Читать книгу Schleuderkurs - Christina Hupfer - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеMein Auto steht noch in der Werkstatt. Ich laufe mit gesenktem Kopf durch die Straßen bis zu unserer Firma, einem kleinen Ableger der Luftfahrtindustrie, in dem ich schon seit zehn Jahren schufte. Genauer gesagt ein Drittel meines Lebens. Demnächst feiere ich meinen einunddreißigsten Geburtstag, und was habe ich vorzuweisen? Eine gescheiterte Beziehung und Bauchschmerzen. Ich konzentriere mich nur noch auf die Tropfen, die den Teer dunkel sprenkeln und spüre den frischen Wind, der durch meine dünne Jacke bläst. Es ist doch erst Ende August! Aber um mich herum ist an diesem Morgen alles so kalt und grau wie meine Gedanken. Ich stecke meine Hände in die Taschen und meine Mundwinkel wandern dann doch wider Erwarten nach oben. Der Lego-Baustein, den ich darin finde, erinnert mich an den kleinen Burschen, der mir heute Morgen im Treppenhaus begegnet ist. Als ich auf dem Weg hinunter in die Tiefgarage stockte, und dann den zum Hauptausgang genommen hatte.
„Darfst du heute auch nicht Auto fahren?“, hatte er mit seiner hellen Kinderstimme gefragt, die Nase hochgezogen und mich mit seinen verheulten Augen gemustert, in denen es schon wieder neugierig funkelte.
„Emil!!!“ Eine halb geöffnete Wohnungstür wurde vollends aufgerissen und eine junge Frau, noch in Unterwäsche, schimpfte aufgebracht: „Wie hast du das bloß wieder geschafft? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht alleine raus darfst. Solange du so klein bist, ist das viel zu gefährlich. Und wenn du nicht spurst, dann bleiben wir eben heute Nachmittag auch drin!“
Sie strich sich genervt die hellblonden, Locken aus dem Gesicht und meinte entschuldigend: „Tut mir leid, dass Sie unseren Kleinkrieg mitbekommen haben. Aber der Entzug seines Tretautos ist für den kleinen Fratz die effektivste Strafe. Sie zeigte auf ein knallrotes Teil, das an einem Haken unter der Decke hing. Überhaupt war alles, was ich hinter ihr erblickte, schreiend bunt: Der königsblaue Vorhang, eine Art Raumteiler, hinter dem die großen Augen eines etwa vierjährigen Mädchens hervor lugten. Das Spielzeug, das überall verteilt herumlag. Die glitzernden Ketten, die dekorativ an einer Wand hingen — außer Reichweite von Kinderhänden. Das rote Sofa und ein paar lebhafte Bilder. Alles einfach, aber durchaus geschmackvoll, und ganz anders als meine Wohnung zwei Stockwerke über ihr, bei deren Einrichtung wir ganz gewiss nicht an ein Heim für quirlige Kinder gedacht hatten.
„Nicht so ganz einfach, wenn man alleine mit den Rabauken klarkommen muss.“ Sie seufzte und lachte gleichzeitig.
Ich hatte sie verständnisvoll beruhigt und festgestellt, dass ich rein gar nichts über sie wusste. Dass ich keine Ahnung hatte, wie lange wir schon gemeinsam in diesem Haus wohnten. Ich konnte mich nur dunkel erinnern, dass Gerd einmal über einen Fahrradanhänger fluchte, der ihn fast zu Fall gebracht hatte.
Ich kenne — kennen ist eigentlich schon zu viel gesagt — nur die direkten Nachbarn auf unserem Stockwerk, die Familie Küçük. Ein berufstätiges Ehepaar mittleren Alters. Ein junger, finster aussehender Mann, der öfter vorbei kommt, wahrscheinlich der Sohn. Und die Oma, immer mit langem Mantel und ordentlich gebundenem Kopftuch.
„Dieses Türkengesindel“, hatte Gerd, als sie eingezogen waren, geschimpft. „Wie können die sich so eine Wohnung leisten?“
Vorsichtig wies ich ihn darauf hin, dass da ein Dr. vor dem fremd klingenden Namen steht.
Mein Ex — schon wieder spukt er in meinen Gedanken, obwohl ich seit Wochen versuche, das zu vermeiden.
Immer noch lächelnd den Lego-Stein betrachtend, den mir Emil gerade vorher noch großzügig geschenkt hatte — „damit du nicht traurig bist!“ — stolpere ich im Büro als erstes über Gerd. Dieses Mal ist es mir leider nicht gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen.
