Читать книгу Tod des Verlegers - Christina Wermescher - Страница 4

Оглавление

Ticktock

Melanie Vogltanz

Die Kurzgeschichte ist tot!

Mit diesen Worten hast du mich abgewiesen, als ich in der Stunde höchster Not zu dir kam und dich um deine Hilfe bat. Das ist ironisch, denn du irrst dich nicht nur, nein – du selbst wirst in naher Zukunft das Zeitliche segnen. Ich kann mir deine Reaktion auf diese Mitteilung lebhaft vorstellen. Wahrscheinlich starrst du gerade ungläubig auf diese Zeilen, deine Nasenflügel vor Zorn bebend, der Mund verkniffen wie nach dem Biss in eine Zitrone. Du bist wütend, nicht besorgt, denn Wut ist immer deine erste Reaktion auf alles, was du nicht verstehst.

Jetzt lachst du wahrscheinlich, peinlich berührt, wie leicht du zu durchschauen bist. Außerdem hoffst du immer noch auf einen Scherz. Tut mir leid, meine Liebe, aber ich muss dich enttäuschen. Die Angelegenheit ist bitterernst. Dass die Tür nach deinem Eintreten ins Schloss gefallen ist, war kein Zufall und auch kein Windstoß, und dass du sie nicht wieder öffnen kannst, liegt nicht daran, dass der altersschwache Türrahmen verzogen ist. Du bist hier unten gefangen, meine Liebe, und wenn du jetzt nicht deinen Hochmut hintanstellst und aufmerksam aufpasst, wirst du hier unten dein Ende finden.

Bestimmt willst du dieses Blatt nun zornig in deiner Hand zerknüllen, es am liebsten zerreißen, aber glaube mir, das wäre keine gute Idee, denn dann bist du endgültig verloren. Wenn du allerdings die Nerven behältst, kannst du deine Haut vielleicht noch retten.

Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit?

Gut.

Hörst du dieses Ticken? Wahrscheinlich bemerkst du es erst jetzt, obwohl es bereits in der Sekunde eingesetzt hat, als die Tür hinter dir zugefallen ist. Es stammt von dem Kästchen, das auf dem Tisch vor dir steht. Diese ausgeklügelte Apparatur wurde mir von einem guten, überaus findigen Freund zur Verfügung gestellt, der sich auf mechanische Spielereien wie diese spezialisiert hat. Siehst du das Tastenfeld, das an der Seite befestigt ist? Das mit den gusseisernen Buchstaben, die aussehen, als hätte sie jemand in mühseliger Kleinarbeit von einer antiken Schreibmaschine gelöst? Das ist deine Rettung, meine Liebe. Das – und die Kartons mit den Geschichten, denen du wahrscheinlich bis jetzt keinerlei Beachtung geschenkt hast.

Es sind dieselben Geschichten, die du vor ein paar Wochen für tot erklärt und dich zu lesen geweigert hast. Geschichten, an denen mein Herz hängt. Geschichten, in die ich genug Vertrauen setze, um zu glauben, dass sie ein Leben retten können. In diesem Fall das deine, Schwester.

Manche dieser Geschichten wollen dich zum Nachdenken bringen, andere wollen dich ängstigen, und wieder andere wollen dich einfach nur unterhalten. So unterschiedlich sie auch sind, jede von ihnen enthält auch ein kleines Stück einer größeren Wahrheit. Du wirst bald begreifen, wie ich das meine.

Irgendwo in diesen Schachteln steckt der Code in die Freiheit. Allerdings werde ich dir natürlich nicht verraten in welcher. Du musst die Geschichten schon lesen, um das herauszufinden. Deine Aufgabe: Finde den Code und gib ihn in das Kästchen ein. Anschließend bist du frei und kannst dein Leben wie gewohnt weiterleben.

Aber lass dir besser nicht zu viel Zeit. Das Ticken des Apparats ist nicht ohne Bedeutung – es misst die Zeit, die dir bleibt, um die Lösung zu finden. Sobald sie abgelaufen ist, gibt es für dich hier keinen Weg mehr hinaus – dann bleibst du hier unten gefangen. Wie lange das dauern wird, behalte ich allerdings für mich, schließlich will ich nicht die Spannung vorwegnehmen.

Ticktockticktock, Schwester.

P.S.: Sollte wider Erwarten jemand anderes als Katja diese Botschaft gefunden haben, entschuldige ich mich aufrichtig für die entstandenen Unannehmlichkeiten und hoffe, dass Ihr Lesevergnügen nicht von einem langsamen, qualvollen Tod überschattet wird.

