. Er kennt angeblich auch den Wert des Schmucks, den Kevin Claudia S. geschenkt hatte, und den des Pelzmäntelchens.

Die Zeug*innen sind gut instruiert, aber nicht ausreichend, um den Fragen der Verfahrensbeteiligten schlüssig und überzeugend zu begegnen. Denn wie die Verteidigung bereiteten sich auch Staatsanwaltschaft und die Nebenklagevertreterin gut auf die Beweisaufnahme vor und bringen die Zeug*innen in Erklärungsnöte.

In dieser Instanz wird auch Tobias, der Freund aus den Kindertagen von Claudia S., als Zeuge gehört. Erst nach einem Ordnungsgeld und der Androhung von Ordnungshaft erscheint er beim Gericht, sichtlich unwillig auszusagen. Letztlich redet er aber doch und berichtet, dass er nach der Party von einem ihm fremden Mann verfolgt worden sei, ein blaues Auge davongetragen habe und die klare Anweisung, nie wieder Kontakt zu Claudia S. aufzunehmen. So etwas will er auf keinen Fall wieder erleben. Und nein – ein Verhältnis mit Claudia S. habe er nie gehabt. Sie hätten an diesem Abend über alte Zeiten gesprochen, über ihre Eltern, über seine Freundin, die auch in ihrem Abschlussjahrgang war. Er habe sicher nicht mit Claudia S. geflirtet.

Am Ende ist das Gericht von der Schuld Kevins überzeugt. Nach acht Monaten Verhandlungsdauer und kaum einem Lebensbereich von Claudia S., der nicht durchleuchtet worden wäre.

Ausschlaggebend für die Kammer ist nach der mündlichen Urteilsverkündung, dass sich niemand und kein Anhaltspunkt dafür fand, dass Claudia S. Sexualpraktiken ausführte, bei denen sie sich schlagen und verletzen ließ. SM ja, aber stets als die Überlegene, nie als Geschlagene. Kevin habe die Tat auch geplant, denn er habe, nachdem Tobias gegangen sei, gegen seine Gewohnheit getrunken, wie es mehrere Zeugen bestätigt hätten. Das passe zu den Aussagen von Claudia S. gut, füge sich ins Bild, ebenso wie die Körperverletzung und Bedrohung von Tobias.

Auch der Anlass der Anzeige spreche für die Glaubhaftigkeit von Claudia S., nicht für die von Kevin.

Aber das Gericht befindet, dass die Schuld von Kevin nicht ganz so hoch anzusiedeln sei, wie es die erste Instanz geurteilt hatte. Besonders beachtlich sei, dass es eine schwierige Vorgeschichte zwischen den beiden gegeben habe, in der sich der Angeklagte aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur als minderwertig vorgekommen sei. Die Affäre der Zeugin mit dem alten Kindheitsfreund müsse zugunsten des Angeklagten unterstellt werden, auch wenn Tobias und Claudia S. dies bestritten hätten. Zumindest müsse man zugunsten Kevins unterstellen, dass er es geglaubt haben könnte. Seine Eifersucht und Wut darüber, dass die Geschädigte dies bei der von ihm organisierten und bezahlten Feier offen zur Schau getragen habe, sei deshalb nachvollziehbar, wenn sie auch die Tat nicht vollends rechtfertigen könne. Besonders zu berücksichtigen sei auch, dass die Beteiligten eine Beziehung miteinander geführt hätten und deshalb der Unwert der Tat anders, nämlich als weniger gravierend zu bewerten sei als eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter. Auch müsse gesehen werden, dass die Geschädigte sich gerade von der »aggressiven Männlichkeit« des Angeklagten, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde, angezogen gefühlt habe und sie, wenn man auch nicht von einer Mitschuld sprechen könne, doch konstatieren müsse, dass die Tat unter einem anderen Vorzeichen stünde, als wenn sie sich einen anderen Partner gesucht hätte.