„Na, dir geht‘s ja gut?“
Was soll das jetzt? Was höre ich da heraus? War das gerade Eifersucht? Hat er von seiner Bille schon genug? Will er vielleicht zu mir zurückkommen? Ist das mein Herz, das da grade umeinander stolpert? Er liebt mich also doch noch! Wir waren immerhin über fünf Jahre zusammen. Die harten Kanten des kleinen Bausteins drücken sich in meine plötzlich verkrampfte Hand, und die Hoffnung, die in mir aufkeimt, lässt mich alles andere vergessen: Die ganze Wut auf ihn, diesen Besserwisser. Diesen Alleskönner und Egoisten. Gerade noch hatte ich mir gesagt, wahrscheinlich gut für mich, dass es vorbei ist. Ich schaffe das. Was andere können, unter schwereren Umständen, das schaffe ich auch. Und nun genügt ein Blick in diese blitzenden Augen, und ich will ihn wieder zurück.
Gerd sieht mich immer noch fragend an.
„Ja, mir geht es hervorragend. Finanziell und auch persönlich. Ich habe erst kürzlich eine wahnsinnig interessante Bekanntschaft gemacht!“
Meine Verblüffung über diese spontane Antwort ist mindestens so groß wie seine.
„Er ist natürlich etwas jünger als du“, schiebe ich beim Gedanken an den kleinen Emil lächelnd nach und sehe mit Genugtuung, dass er sich hastig mit der Hand über seine gestylten Haare fährt. Es ist nicht zu übersehen, dass die sich allmählich lichten.
***
Das Telefon schweigt, und obwohl zwei meiner Kollegen heute Urlaub haben, hält sich der Arbeitsanfall in unserer Abteilung in Grenzen. Keiner stört mich, denn auch unser Chef ist nicht im Haus. Wegen eines Herzinfarkts wird er mindestens noch bis Ende des Monats abwesend sein. Zum Glück für mich, denn ich kann mich derzeit partout nicht auf Maschinenteile, Bestellnummern und Rechnungen konzentrieren. Zumindest nicht auf diese Art Rechnungen. Auf meinem Zettelkasten liegt der blaue Lego-Stein und blinzelt mich auffordernd an: ‚Paulina, jetzt mach schon. Fang noch mal an zu rechnen!‘
Mein Schreibblock füllt sich rasant mit allen Beträgen, die jeden Monat fällig sind. Dabei darf ich auch nicht vergessen, dass es Ausgaben gibt, die erst in ein paar Monaten auf mich zukommen. Wenn ich den Durchschnitt nehme, bleiben mir für Essen und Unvorhergesehenes noch... Ich glaub es nicht und rechne nochmals nach, aber es wird nicht mehr: fünfunddreißig Euro. Nicht mal zehn Euro pro Woche! Dabei habe ich aber die Reparaturkosten für meinen fahrbaren Untersatz nicht mitgerechnet. Das Abo für die zwei Zeitschriften, die ich sowieso immer nur überflog, den Mitgliedsbeitrag für den Alpverein und die Zusatzversicherungen, die mir kürzlich ein kompetenter Makler dieser Branche aufgeschwatzt hatte, werde ich auf jeden Fall kündigen. Aber egal wie ich rechne, es bleibt kaum etwas übrig. Ich kaue trübselig auf meinem Bleistift und überlege. Wie kann ich, ohne dieses geheimnisvolle Geld anzunehmen, wieder auf die Füße kommen? Ohne dies stehe ich momentan mit ungefähr dreihundert Euro in der Kreide und der Monat hat gerade erst angefangen. Bald wäre mein Disporahmen von tausend Euro wieder ausgeschöpft. Herrn Bäuerles Igelhaare nicken bestätigend vor meinem inneren Auge. Der größte Brocken sind die Raten für meine Wohnung. Die drücken mich am meisten, denn dass sich mit Gerd als er verschwand, auch sein monatlicher Beitrag zu unserer Gemeinschaftskasse in Luft auflöste, hatte ich in meiner Verzweiflung erst mit Verzögerung mitbekommen.
Ich würde die Wohnung verkaufen müssen. Es bliebe, wenn Makler und Bank sich bedient hätten, sicher noch etwas übrig, und ich könnte eine günstige mieten. Aber zuerst mal eine finden! Der Wohnungsmarkt in unserer Gegend ist wie leergefegt. Ich habe Horrorgeschichten von überhöhten Mietpreisen, üblen Löchern und unverschämten Vermietern gehört. Manche meiner Kollegen haben eine halbe Tagesreise hinter sich, wenn sie in der Firma eintreffen. Dazu kommen die Kosten für Benzin und der Wertverlust des Autos durch die vielen gefahrenen Kilometer. Ich höre sie fast täglich darüber stöhnen.