Hochachtungsvoll,

Benjamin Schauer

Fassungslos lasse ich den Brief sinken. Sofort drehe ich mich um und rüttele an der Kellertür, die hinter mir zugefallen ist. Keine Chance – sie sitzt bombenfest. Als ich genauer hinsehe, entdecke ich am Boden eine Drachenschnur mit einer Öse. Der Faden führt zu der psychedelisch tickenden Apparatur, die mein Bruder in seinem Brief beschrieben hat. Wahrscheinlich war die Schnur im Rahmen eingespannt. Als ich die Tür geöffnet habe, muss sie sich gelöst und das tickende Ding in Gang gesetzt haben. Perfide! Was allerdings jetzt die Tür blockiert, kann ich nicht feststellen.

Was auch bedeutet, dass ich es nicht aus dem Weg räumen kann. Benjamin hat recht. Wie es aussieht, sitze ich vorerst hier fest.

Wieder wischt mein Blick über die Zeilen des Briefes in meiner Hand. Mir entfährt ein nervöses Lachen. »Das ist ein Scherz«, sage ich. »Natürlich ist es ein Scherz. Wenn auch ein ziemlich geschmackloser.«

Beunruhigt beäuge ich das Kästchen.

Ticktockticktock.

Aber nur mal angenommen, es wäre kein Scherz …

Könnte Benjamin mir tatsächlich ans Leder wollen? Gott weiß, dass wir uns nicht unter den besten Umständen getrennt haben. Aber das war doch nicht meine Schuld! Wenn er Kohle brauchte, pochte er auf Familienzusammenhalt und drückte auf die Tränendrüse, ansonsten bekam ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht. Entweder er trieb sich auf irgendwelchen Messen für Literaturjunkies herum oder er schloss sich hier ein, in seinem unterirdischen Arbeitszimmer, begraben unter Geschichten und Büchern. Und es waren nicht einmal sinnvolle Bücher, mit denen ein Normalsterblicher etwas anfangen konnte, Lebensratgeber oder Rezepte, nein, es war Phantastik. Abgedrehtes Geschwurbel, geschrieben von abgedrehten Sonderlingen, die mit der Realität nicht zurechtkommen und sich lieber ihre eigene Welt zimmern, statt ihr tatsächliches Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich hätte es ja noch verstanden, hätte Benjamin diesen Stuss gelesen – jeder braucht irgendein Ventil, meines ist zum Beispiel Tennis –, aber das reichte meinem Bruder natürlich nicht. Nein, Benjamin hatte vor fünf Jahren das wenige Geld in die Hand genommen, das er von unseren Eltern geerbt hatte, und damit einen Verlag gegründet. Einen Verlag! Für Phantastik! Ich warnte ihn noch, dass er sein Geld genauso gut in den Thermomix hätte werfen können, aber hörte er auf mich? Natürlich nicht, hat er ja noch nie getan.

War ich überrascht, als er vor einem Monat vor meiner Tür stand und mich um ein Darlehen anbettelte? Nicht wirklich. Das Ausmaß meiner Überraschung war ebenso groß wie das meiner Freude über seinen Besuch – nicht existent. Er behauptete, dass er niemals gewagt hätte, sich an mich zu wenden, würde es sich nicht um eine absolute Notlage handeln: Sein Verlag sei bankrott, und Benjamin selbst schwerkrank. »Der Arzt gibt mir nur noch wenige Wochen«, sagte er. »Bevor ich gehe, möchte ich noch dieses eine Buch machen – ein ganz besonderes Buch mit ganz besonderen Geschichten. Aber wenn du mir nicht finanziell unter die Arme greifst, wird daraus nicht. Bitte, Katja – erfülle einem Sterbenden seinen letzten Wunsch. Ich habe die Geschichten mitgebracht. Wenn du sie liest, wirst du bestimmt verstehen, warum sie mir so wichtig sind.«

Was soll ich sagen? Ich habe ihn samt Manuskriptstapel vor die Tür gesetzt. Schön, ich gebe zu, das war kein feiner Zug, und ich bin auch nicht stolz darauf. Aber zu meiner Verteidigung: Ich wusste ja nicht, dass er die Sache mit der tödlichen Krankheit ernst meinte. Benjamin brachte andauernd solchen Mist – erfand Krankheiten, Räumungsaufforderungen oder Todfeinde, um seinen Willen durchzusetzen. Wahrheit war für ihn etwas, mit dem sich nur die Fantasielosen herumplagen mussten. Als ich ihn einmal mit seinen Lügengeschichten konfrontierte, da sagte er: »Ich lüge nicht, ich erzähle Geschichten.« Auf meine Frage, was der Unterschied sei, antwortete er: »Eine Lüge verfälscht die Tatsachen aus egoistischen Gründen. Eine Geschichte beleuchtet die Tatsachen aus einem anderen Blickwinkel, um eine tiefere Wahrheit aufzudecken.« Ja, solchen geschwurbelten Stuss konnte er von sich geben, ohne rot zu werden.