Es gibt wenige Untersuchungen darüber, welche Folgen Vergewaltigungen für die Betroffenen haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die vergleichend darstellt, ob eine Vergewaltigung durch einen Fremdtäter oder den aktuellen oder letzten Sexualpartner folgenschwerer ist, gibt es nicht. Dennoch wird an deutschen Gerichten der Umstand, dass die Vergewaltigung durch den Intimpartner verübt wurde, häufig strafmildernd bewertet. Dabei könnte man genau das Gegenteil annehmen. Denn es gibt Untersuchungen im Bereich der allgemeinen Gewalt, dass gerade Gewalt im sozialen Nahbereich besonders traumatisierend wirkt, weshalb in der sogenannten Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch ausdrücklich aufgeführt ist, dass als strafschärfend berücksichtigt werden kann, wenn eine Tat gegen eine andauernde oder ehemalige Lebenspartnerin ausgeführt wird.14

Es gibt kaum einen anderen Deliktsbereich, in dem auf die ein oder andere Weise den Opfern direkt oder indirekt eine Mitschuld für die Tat zugeschrieben wird. Sei es der altbekannte zu kurze Rock, das zu laszive oder wahlweise zu frivole Verhalten, die Ambivalenz, der Drogenkonsum, die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von dem Täter – immer wieder werden Begründungen gesucht und gefunden, um die Schwere der Taten zu relativieren. So etwa, dass zugunsten eines Beschuldigten das Vorverhalten der Geschädigten spräche, die in der vorangegangenen Nacht auf den Beschuldigten, »den sie erst unmittelbar zuvor kennen gelernt hatte, offensiv und auch mit ihren körperlichen Attributen kokettierend zugegangen war und mit ihm einverständlich den Geschlechtsverkehr ausgeführt habe«15.

Kevin wird wegen eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Am Tag der Urteilsverkündung kommt er frei.

Claudia S. hört sich das Urteil an, auch die Anordnung, dass Kevin sofort aus der Haft zu entlassen ist. Erschrocken sieht sie sich im Gerichtssaal um und verlässt noch während der mündlichen Urteilsverkündung mit ihrer Anwältin eilig das Gebäude durch einen Hintereingang und rennt dann weg. Danach ist sie verschwunden. Sie ist nicht mehr erreichbar, nicht für ihre Anwältin, nicht für die Polizei, nicht für die Familie, nicht einmal für ihre beste Freundin Anke. Erst nach einer Woche erhält Anke ein Lebenszeichen und die Anweisung, dass sie und die Anwältin sie nicht suchen sollen.

Manchmal kommt es dazu, dass Mandant*innen viele Jahre später wieder am Tisch der Anwältin sitzen. Meist geht es dann um etwas vollkommen anderes, manchmal um Scheidungen, manchmal um Verkehrsunfälle, um neue Straftaten, die an ihnen begangen wurden, oder um Straftaten, die ihnen vorgeworfen werden.

Und so sind acht Jahre vergangen, bis Claudia S. erneut bei der Anwältin am Tisch sitzt und diese erfährt, wie es nach dem Urteil für Kevin weiterging. Damals verließ Claudia S. fluchtartig das Land, jobbte im Ausland wieder als Domina. Sie verdiente gut. Ein paar Jahre machte sie das, bis eine Freundin sie überredete, zu studieren. Sie beschaffte sich die notwendigen Papiere durch ihre Eltern, bekam im Ausland einen Studienplatz und jobbte weiter nebenbei in einem Salon. Nach ein paar Jahren und mit einem Master in Psychologie kehrte sie zurück nach Berlin. Sie hat mit ihrer Therapieausbildung begonnen, ist aktiv in einer Frauengruppe, lebt in einem Haus am Stadtrand.

Der Anwältin legt Claudia S. beim Wiedersehen eine »Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung« auf den Tisch. Der Vorwurf: Schwerer Hausfriedensbruch unter anderem. Dazu soll sie angehört werden.

Die Anwältin rät ihr, der Vorladung nicht zu folgen und zunächst die Akteneinsicht abzuwarten. Als die Anwältin die Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft bekommt, ergibt sich folgendes Bild:

Dem Polizeibericht ist zu entnehmen, dass circa fünfzig Frauen zwischen 20 und 35 Jahren Einlass zu einer Veranstaltung erhalten hätten, da sie sich als Veranstaltungsteilnehmerinnen ausgegeben hatten. Tatsächlich aber seien sie nur in den Veranstaltungssaal gelangt, um ihrem Unmut über das Thema Ausdruck zu verleihen und die Veranstaltung zu stören. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte hätten deshalb auf Aufforderung des Veranstaltungsleiters den Saal geräumt, wobei es während der Räumung zu tumultartigen Situationen gekommen sei und sich einige der Frauen vollständig der Oberbekleidung entledigt hätten. Die Einsatzlage habe deshalb nur eine Räumung, nicht aber die Festnahme der störenden Personengruppe zugelassen.