Dann muss ich eben doch wieder bei Papa einziehen. Er würde mich bestimmt aufnehmen. Sie fahren erst morgen. Ich könnte ihn noch erreichen. Es wäre bestimmt nur vorübergehend, und falls es länger ginge, würde ich mich ganz arg zurücknehmen, damit ich seine Elfi nicht verscheuche. Hoffentlich versteht sie das.
Aber er würde nicht unbeschwert losfahren können. Es muß eine andere Lösung geben! Vielleicht reicht es, meinen kleinen Flitzer zu verscherbeln. Das Gefühl von Großartigkeit und Freiheit ist sowieso den Bach runter. Es gibt Leute, die haben nicht mal ein Auto und schon gar kein so flottes Gefährt. Und die halbe Stunde Fußweg hierher wird mich schon nicht umbringen. Weitere große Reisen kann ich mir grade sowieso nicht leisten, und ich könnte mir dazu gleich noch das Fitnessstudio und den Anblick von Frau Müller-Oberbauer im heißen Sportdress ersparen!
Viel würde ich für den Wagen wahrscheinlich nicht mehr bekommen: Die Reparatur, das Alter, der Wertverlust. Ich hätte zwar nur noch vier Raten abzubezahlen, aber wenn die sofort wegfallen würden? Kein TÜV wäre mehr fällig, keine Versicherung, keine Steuern, keine neuen Reifen, keine Reparaturen. Warum eigentlich nicht? Ein kleines Licht fängt an zu flackern. Das erste Mal seit den vergangenen Tagen atme ich etwas freier. Ich rechne von vorne.
„Hallo, Paulina!“ In der geöffneten Tür steht Carola, unsere Buchhalterin und rauft sich die modisch kurz geschnittenen schwarzen Haare. „Ich habe meine Unterlagen für das Meeting verlegt. Darf ich deine schnell kopieren?“
„Oh.“ Ich bin völlig überrumpelt, habe ich den Termin zur Info über die Einführung der neuen Software doch glatt vergessen. „Schon so spät? Ich muss sie erst raussuchen. Dann kopiere ich sie und bringe sie mit.“
„Danke, du bist ein Schatz! Bis gleich.“
Sie dreht sich nochmals um: „Hast du dich schon in die Liste für den Wochenendausflug nach Davos eingetragen? Morgen wird sie abgehängt. Es ist ja schon in einer Woche!“
Jetzt heißt es, stark sein...
„Nein, habe ich nicht. Ich fahre nicht mit.“
„Nein? Das ist aber schade. Wieso denn?“
Weil ich mir den Anblick von Gerds knackigen Waden, die neben denen Billes vor mir her stapfen würden, ersparen will. Und weil ich mir die Zusatzkosten sowieso nicht leisten kann.
„Keine Lust. Ich habe nicht die Absicht, schon wieder zur Belustigung aller zitternd über einem Abhang zu hängen.“
Nur Mike, mein Kollege aus der Abteilung Marketing, der Wagemutigste von allen — er hat schon einige Klettersteige bezwungen und war kürzlich sogar Fünfter bei irgendeinem Autorennen — hat damals nicht gelacht. „Nicht jeder braucht das, sich die Flügel zu verbrennen“, hat er vor den anderen zu mir gesagt, und mir über die schwierige Passage geholfen. Die Erinnerung an meine schmachvolle Darbietung bei der letzten Wanderung mit der Betriebssportgruppe treibt mir jedoch immer noch die Schamröte ins Gesicht.
„Und du kannst dir sicher denken, dass ich die Plantschbecken in den engen Schluchten sehr gerne den anderen überlasse.“
„Ich doch auch. Aber wenn uns die Geschäftsleitung schon mal zur Belohnung einen Ausflug finanziert. Du hast dir doch an dem Projekt auch einige Zähne ausgebissen. Und es geht doch in die Schweiz! In diesem Hotel soll es eine traumhafte Wellness-Anlage geben. In eine warme Decke eingewickelt, einen Drink dazu und die prachtvolle Berglandschaft von unten betrachten. Das hat doch was!“
Ihre dunklen Augen leuchten, und ich kann mir gut vorstellen wie sie sich in ihrem Liegestuhl genüsslich räkeln und höchstens ab und zu eine Runde um den Swimmingpool drehen wird. Und ich weiß nur zu genau, was so ein kleiner zusätzlicher Drink in der Schweiz kostet. Ein Vermögen! So was ist ab sofort für mich gestrichen. Das passt absolut nicht in meinen Sparplan, den ich als sich die Tür öffnete, blitzschnell abgedeckt habe.