Aber dieses eine Mal hatte er keine Geschichte erzählt. Ein paar Wochen darauf wurde ich über seinen Tod benachrichtigt. Der metastasierende Darmkrebs hatte ihn dahingerafft. Ein wenig überkam mich bei dieser Nachricht dann doch ein Anflug von schlechtem Gewissen, aber mal ehrlich. Es war nicht meine Schuld! Wie in diesem Märchen über den Jungen, der immer »Wolf« schreit, hat Benjamin mich einmal zu oft belogen und dafür seine Strafe erhalten.

Verdammter Idiot.

Ticktockticktock.

Wieder wird mein Blick von dem Apparat angezogen. Bestimmt habe ich Benjamin mit meiner Abfuhr nicht glücklich gemacht. Aber würde er mir tatsächlich noch über den Tod hinaus grollen? Es ist ja nicht so, dass er sonderlich viel von seinem Racheakt hätte – keine Schadenfreude, keine Befriedigung. Aber wann hat Benjamin sich jemals logisch verhalten?

Ich beuge mich über das Kästchen. Nehme es in die Hand, neige es von einer Seite zur anderen. Das Ticken wird schneller. Hastig stelle ich es wieder an seinen Platz. Kommt es mir nur so vor oder ist etwas Kleines darin verrutscht, als ich es bewegt habe? Ich gehe davor in die Hocke. Schnuppere daran. Merke im nächsten Moment, wie lächerlich ich mich verhalte. Ich bin kein verdammter Bombenspürhund, und selbst wenn mein Geruchssinn besser wäre, was erwarte ich zu riechen? Den Code?

Ticktockticktock.

Verstohlen wische ich mir eine Schweißperle ab, die auf meiner Nasenspitze kitzelt.

Wenn Benjamin denkt, ich spiele sein krankes Spiel ohne Gegenwehr mit, hat er sich geschnitten. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Es ist denkbar einfach, was ich nun tun muss: Ich werde die Nachlassverwalterin anrufen, ihr sagen, dass ich mich versehentlich im Keller eingesperrt habe und sie bitten, mir von außen zu öffnen. Kein Drama. Dass Benjamin diese simple Lösung nicht vorausgesehen hat, wundert mich nicht, er hat ja noch nie in der Gegenwart gelebt.

Mein Gesicht entgleist, als mein Blick auf das Display fällt. Kein Empfang, nicht einmal ein winziger Balken. Es ist wie in einem dieser miesen Filme, die ich manchmal spätnachts laufen lasse, wenn ich nicht einschlafen kann.

»Mistding«, zische ich meinem Handy zu, obwohl das Gerät eigentlich völlig unschuldig ist. Die wahren Übeltäter sind wohl die gut isolierten Kellerwände.

Vielleicht werfe ich doch mal einen Blick in die Kartons mit den Geschichten. Kann ja nicht schaden, richtig? Und wie es aussieht, werde ich hier sowieso nicht so bald rauskommen. Da kann ich mir eigentlich genauso gut was zum Lesen nehmen.

Es sind insgesamt drei Kartons, kaum größer als Schuhschachteln. Am Rand sind sie mit Benjamins fast unleserlicher Sauklaue beschriftet. Auf einer Schachtel steht »Märchenhaft«, auf einer »Abenteuerlich« und auf der letzten »Unheimlich«. »Märchenhaft« klingt am wenigsten anstrengend zu lesen, damit sollte ich wohl am schnellsten durch sein. Ich setze mich auf einen Stuhl, hebe die Schachtel auf meinen Schoß und nehme den Deckel ab. Zum Vorschein kommen mehrere Papierbündel, mit Heftklammern fein säuberlich zusammengehalten. Ich unterdrücke ein Seufzen, als ich beim Durchblättern die eng bedruckten Zeilen sehe. So viel Schrift!

Ticktockticktock.

Na gut, es hilft ja nichts. Vielleicht habe ich ja Glück und finde den Code schon in der ersten Geschichte. Oder wenigstens in der ersten Schachtel.

Ich will bereits mit dem ersten Bündel anfangen, da kommt mir eine brillante Idee. Bestimmt hat Benjamin diese Reihenfolge nicht ohne Grund ausgesucht; er will, dass ich das oberste Bündel als Erstes greife. Ich wette, es war sein Plan, dass ich so viele Geschichten wie möglich lese, bevor ich nach draußen gelange. Der Code ist also in einem der letzten Bündel – völlig logisch. Aber so leicht lasse ich mich von ihm nicht foppen!

Ich wühle mich in der Schachtel nach unten und zerre die Geschichte heraus, die auf dem Boden des Kartons liegt. Dass ich dabei einige Eselsohren produziere, verschafft mir eine grimmige Befriedigung.

Mit dem unheilvollen Ticken im Ohr fange ich an zu lesen.

Tod des Verlegers

Подняться наверх