Bereits vor Ort seien einige reguläre Veranstaltungsteilnehmende befragt worden. Mehrere äußerst entrüstete Zeugen und Zeuginnen, zumeist Damen und Herren zwischen 55 und 75 Jahren, wohlsituiert, aus akademischen Kreisen, hatten im Ermittlungsverfahren ausgesagt, dass sie einen Vortrag organisiert hätten. Dort habe ein Jurist, ein Richter am Oberverwaltungsgericht, über Lebensschutz unter rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten und dem verfassungsrechtlichen Gebot, das Leben von Anfang an zu schützen, sprechen sollen. Erst habe man sich gefreut, dass viele junge Frauen zu der Veranstaltung gekommen seien, gerade sie ginge es ja etwas an. Denn letztlich seien es die jungen Frauen, die die größte Bedrohung für das Ungeborene darstellten. Aber dann, der Hauptredner habe gerade mit seinem Vortrag beginnen wollen, hätten sie auf das Kommando der Rädelsführerin hin plötzlich herumgeschrien. Sie hätten mit faulen Eiern geworfen, wüst gewütet und letztlich sogar die Exponate mit den Embryonen zerstört. »Mit echten, abgetriebenen, ermordeten Babys!« Sehr schnell sei das gegangen.

Die Rädelsführerin wurde als blond und langhaarig, circa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, schlank, circa 1,75 Meter groß und sportlich beschrieben. Sie habe ihre Haare lang und offen getragen und habe keinerlei Auffälligkeiten im Gesicht wie Piercings oder Tätowierungen gezeigt.

Was sie gemeinsam verschwiegen, die Anwältin aber von Claudia S. erfuhr, war, dass viele der protestierenden Frauen auf ihrem Weg hinaus von den Abtreibungsgegnern massiv angegriffen wurden. Viele trugen Hämatome und Kratzwunden davon, eine Frau war gebissen worden und eine mit der Faust in ihren Bauch geschlagen worden. Die zunächst so bürgerlich wirkenden Personen gerieten angesichts des Protestes von jungen Frauen im gebärfähigen Alter in hysterische Wut.

Die Bewegung der Abtreibungsgegner*innen ist seit Langem aktiv und in Deutschland und weltweit wieder erstarkt. Sie schließen Bündnisse mit extrem konservativen bis rechtsextremen Organisationen im Namen eines angeblichen Lebensschutzes und sprechen den Schwangeren ihr Recht auf Selbstbestimmung ab.16 Abtreibung ist in Deutschland grundsätzlich verboten und nur unter bestimmten Umständen, nämlich innerhalb einer Frist und nach Beratung straffrei. Sie soll, wenn es nach den selbsternannten Lebensschützer*innen geht, wenn überhaupt nur bei Lebensgefahr für Mutter und Embryo erlaubt sein, ansonsten sei das Lebensrecht des Embryos nicht verhandelbar. Häufig vertreten Abtreibungsgegner-Organisationen rassistische, rechtsextreme oder ultrakonservative Ziele, wenn sie etwa formulieren, dass das demografische Problem durch »mehr deutsche Kinder statt durch Masseneinwanderung« zu lösen sei, oder Abtreibungen mit dem Holocaust vergleichen. Sie halten ein traditionelles Familienbild hoch, in dem der Mann der Ernährer und die Frau Mutter und Hausfrau ist, und wettern gegen den von ihnen sogenannten »Genderwahn«.17 Abtreibungsgegner*innen machen Frauenärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, das Leben mit Anzeigen und Klagen schwer, versuchen Kliniken, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, Gelder streichen zu lassen. Auch der Papst sprach 2018 davon, dass Abtreibungen wie Auftragsmorde seien, und erklärte damit die Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, indirekt zu Mörder*innen.18