„Ach komm“, legt sie nach. „Ich will nicht den ganzen Abend mit Leuten reden müssen, die sich nur über spitze Hörner, Steilwände und Grate unterhalten wollen. Es wäre so schön, wenn du mit dabei wärst.“
Während ich im Druckerraum die Blätter durch den Kopierer laufen lasse, denke ich über diesen Ausflug nach. So etwas würde ich mir in der nächsten Zeit natürlich nicht mehr leisten können. Die Fahrt, die Übernachtung und ein exzellentes Abendessen würden von der Firma bezahlt werden. Bei allem anderen müsste ich mich eben rausreden. Und die Berge ziehen mich an. Nicht die Gipfeltouren, bei denen ich mir vor Angst in die Hosen mache, aber die sanften Almwiesen, das überwältigende Panorama. Die frische, klare Luft. So wie ich es von meiner Kindheit her kenne. Von den Ferien im Allgäu bei Onkel und Tante. Beide leben leider nicht mehr, und zu meinen Vettern habe ich schon lange den Kontakt verloren. Was aber nicht an ihnen liegt. Beschämt frage ich mich: wie lange war ich nicht mehr dort? Die Antwort lautet ganz einfach: Seit meiner Beziehung mit Gerd.
Auf einmal drängt es mich mit Macht, doch mitzufahren. Ich müsste ja nicht hinter diesen verrückten Sportlern her keuchen und würde garantiert auch keinen Liegestuhl verteidigen wollen. Aber ich könnte meinen Skizzenblock mitnehmen...
Fast schon entschlossen stoße ich den Papierstapel in Form und hefte ihn zusammen. Draußen höre ich bereits den Smalltalk einiger Kollegen vor dem gegenüberliegenden Besprechungszimmer.
„... heißt die nette, großäugige Kleine von der Konstruktionsabteilung? Die mit den langen, kastanienbraunen Haaren und dem klasse Fahrgestell?“
Ich spitze die Ohren. Obwohl ich mich gerne gut kleide mag ich es gar nicht, nur auf mein Aussehen reduziert zu werden. Die Stimme, dunkel und rau, kenne ich nicht. Aber diejenige, die antwortet. Es ist der helle Tenor von Mike Krüger.
„Welche Kleine? In dieser Abteilung arbeitet nur eine Frau, und das ist Paulina Werner. Klasse hat die. Aber klein ist die nicht gerade.“
Na ja, im Verhältnis zu dem kraftstrotzenden Mike, dem ich wenn ich auf meinen schicken Plateausohlen-Stöckelschuhen stehe fast auf den Scheitel sehen kann, bin ich eine Riesin. Ich habe den Verdacht, dass er seine dunkelblonden Borsten extra so hoch föhnt und kunstvoll verwuschelt, damit er ein wenig größer wirkt. Ich bin gerührt. Aber klein hat mich nun wirklich noch niemand genannt. Wer hatte da gefragt? Mike hat seine Stimme gedämpft. Er ist immer noch beim Thema: „…Pech gehabt... …war mit dem Abteilungsleiter vom Verkauf, dem Homburger zusammen... …hat eine Neue...“
Obwohl ich krampfhaft versuche, nicht hinzuhören, kann ich nicht anders. Erfahre ich vielleicht doch gerade, warum es wirklich mit mir und Gerd nicht geklappt hat und gebe damit dem latent vorhandenen Kloß in meinem Hals die Gelegenheit, sich mal wieder ordentlich aufzublähen. Das ist das Schlimme an einer Liebschaft im Betrieb. Jeder weiß davon, und natürlich ist es DER Gesprächsstoff wenn’s schief geht! Trotz fühlbar unterdrückter Schadenfreude, die von nicht wenigen Schreibtischen herüber waberte, habe ich mich täglich an meinen Arbeitsplatz geschleppt und die Zähne zusammen gebissen. Nur an Carolas ehrlichem Mitgefühl und ihrer Taschentücher-Box kam ich nicht vorbei. Jetzt den Druckerraum zu verlassen wäre für beide Seiten peinlich.
