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Aus der Geschichte lernen – eine Handlungsanleitung als Vorwort

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Yitskhok Rudashevski, 1927 in Vilnius geboren, begann nach der deutschen Besetzung im Juni 1941 ein Tagebuch zu schreiben, das er auch nach der Deportation ins Ghetto weiterführte. Noch keine 16 Jahre alt, wurde er im Oktober 1943 von den Nazis ermordet. Sein Tagebuch ist zum einen ein sehr persönliches Dokument, in dem er seinen Stimmungen, seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck gibt, zugleich ist es aber auch eine Chronik der Lebensbedingungen, der Verhältnisse und Entwicklungen im Ghetto, in welche Beobachtungen und Befragungen Eingang fanden. Auf Vorwürfe, eine solche Dokumentation zu erstellen, sei angesichts der Bedingungen des Ghettolebens unangemessen, formulierte er in seinem Tagebuch:

„[…] ich habe nicht unrecht, denn ich denke, dass alles erfragt und aufgeschrieben werden sollte, sogar das Blutrünstigste, denn alles wird berücksichtigt werden.“ (Eintrag vom 5. November 1942)

Was meint Rudashevski, wenn er schreibt, dass alles berücksichtigt werden wird? Zum einen steht hinter dieser Aussage sicher seine Überzeugung, dass Herrschaft und Terror der Nazis nicht andauern werden und dass nach ihrem Ende das Recht wiederhergestellt und das Unrecht bestraft werden wird. Und in der Tat, im Oktober 1943 verabschiedeten die drei Alliierten eine Deklaration, in der sie die justizielle Verfolgung und Ahndung der nationalsozialistischen Verbrechen beschlossen.

Aber die Aussage „Alles wird berücksichtigt werden“ zielt weiter, wir dürfen sie auch verstehen als Auftrag und Forderung an die Nachwelt, Auftrag an uns, in unserem Handeln zu berücksichtigen, was geschehen ist. Dieser Auftrag gilt für alle, aber er gilt insbesondere für jene, die im Bereich der Erziehung und Bildung, der schulischen wie der außerschulischen, tätig sind. Berücksichtigen, was geschehen ist, das bedeutet zu lehren und zu lernen, was geschah, wie es geschah und warum es geschah – warum es geschehen konnte. Das bedeutet ferner, neben den historischen Ursachen auch die sozialpsychologischen Gründe des Holocaust zu thematisieren. Es meint das, was mit dem Begriff Holocaust Education zu umfassen versucht wird: Holocaust Education analysiert die konkreten politischen, gesellschaftlichen Entwicklungen, die zum Nationalsozialismus und zum Holocaust führten, untersucht darüber hinaus, wie und warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Indem sie über die historische Analyse der Shoa hinausgeht, grundsätzliche Fragen menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens ins Auge fasst, thematisiert Holocaust Education, ausgehend von der universellen Bedeutung des Holocaust, auch andere Genozide und formuliert grundlegende Überlegungen zur Genozidprävention.

Für die universitäre Lehrer*innen-Ausbildung bedeutet dies, dass Holocaust Education keineswegs nur ein Thema des Faches Geschichte und seiner Didaktik ist, sondern Bestandteil eines Lehramtsstudiums aller Schularten und aller Schulfächer sein sollte. Sozialpsychologische Fragen zum Bystander-Verhalten, zu Helfern und Rettern, grundsätzliche anthropologische Überlegungen zur Täterschaft – Warum beteiligen sich Menschen an Massentötungen, weshalb weigern sich andere? – gehören dazu ebenso wie das Wissen um Inhalte, Formen und Wandlungen des Antisemitismus und in diesem Zusammenhang die Selbstreflexion eigener Einstellungen und Haltungen.

Holocaust Education in diesem Sinne ist ein grundsätzlicher Beitrag zur Kompetenzentwicklung von Lehrpersonen, die kognitives Verständnis, Motivation, innere Haltung, Einstellung und Persönlichkeit herausbildet.

Die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes gingen nicht wehrlos in ihren Tod; sie leisteten Widerstand, sie bewahrten ihre Würde auch in den Ghettos und Lagern. Yitskhok Rudashevskis Tagebuch ist ein Akt der Selbstbehauptung, der uns berührt; eine Berührung, die aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinreicht und uns auffordert zu berücksichtigen. Aus der Geschichte zu lernen, bedeutet, diese Aufforderung anzunehmen.

Robert Sigel

Mind the Gap

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