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Gedenken heißt Vergessen? Oder: Warum Lehrkräfte den Weg vom „Gedächtnistheater“ zu kritischer Erinnerungsarbeit betreten sollten Kathrin Eveline Plank und Christina Hansen

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„Die Menschen haben aus Auschwitz nur sehr wenig gelernt“1

So manch fleißigem „Gedenk-Intendanten“ dürften die Worte des Shoah-Überlebenden Max Mannheimer sauer aufstoßen, bedenkt man die mühevoll und oft mit besten Absichten inszenierten öffentlichen Gedenkrituale in Deutschland: All die eingeführten Jahrestage, die regelmäßigen Gedenkstätten-Besuche, das alljährliche Einladen von Zeitzeug*innen.

Und dann das: Der Soziologe Y. Michal Bodemann beschreibt 1996 deutsche Gedenkkultur als „Gedächtnistheater“, als „kreativen und dramatischen Akt, der einem Stück im Theater gleicht“2. Im Gedächtnistheater wird nach Bodemann das Zusammentreffen von Täter*innen und Verfolgten respektive das ihrer jeweiligen Nachgeborenen benutzt, um die Läuterung der deutschen Gesellschaft zu veranschaulichen und so einen Moment „kollektiver Identitätsstiftung“3 zu schaffen: Die Deutschen als die mustergültig Geläuterten, als geradezu weltmeisterlich in Sachen Gedenken, Einsicht und „Dazulernen“ – damit wird ganz nebenbei und fast unbemerkt ein Schlussstrich gezogen. Auf der Bühne dieses Theaters geht es nämlich weder um das Weiterwirken in familiären Biografien und gesellschaftlichen Zusammenhängen noch um den konkreten historischen Kontext und dessen Aufarbeitung. Jüdinnen und Juden agieren laut Bodemann stattdessen in der ihnen zugewiesenen Rolle als die großzügig Vergebenden. Erst über diesen Einbezug jüdischer Akteur*innen kann das Narrativ der geläuterten Nation und damit des gezogenen Schlussstrichs legitimiert werden, einem Narrativ, in dem die deutsche Gesellschaft am 8. Mai 1945 kollektiv vom Nationalsozialismus befreit und nicht als NationalsozialistInnen besiegt wurde – so wie das Richard von Weizsäcker anlässlich eines Redebeitrags zum vierzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation formulierte. Es geht bei dieser Inszenierung nicht um eine nach wie vor dringend notwendige kritische Auseinandersetzung – und zwar nicht nur mit dem historischen Ereignis als solchem, sondern auch und in erster Linie mit den immer noch aufklaffenden Leerstellen der Aufarbeitung, den offenkundigen Versäumnissen der Entnazifizierung, mit ideologischer und personaler Kontinuität.