Es sind noch ein paar Kollegen dazugekommen, und das Gespräch wendet sich zu meiner Erleichterung einem anderen Thema zu. Es wird darüber spekuliert, dass Herr Gauweiler von der Abteilung Getriebebau, der vor ein paar Tagen zum Schrecken aller plötzlich gestorben war, Selbstmord begangen haben soll. Er wurde angeblich kurz davor von einem Tag auf den anderen freigestellt, und die Gerüchteküche ist seitdem noch nicht zur Ruhe gekommen. Mike, der den armen Kerl gut gekannt hatte und den das sichtbar bedrückt, wird ausgefragt, kann aber auch nichts Erhellendes beitragen: „Ich habe keinen Schimmer, ob und wenn ja, was er ausgefressen hat. Von oben sickert überhaupt nichts durch.“
Mich schaudert beim Gedanken an die Ausweglosigkeit, mit der dieser Mann offenbar konfrontiert war.
„Ich habe keine Ahnung, ob ich hier bei diesem Meeting überhaupt mit dabei sein muss“, mault einer dazwischen und wechselt wiederum das Thema. „Mein Schreibtisch quillt über, und ich habe Besseres zu tun.“
Bald werden sich alle in den Besprechungsraum begeben, dann kann ich ungesehen hinaus schlüpfen. Derweil studiere ich unser schwarzes Brett. Jemand will einen Kinderwagen verkaufen, ein anderer einen Küchenschrank. Die Tochter von Frau Schwartz bietet Nachhilfe in Mathematik an. Und die von Herrn Ritter möchte gerne Babysitten. Einer sucht einen Nachmieter für seine Wohnung. Meine Augen bleiben an den Fotos hängen. Fünfzehn Kilometer entfernt. Das würde gerade noch gehen. Müsste dann eben doch das Auto behalten. Sie wäre sogar etwas größer als meine. Ein wenig altbacken und verwohnt, der Grundriss nicht gerade praktisch. Aber mit etwas Farbe und viel Phantasie... Doch die Mietkosten! Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf. Die sind ja fast so hoch wie meine bisherigen Raten!
Draußen ist es ruhig geworden. Ich schnappe mir meine Unterlagen, husche über den Flur und sinke in dem überfüllten Raum in der letzten Reihe neben Carola auf den Stuhl. Und wer unterbricht wohl mit dem Knall eines fallenden Papierstapels die Rede des Geschäftsführers? Alle Köpfe drehen sich ruckartig zu mir, während ich meinen roten Kopf schnell unter den Stühlen verstecke und Carolas Kopien und jedes Blatt meiner Präsentation einzeln vom Boden aufsammle. Auf diese Art Aufmerksamkeit hätte ich gerne verzichtet. Auch unser Chef mustert mich mit einem unwilligen Blick und fährt dann fort: “...bedanke mich für die vielen Überstunden, manche auch an den Wochenenden, die die erfolgreiche Einführung erst möglich gemacht haben. Es waren hohe Kosten notwendig, aber Sie werden sehen, es wird sich amortisieren. Ich bitte Sie, nicht nachzulassen in Ihrem Wirken. Dank Ihnen geht es der Firma wieder besser. Wir haben es aus der Talsohle geschafft.“
Ein Witzbold, Herr Braun — Leiter Versand — murmelt: „aber für ne längst fällige Lohnerhöhung reicht es natürlich nicht.“
Der Unwille gilt jetzt ihm. Aber Recht hat er. Nur traut sich keiner etwas dazu zu sagen. Gerd, natürlich ganz vorn, direkt neben unseren hohen Herrschaften, dreht sich halb zum gemeinen Volk und lächelt verächtlich. Die Rede geht weiter. Noch ein wenig Lobhudelei. Dann kommt er zu unserem Projekt: „Eine gründliche Schulung aller anderen Mitarbeiter durch die Mitglieder der Projektgruppe ist notwendig. Sie werden Ihnen nachher die Schulungspläne vorstellen...“
Ich schweife ab, in Gedanken wieder bei meinen eigenen Problemen.
„...drei neue Leute konnten eingestellt werden. Frau Luise Kaspar hat bereits im Einkauf angefangen.“ Eine Brünette erhebt sich. Ungefähr so groß, wie ich. Sie sieht ganz nett aus.
„Herr Roland Kramer wird ab sofort die neu geschaffene Abteilung Controlling übernehmen.
Der schmale Wicht mit der prächtigen Krawatte, der neben Luise Kaspar sitzt, nickt uns zu.