In Ecuador sind Abtreibungen selbst dann verboten, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung herrührt, und nur dann erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren ernsthaft gefährdet ist, und in Teilen der USA haben die reaktionären Abtreibungsgegner*innen schon ein faktisches Verbot von Abtreibungen durchgesetzt. In Deutschland haben sie erreicht, dass immer weniger Praxen Abtreibungen durchführen und Ärzt*innen schon allein dafür bestraft werden, wenn sie über den Fakt hinaus, dass sie Abtreibungen durchführen, auch informieren, mit welcher Methode.19 Für ungewollt Schwangere wird es immer schwerer, dass ihre eigene Entscheidung akzeptiert wird und sie eine sichere, medizinisch nach den Regeln der Kunst durchgeführte Abtreibung erhalten können. Dabei ist langläufig bekannt, dass das Verbot von Abtreibungen nicht zu weniger, sondern zu gefährlicheren Abtreibungen führt. Nach Schätzungen der WHO sterben jährlich circa 47.000 Frauen weltweit an den Folgen illegaler Abtreibungen.20

Die Ermittlungsakte enthielt darüber hinaus den Vermerk über die Einsichtnahme in die sogenannte Lichtbildkartei.

Sofort fiel der Anwältin auf, dass alle Zeug*innen am gleichen Tag zur Lichtbildvorlage zum Landeskriminalamt bestellt worden waren und dort Fotos angesehen hatten. Offensichtlich waren sie in unmittelbarem Anschluss nacheinander befragt worden und hatten jeweils die gleiche Lichtbildvorlage gezeigt bekommen. Ob sie sich zwischen den jeweiligen Befragungen be- oder absprechen konnten beziehungsweise ob dies gezielt verhindert wurde, ging aus der Akte nicht hervor.

Die Lichtbildvorlage bestand aus drei Blättern mit jeweils acht Fotos von Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Die Hälfte der abgebildeten Frauen hatte braune oder schwarze Haare. Von den Frauen mit blonden Haaren hatten fünf der Abgebildeten Kurzhaarfrisuren. Es blieben also sieben Frauen mit blonden Haaren, wobei drei Frauen kräftig waren und zwei auffällige Piercings im Gesicht hatten. Es waren also nur zwei Frauen übrig, die auch nur im Entferntesten mit der Beschreibung der Täterin übereinstimmten. Das eine Foto zeigte eine junge Frau, die lächelnd in die Kamera blickte, das andere zeigte Claudia S. Es war bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Polizei aufgenommen worden, nachdem sie acht Monate vorher bei einer Frauendemonstration festgenommen worden war.

Ohne jeden Zweifel hatten alle Zeug*innen Claudia S. wiedererkannt.

Die Anwältin versucht daraufhin zunächst vor der Verhandlung, bei Staatsanwaltschaft und Richterin, hervorzuheben, dass die Aussagen der Zeug*innen im Hinblick auf die Wiedererkennung ihrer Mandantin wertlos sind. Die Wiedererkennung durch diese Zeug*innen aufgrund der Lichtbildvorlage war der einzige Beweis der angeblichen Täterinnenschaft von Claudia S. Die Anwältin trägt Staatsanwaltschaft und Richterin schriftlich vor, dass diese Lichtbildvorlage den Verwaltungsvorschriften für Richter*innen und Staatsanwält*innen (RistBV) widerspricht und damit für das Verfahren keinerlei Beweiswert haben kann. Denn die Zeug*innen haben nicht etwa aus mehreren sich ähnlich sehenden Personen eine mögliche Täterin herausgesucht, sondern es kamen überhaupt nur zwei abgebildete Personen in Betracht, und davon war eine so abgebildet, dass bereits das Foto suggerierte, dass es sich um eine Straftäterin handeln musste. Außerdem sei nicht sicher, ob sich die Zeug*innen nicht absprechen konnten. Darüber hinaus schrieb sie, dass die Lichtbildvorlage nicht nur keinen Wert habe, sondern im Gegenteil auch eine spätere Identifizierung durch die Zeug*innen nunmehr insgesamt nicht mehr möglich sei, da sie das Bild von Claudia S. eingehend studiert hatten, diese auch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifizieren würden.

Die Staatsanwaltschaft ging auf das Vorbringen der Anwältin nicht ein, und auch das Gericht ließ die Anklage unverändert zu und eröffnete das Hauptverfahren.

Aber immerhin hatte die Anwältin einen kleinen Stachel gesetzt, der die Richterin, die das Verfahren führen würde, auf die Wiedererkennung sensibilisierte und die sich deshalb auf eine ungewöhnliche Vorgehensweise, die die Anwältin anregte, einließ.