Eben diese kritische Reflexion etwaiger Anschlussstellen zur Gegenwart sind aber erforderlich, soll das Erinnern nicht zur hohlen Phrase, zum bloßen Ritual verkommen: „Erinnern erstarrt dann zu Gedenken, wenn der Bezug zur Gegenwart gekappt wird und sich rhetorische Muster etablieren, die nichts mehr mit Reflexion, sondern nur noch mit Repräsentation zu tun haben.“4 so der Historiker Peter Pirkner in einem Interview. Das „Gedächtnistheater“ bietet entsprechend weder die Möglichkeit einer kritischen Reflexion gegenwärtiger Relevanz, noch wird es dem historischen Ereignis gerecht, wie der israelische Soziologe Natan Sznaider bemerkt: „Wenn Gedenken derart ritualisiert wird, hat es mit dem historischen Ereignis nichts mehr zu tun.“5 Sznaider zufolge mehre sich das Wissen zum historischen Ereignis durch derartige Gedenkrituale nicht, ganz im Gegenteil. Folgt man seinen Ansichten wohne jeder Erinnerung, jeder Form des Gedenkens bereits eine Art Instrumentalisierung inne.6 Welche Begründungslinien teils ins Feld geführt werden, wenn es um die Rahmenbedingungen und Grenzen einer derartigen Instrumentalisierung geht, zeigen die Reaktionen auf die nachvollziehbarerweise mehr als umstrittene Aktion des Künstler*innen-Kollektivs „Zentrum für Politische Schönheit“. Mitglieder haben nach eigenen Angaben die menschlichen Überreste von Holocaust-Opfern in Deutschland, Polen und der Ukraine ausgegraben, die zum Teil in Dämmen verbaut oder auf Feldern verscharrt wurden, um diese in eine temporäre Gedenkstätte einzugießen, die im Dezember 2019 zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt installiert wurde. Unter dem Headliner „Sucht uns“ konnte auf einer eigens eingerichteten Homepage für die Refinanzierung des Mahnmals gespendet werden – je nach Gusto und Höhe der Spende wurden dort neben Büchern und T-Shirts auch so genannte „Schwurwürfel“ mit Erdproben als Dankeschön versendet.7 Ziel der Kampagne war ein gegenwartsbezogener Appell, der nach Aussage der Initiator*innen unter anderem vor einer erneuten Kooperation zwischen Konservativen und faschistischen Kräften warnen sollte.8 Die Rückmeldungen aus der jüdischen Community fielen hinsichtlich deren Pluralität erwartungsgemäß divers aus. Einzelmeinungen reichten von mehr oder weniger neutralem Verständnis, beispielsweise durch Comedian Shahak Shapira,9 bis hin zu eindeutiger Kritik an deutscher Erinnerungskultur. So twitterte beispielsweise der Berliner Schriftsteller Max Czollek: „Mit toten Jüdinnen und Juden kann man machen, was man für richtig hält – als Erinnerungsweltmeister macht man es ohnehin richtig. Wozu die Lebenden fragen?“10, Laura Cazés kritisiert in einem Post die Instrumentalisierung ermordeter Jüdinnen und Juden als „Projektionsfläche vor der Kulisse des ewig ritualisierten ‚Nie wieder‘.“11 Die Positionierung von Überlebenden-Verbänden und Bildungsstätten fiel wiederum recht einheitlich aus: Das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) vermittelte die Bestürzung vieler Auschwitz-Überlebender, die die ewige Totenruhe verletzt sahen.12 Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, bewertete die Kunstaktion als geschmacklos und grundfalsch: „Die Nachfahren der Täter werden wieder Täter, die Nachfahren der Opfer wieder Opfer.“13 Nach wenigen Tagen folgten ein entschuldigendes Statement des Kollektivs sowie die Verhüllung des Mahnmals – ein Großteil der in den Kommentarspalten und Stellungnahmen aufgeworfenen Fragen blieben damit allerdings unbeantwortet.

Darf Kunst das, mag man sich zum Beispiel fragen? Heiligt der wohlmeinende Zweck tatsächlich die Mittel und seien diese noch so pietätlos? Und wenn ja, wer darf das? Neben dieser Frage nach Betroffenheit und Perspektive warf die befremdliche Aktion zudem einmal mehr die Frage danach auf, ob Erinnerungsarbeit respektive die Deutung historischer Ereignisse überhaupt genutzt werden kann oder darf, um zu einer Reflexion menschlichen Handelns und Zusammenlebens in der Gegenwart zu befähigen und wie dies generell gelingen kann, ohne dass dabei der konkrete historische Kontext zur austauschbaren Deutungsfolie gestempelt wird und ohne ins Fahrwasser schlichter Repräsentation zu geraten. Kurzum – und das beschäftigt uns im vorliegenden Band insbesondere: Wie kann es gelingen, aus Geschichte zu lernen, ohne diese zu verfälschen und ohne den Blick auf den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext zu verzerren? Und: Welche unterschiedlichen Perspektiven gilt es hierbei zu berücksichtigen, wenn es beispielsweise um die Themenfelder des historischen Nationalsozialismus, des Holocaust und der NS-“Euthanasie“ geht?

Vor dieser Herausforderung steht nicht nur das öffentliche, institutionalisierte Gedenken. Auch und insbesondere schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen, Lehrkräfte und Hochschulen sehen sich mit Fragen nach Relevanz und adäquaten Rahmenbedingungen einer reflektierten, multiperspektivischen und zukunftsfähigen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert. Das gilt insbesondere auch in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft, deren Mitglieder nicht per se über ihre eigenen Familiengeschichten in das historische Ereignis des Holocaust eingebunden sind.