„Wacht der jetzt darüber, wie oft wir aufs Klo gehen?“ Das war wieder Herr Braun und das höre zu seinem Glück diesmal nur ich — aber mein Prusten hören alle, und ich ernte einen höchst irritierten Blick von meinem Ex. Auch der Redner räuspert sich und schaut streng in meine Richtung: „...und Lukas Bohrer ist der neue Mitarbeiter für die ebenfalls neu geschaffene Stelle ‚Kontinuierliche Verbesserungsplanung‘. Kurz KVP. Er wird eng mit dem Controlling zusammenarbeiten.“
Misstrauisch wird Bohrer von den meisten gemustert. Sind da etwa Stellen in Gefahr???
Der Alte kommt zum Schluss: „Wir hoffen, dass sie alle sich gut eingewöhnen. Wir werden Sie nach Kräften unterstützen.“
Allgemeines Klatschen. Er geht und lässt uns endlich arbeiten. Und ich stelle fest, dass die Stimme, die nach der ‚netten Kleinen’ gefragt hatte, dem Neuen, sehr groß, sehr kräftig, aber nicht dick, diesem Lukas Bohrer gehört. Nette Kleine! Ich mag das nicht. Hätte gleich nach der fragen können, die hier den Kaffee kocht. Ist das nicht auch der, von dem Mike gesagt hatte, er wäre so ein ‚Tüpfeles-Scheißer‘? Kaum da, und schon hätte er an seinen Prospektentwürfen herumkritisiert? Ich mag solche übertrieben gut aussehenden Männer zur Zeit sowieso nicht. Und dieser hier sieht aus wie ne Mischung aus einem Vorabendserienhelden und einem Bergsteigeridol. Die blauen Augen leuchten intensiv in einem kantigen Gesicht, das seine Bräune garantiert der Sonnenbank verdankt. Er gehört bestimmt zur gleichen Gattung wie mein Chef, den es, obwohl er schon über ein Jahr unsere Abteilung leitet, immer noch erstaunt, dass Frauen nicht nur in der Küche werkeln können. Der kaum glaubt, dass sie eine Küchenmaschine bedienen, geschweige denn eine entwickeln können. Und erst recht keine für ein Flugzeug! Aber wenn doch, dann natürlich nur mit Hilfe von Männern.
Überhebliches Mannsbild! So langsam stinkt es mir gewaltig, dass ich immer nur die ‚Nette‘ bin. Immerhin haben die Herren der Konstruktion und Entwicklung mir einige gute Ideen zu verdanken. Auch wenn unser Abteilungsleiter, der Weber, es immer so hindreht als sei alles auf seinem Mist gewachsen. Aber momentan ist er außer Gefecht. So leid er mir tut, er kann ruhig noch ein Weilchen fortbleiben. Doch ich habe im Moment wirklich andere Sorgen. Wenn ich nochmals unangenehm auffalle, kann ich mir bald auch noch einen neuen Job suchen.
Die Stunden bis zum Mittag sind ausgefüllt mit der Vorstellung der neuen EDV, der Verteilung von Anweisungen und der Beantwortung unzähliger Fragen, die wiederum weitere Fragen nach sich ziehen. Als wir um dreizehn Uhr endlich unsere Besprechung auflösen und unsere Papiere zusammenpacken, bin ich restlos erschöpft. Höre nur halb, wie sich kleine Grüppchen bilden, neue Erkenntnisse besprochen werden, man sich zum Essen verabredet und wie eine weibliche Stimme im Hintergrund fragt: „Weiß niemand von Ihnen, ob irgendwo in der Nähe eine Wohnung frei wird? Oder auch ein Zimmer in einer WG. Ich finde nichts, es ist zum Verzweifeln. Auf die Dauer im Hotel, das geht gar nicht!“
„Ja, das glaube ich“, antwortet einer. „Der Bohrer hat unglaubliches Glück gehabt. Er hat ein Appartement in dem neuen Wohngebiet am Stadtrand ergattert.“
Natürlich, so einem Schleimbeutel fällt ja alles in den Schoß. Im Moment höre ich überall nur von Wohnungsproblemen. Ich schaue aufmerksamer in diese Richtung und sehe die neue Einkaufssachbearbeiterin mit ein paar Kollegen zusammenstehen. Wie heißt sie noch mal? Luise Irgendwas. Burschikoses Outfit, die braunen Haare zu in einem kleinen Dutt oben auf dem Kopf zusammengedreht. Wache Augen. Eine Idee beginnt in mir zu keimen.