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ОглавлениеHerzen und
Mondsteine
Renée Engel
Neugierig drückte sie die Nase gegen das Fenster. Das spärliche Licht des Winternachmittags reichte nur wenige Meter in den Laden, vorbei an nahezu antiken Holzregalen rechts und links, in dem sich zerfledderte Bücher, alte Töpfe und Holzspielzeug stapelten.
Unsicher schob Marleen eine Strähne hinter das Ohr und trat ein paar Schritte zurück. Bestimmt war sie schon hundertmal an dieser schmalen Gasse vorbeigekommen, ohne sie zu beachten. Sie war so eng, dass der Übergang vom Bürgersteig zur Straße lediglich durch eine gemauerte Rinne markiert wurde, durch die das Regenwasser ablief. Kopfsteinpflaster machte den Boden uneben und das Gehen mühsam. Die ganze Straße wirkte dermaßen aus der Zeit gefallen, dass Marleen nicht mal über Gaslaternen als Beleuchtung überrascht gewesen wäre.
Ihr Blick kletterte die Fassade hinauf. Kleine Erker hier und da versperrten dem Licht den Weg, und stumpfe Fenster starrten blind auf die gegenüberliegende Hauswand. Kein Anwohner kontrollierte, wer sich in dieses abgelegene Viertel verirrt hatte, keine Gardine bewegte sich. Einzig die Briefkästen, die nicht überquollen, deuteten auf einen Rest von Leben.
Der Laden bot das gleiche, trostlose Bild. Der Zahn der Zeit hatte am Putz und einem Teil der Hausnummer genagt, und der verbliebene Rest war so dunkel, dass er mit der schmutzigen Fassade quasi verschmolz.
Ein letztes Mal suchten ihre Augen nach Hinweisen, ob sie wirklich an der richtigen Adresse stand. ALBERT NICOLAS MONDSTEIN, AN- UND VERKAUF, stand in grauen Lettern auf der vor Schmutz nahezu undurchsichtigen Scheibe. Der Name, der sie aus dem Albtraum, zu dem ihr Leben geworden war, befreien sollte.
Was ist jetzt? Reingehen oder verschwinden?, dachte sie.
Der Wind trieb ein paar tote Blätter vor sich her, vereinzelte Schneeflocken trudelten zu Boden. Ihre Fingernägel waren blau vor Kälte. Seit Tagen hatte sie das Gefühl, nie wieder warm zu werden. Genaugenommen seit dem Morgen, als der Arzt meinte, es gäbe für Patrick keine Hoffnung mehr.
Damals hatte sich dieser Eisklumpen in ihrem Herzen gebildet, der mit jedem einzelnen Tag, der ungenutzt verstrich, weiter wuchs. Wie lange war das her? Sechs Tage? Eine Woche?
Eine Ewigkeit, wenn man dabei war, das Liebste zu verlieren, was man auf der Welt besaß.
***
Sanft strich sie über die eingefallene Wange. Man konnte förmlich zusehen, wie der Krebs ihm das Fleisch von den Knochen nagte. Die Chemos trugen ihren Teil dazu bei, einen ehemals sportlichen jungen Mann in ein bleiches Wrack zu verwandeln.
So viel hatten sie noch vorgehabt: die Tauchtour am Great Barrier Reef, der Segeltörn die Westküste Australiens hoch. Seit dem Studium hatten sie davon geträumt – und jetzt das.
Marleen schluckte. Nein, es ging nicht um Australien. Es ging um Patrick. Ihren Patrick, der seit Monaten um sein Leben kämpfte. Was würde sie nicht alles tun, um …
»Frau Hoffmann?«
Marleen schrak zusammen. Die blonde Schwester legte Marleen behutsam die Hand auf die Schulter. »Die Visite kommt gleich.«
»Was? Oh ja, natürlich.« Zögernd stand sie auf. »Wissen Sie schon etwas von dem neuen Medikament? Doktor Kurz wollte sich mit einer Klinik in den USA in Verbindung setzen.«
Die Schwester sah sie aus großen, blauen Augen an. Das Namensschild mit der Aufschrift Schwester Susanne hob und senkte sich gleichmäßig auf ihrem ausladenden Busen.
»Ich darf Ihnen darüber keine Auskunft geben. Fragen Sie bitte Doktor Kurz. Nach der Visite hat er sicher Zeit für Sie. Sie können draußen warten. Im Aufenthaltsbereich gibt es einen Kaffeeautomaten.«
»Ich weiß«, schnappte Marleen. Sie hasste das mütterliche Getue der Schwester, die gedämpfte Stimme, das beruhigende Lächeln; sie hasste es, weil sie es verabscheute, nur herumzusitzen und nichts unternehmen zu können.