Auch die vorliegende Veröffentlichung setzt an diesen Fragestellungen und Anforderungen an Lehrer*innen-Bildung an und diskutiert sie jeweils aus unterschiedlichen fachlichen und institutionellen Perspektiven. Der Sammelband ist im Nachgang zur multidisziplinären Tagung „Holocaust Education in der Lehrer*innen-Bildung“ entstanden, die am 25. 01. 2018 am Klinikum Mainkofen stattgefunden hat. Der Ort des Symposiums war in mehrerlei Hinsicht bewusst gewählt. Die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen, ihr historischer Hintergrund und vor allem auch die Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte, die dort in den letzten Jahren auf die Initiative des aktuellen Klinikleiters Gerhard Schneider und mit der Unterstützung engagierter Angehöriger implementiert werden konnte, zeigen mehr als deutlich auf, wie wesentlich kritisches Erinnern die Zielrichtung der damit in Verbindung stehenden Vermittlungsarbeit beeinflusst. Erst in den letzten Jahren und gegen vielfältige Widerstände hinweg konnte Mainkofen als Ort nationalsozialistischer Verbrechen markiert und konnten Täter offen benannt werden, konnte den Opfern und deren Angehörigen ein würdevolles Gedenken ermöglicht und den Nachgeborenen ein Anstoß zur Reflexion gegeben werden.

Mainkofen ist ein place of crime der NS-Eugenik. Hier und an anderen historischen Tatorten, die im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik stehen, wurde mit dem Universalismus der Menschheitsidee gebrochen. Hier wurden Hilfsbedürftige, Kranke, Menschen mit Behinderungen und Diagnosen als vermeintlich Minderwertige gestempelt und aus dem gesellschaftlichen Leben per Einweisung oder Zwangssterilisation ausgeschlossen, mehr noch: von hier aus wurden sie als Lebensunwerte per Kreuz in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert und zur industriellen Vernichtung freigegeben. Vor dem Hintergrund dieser historischen Aussortierung „des ‚Anderen‘, des ‚Abweichlers‘ und der ‚Verwerflichen‘“14 beschäftigt der Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, sich in seinem Beitrag unter anderem mit der Frage, inwiefern eine historische Bearbeitung der „Lebensvernichtung“ auch mit ethischen Dimensionen verbunden werden kann und muss, insofern als dass normative Richtlinien menschlichen Handelns und Zusammenlebens eine Deutung kollektiver historischer Erfahrung darstellen und gibt Hinweise zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gehalt der im Nationalsozialismus gebräuchlichen Begrifflichkeiten.

Im anschließenden Interview mit Christina Hansen ermöglicht Klinikleiter und Gedenkstätteninitiator Gerhard Schneider durch einen aufschlussreichen wie berührenden Einblick in die beispielgebende Geschichte der Gedenkstätte am Klinikum Mainkofen den Überblick Peter Steinbachs an einem exemplarischen Ort des Verbrechens zu konkretisieren. Dieser hat in seinem Artikel auf die Notwendigkeit einer mentalen Verankerung von Erinnerungsorten der NS-“Euthanasie“ verwiesen, um sie, ähnlich wie die Tatorte der Verbrechen im Zusammenhang mit der sogenannten „Aktion Reinhardt“, ins kollektiven Gedächtnis „einbrennen“ zu können. Dass hierzu das bloße Aufstellen einer Stele, eines Mahnmals oder Erinnerungssteins nicht ausreicht, war auch in Mainkofen von Beginn an ersichtlich. Es sollte ein Ort geschaffen werden an dem würdevoll erinnert, aber auch diskutiert, reflektiert und gelernt wird. Die Frage danach, inwiefern die dafür notwendige Begleitung in Form von Veranstaltungen und Führungen nachhaltig implementiert werden kann, bot den Anstoß für die Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Netzwerks aus Pflege- und Bildungswissenschaftler*innen, Gedenkstätten-Pädagog*innen und psychiatrischem Personal, das es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht hat, ein Format zur Ausbildung ehrenamtlicher Gedenkstätten-Guides zu entwickeln, einzuführen und zu evaluieren. Die folgenden Beiträge zeichnen unter anderem Perspektiven aus der Lehrer*innen-Bildung beziehungsweise Gedenkstättenpädagogik nach, die bei der Entwicklung dieses Lehrgangs zielführend waren, um abschließend dessen konkrete Inhalte und Rahmenbedingungen vorzustellen.