Die Strafprozessordnung sieht vor, dass ein Verfahren in den meisten Fällen nur gegen eine anwesende Person durchgeführt werden darf. In der Regel sitzen die Angeklagten neben oder vor ihren Verteidiger*innen, zwingend ist dies aber nicht. Denn die Strafprozessordnung schweigt über die Sitzordnung. Unbestritten ist, dass der Sitzplatz eine große Suggestionswirkung hat. Die meisten Menschen verwerfen mögliche Unsicherheiten des Wiedererkennens, wenn sie eine Person identifizieren sollen, die augenscheinlich die Angeklagte* ist, denn sie gehen davon aus, dass schon die richtige Person auf der Anklagebank sitzt. Wenn eine Person auf der Anklagebank sitzt, die vorher in einer Lichtbildvorlage vorkam, verstärkt sich die Suggestion.

Am Verhandlungstag ist vor dem Gerichtssaal im dritten Stock ein kleiner Tumult.

Vor dem Saal stehen fünfzehn Frauen, davon sind acht blond und zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt und zwischen 1,70 und 1,80 Meter groß. Sie sind schlank, und man könnte sie als sportlich beschreiben.

Es stehen dort auch zehn Herren und Damen, die offensichtlich der Gruppe der selbsternannten Lebensschützer angehören und zum Teil später als Zeug*innen aussagen. Dazwischen stehen Wachtmeister, die eingegriffen hatten, als ein älterer Herr eine blonde Frau angegangen war und sie beschimpfte.

Die Anwältin zieht vor dem Gerichtssaal ihre Robe an und ist so für alle als Rechtsanwältin zu erkennen. Sie geht sofort zielstrebig auf eine der blonden Frauen zu, begrüßt sie und bittet sie noch kurz und für die Umstehenden verständlich darum, mit ihr um die Ecke zu gehen, um letzte Details ihrer Aussage zu besprechen.

Es ist Bettina K., eine Frau, die am Tattag nachweislich in London weilte. Dann betritt die Anwältin den Gerichtssaal, während sich Bettina K. wieder zu den vor dem Saal Stehenden begibt. In dieser Gruppe befindet sich auch Claudia S.

Bei Aufruf der Sache geht Bettina K. in den vorderen Teil des Saals und setzt sich neben die Anwältin, während die anderen, auch Claudia S., die Plätze im Publikum einnehmen. Die Richterin ruft die Zeugen und Zeuginnen herein, um diese zu belehren und daraufhin wieder bis zu ihrer Vernehmung aus dem Saal hinauszuschicken.

Dann ruft die Richterin einen Zeugen nach dem anderen herein und bittet sie, bevor sie inhaltlich zu den Geschehnissen Stellung nehmen sollen, vorab schon einmal mitzuteilen, ob sie in dem Gerichtssaal die Person, die sie als Rädelsführerin bezeichnet hatten, wiedererkennen würden.

Sie bittet sie, sich genau umzusehen, sich Zeit zu lassen, alle Frauen im Gerichtssaal anzusehen und in Ruhe nachzudenken, bevor sie sich festlegten.

Fünf Zeug*innen betreten nacheinander den Gerichtssaal. Alle erkennen die Frau auf der Anklagebank als Rädelsführerin mit Sicherheit wieder und verlassen erneut den Gerichtssaal. Dass dort nicht die Angeklagte sitzt, sondern Bettina K., und dass Claudia S. stattdessen im Publikum Platz genommen hat, erkennt niemand.

Danach geht es schnell. Die Richterin bittet alle außer den Staatsanwalt und die Anwältin, den Gerichtssaal zu verlassen, und kaum ist die Tür geschlossen, richtet sie ihr Wort an den Staatsanwalt: »Na, dann werden wir wohl freisprechen müssen.« Der Staatsanwalt ist sichtlich genervt, redet von der Suggestionswirkung der Anklagebank und dass auf die Wiedererkennung im Gerichtssaal erwiesenermaßen nichts zu geben sei. Ein Argument, das sonst nur von der Verteidigung angebracht wird.

Nach der schlechten Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren aber und der fünffachen falschen Identifizierung im Gerichtssaal und keinen weiteren Beweisen gegen Claudia S. muss sich auch der Staatsanwalt fügen und beantragt letztlich einen Freispruch, der auch wenige Minuten später unter den empörten Bekundungen der Lebensschützer*innen ergeht.

AktenEinsicht

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