In ihrem Beitrag ordnet die Vizeleiterin des Europäischen Departments der International School for Holocaust Studies, Dr. Noa Mkayton, die bislang geäußerten Frage- und Problemstellungen in den jüdischen Diskurs um Geschichtsschreibung ein und arbeitet darüber die Begründungslinien und Kernmerkmale des pädagogischen Konzepts der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem heraus, das unter anderem hinsichtlich der Frage nach dem Einbezug multipler Perspektiven als aufschlussreich nicht nur im Rahmen der Fortbildung, sondern für alle Phasen der Lehrer*innen-Bildung gelten kann.

Dies vertieft die Pädagogin im Anschluss im Interview mit Christina Hansen. Die einleitend skizzierte Frage nach den Möglichkeiten aus Geschichte zu lernen, ohne diese umzudeuten und zu relativieren wird aufgegriffen und aus jüdischer Perspektive diskutiert. Darüber hinaus äußert Mkayton sich dazu, inwiefern das Einnehmen einer reflektierten professionellen Haltung durch Lehrkräfte dem Unterrichtsgegenstand gegenüber sich auf deren Vermittlungsarbeit auswirken kann und schlägt darüber die Brücke zum Beitrag der Bildungswissenschaftlerin Prof. Dr. Christina Hansen. Ausgehend von einem Überblick zum Status quo der Verankerung des Themenfelds „Holocaust Education“ an deutschen Hochschulen respektive in der universitären Lehrer*innen-Bildung stellt sie Ergebnisse einer qualitativen Studie zu den „professional beliefs“ von Lehramtsstudierenden zum Themenkomplex vor und zeigt auf, inwiefern didaktische Kenntnisse und das Verfügen über entsprechendes Material nicht ausreichen, sollen die erwähnten Herausforderungen im Rahmen einer zukunftsfähigen und multiperspektivischen Auseinandersetzung mit Geschichte berücksichtigt werden.

An den entsprechenden Bruch- und Leerstellen universitärer Lehrer*innen-Bildung in diesem Zusammenhang setzt ein bilaterales, phasenübergreifendes Lehrformat der Universität Passau an, das im Folgenden von der Erziehungswissenschaftlerin Dr. Kathrin Eveline Plank vorgestellt wird.

Welche Bedeutung den Erfahrungen und den professionell begleiteten Lernprozessen an einem authentischen Lernort zukommen, greift die Historikerin Mag. Irene Zauner-Leitner, stellvertretende Leiterin des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, auf, um sie am Beispiel des pädagogischen Konzepts dieser Gedenkstätte zu bearbeiten. Dabei wird deutlich die mehrfach aufgeworfene Frage nach der gegenwärtigen Relevanz historischen Lernens aufgegriffen und es werden konzeptuelle und bauliche Merkmale der Lern- und Gedenkstätte in diesem Zusammenhang begründet. Zugleich wird mit der „Pädagogik menschlicher Handlungsmöglichkeiten“15 ein pädagogischer Standpunkt eingenommen und beschrieben, den Noa Mkayton in ihrem Beitrag bereits andeutet.

Ein Standpunkt, der auch das Fortbildungskonzept „Lehren und Lernen an Gedenkorten“ auszeichnet, das insbesondere Lehrkräfte, Pädagog*innen und Pflegepersonal adressiert und abschließend von den Pflegewissenschaftler*innen Prof. Dr. Michael Bossle und Angelika Stadler vorgestellt wird.

Gleichzeitig abschließend und eröffnend soll nun David Grossmann zu Wort kommen, um sowohl den Topos der Differenz an Perspektiven in diesem Zusammenhang als auch die Frage nach einer gegenwärtigen Relevanz erneut aufzugreifen:

„Eine kleine sprachliche Sache fällt mir immer wieder auf, wenn ich Europa besuche, insbesondere die deutschsprachigen Länder. Wenn die Leute mit mir reden sprechen sie oft davon „was damals passierte“. „Damals“, das bedeutet, dass früher, in der Vergangenheit, Dinge geschehen sind, die heute nicht mehr geschehen; es ist alles vorbei. Aber im Hebräischen, oder im Jiddischen (eigentlich in jeder Sprache, wenn Juden über den Holocaust sprechen) sagen die Leute nie „damals“. Sie sagen „dort“. „Dort" bedeutet, dass in diesem „dort“ – nicht nur in Deutschland, sondern im Menschsein überhaupt – die Dinge immer noch existieren. Oder passieren. Und auf alle Fälle ist es nicht vorbei. Ganz bestimmt nicht für uns.“16

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