Ihre Schuhe quietschten auf dem gebohnerten Linoleum. Der Aufenthaltsbereich bestand aus einer Sitzgarnitur mit abwaschbaren Polstern, einem niedrigen Tisch, einem mannshohen Hydro-Ficus und dem Kaffeeautomaten. Bei gutem Wetter genoss gelegentlich ein Besucher die Aussicht in den angrenzenden Park, doch diesmal hatte Marleen den Bereich für sich.
Mit einem Kaffee Latte in der Hand setzte sie sich ans äußerste Ende des Sofas und starrte aus dem Fenster. Der Latte schmeckte wässrig, aber er war heiß. In den letzten Wochen hatte sie gelernt, für die kleinsten Annehmlichkeiten dankbar zu sein. Immerhin durfte sie hier sitzen und schlechten Kaffee trinken, während Patrick …
Ihre Sicht verschwamm. Trotzig wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Fang bloß nicht an zu heulen!, schalt sie sich.
»Geht es um Ihren Mann?«
Auch das noch! Eine Dame um die achtzig hatte sich in einem Sessel niedergelassen und schaute sie über die aufgeschlagene Tageszeitung hinweg an.
Marleen nahm einen Schluck, um die Tränen runterzuspülen, und schüttelte den Kopf. »Mein Verlobter«, sagte sie schroff und wandte sich wieder ab. Es war ihr egal, ob die Frau sie für unhöflich hielt.
»Das tut mir leid. Sie sind noch so jung«, plapperte die Alte weiter.
Marleen verdrehte die Augen. Mitleid war das Letzte, was sie jetzt ertragen konnte. Noch dazu von einer wildfremden Frau. Sie stand auf.
»Wissen Sie, mein Mann – Herbert – ist vor drei Wochen gestorben. Auf dieser Station.«
Marleen erstarrte.
Zum ersten Mal sah sie die Frau direkt an. Sie war klein, krumm und unglaublich faltig. Doch in ihren blauen Augen funkelte ein Feuer, das angesichts ihres Verlustes überraschte.
»Herbert hätte schon vor sechs Jahren gehen sollen, aber ich habe dem Tod ein paar Jahre abgetrotzt.« Sie zwinkerte Marleen zu.
»Sie haben – was?«
»Dem Tod ein paar Jahre abgeschwatzt. Doch jetzt war seine Zeit eben abgelaufen. Das macht aber nichts. Ich werde ihm bald folgen.«
Sie plauderte in dem Ton, in dem sie auch vom Gewinn des ersten Preises für das beste Käsekuchenrezept auf einem Hausfrauenbasar hätte erzählen können. Dabei lächelte sie glücklich, als stünde ihr eine aufregende Reise bevor.
»Sie können ihm helfen, Ihrem Verlobten. Wenn Sie ihn lieben.«
Trotz des Kaffees brauchte Marleen einen Moment, um den Sinn dieser Worte zu erfassen. »Wie bitte?«
Die alte Dame schob die Anzeigenseite über den Tisch und deutete auf eine kleine Annonce rechts unten in der Ecke.
Albert Mondstein, An- und Verkauf
Verschwenden Sie keine Zeit, horten Sie sie!
»Das ist ein Scherz!«, sagte Marleen.
Die Alte schüttelte den Kopf. »Sechs weitere Jahre mit meinem Herbert. Das verdanke ich Mondstein.«
Marleen schob die Zeitung zurück. »Vielen Dank. Aber ich vertraue doch lieber den modernen Therapien«, sagte sie.
Die Frau schien nicht beleidigt. »Wie Sie wollen«, meinte sie. Dann riss sie vorsichtig die Anzeige aus dem Blatt und hielt sie Marleen hin.
»Stecken Sie das ein. Na los! Denken Sie in Ruhe darüber nach, und wenn Sie nicht überzeugt sind, schmeißen Sie sie weg.«
Marleen wollte wieder ablehnen, besann sich dann aber eines Besseren. Was konnte es schon schaden, der Frau den Fetzen abzunehmen? Wenn es sie glücklich machte? Sie stopfte die Anzeige in ihre Hosentasche und die Alte nickte zufrieden.
»Frau Hoffmann?«
Doktor Kurz war von seiner Visite zurück. Er gab Marleen die Hand. Sofort suchte sie in seinem Gesicht nach dem Funken Hoffnung, den er nach dem letzten Besuch in ihr selbst entfacht hatte.
»Gehen wir ein paar Schritte?«, fragte er.
Schon an seinem Ton erkannte Marleen, dass er keine guten Nachrichten hatte.
»Sie werden das Medikament nicht bekommen!«, kam sie ihm zuvor.
Er blieb stehen und musterte sie einen Moment, dann nickte er resigniert. »Es war unsere letzte Hoffnung; aber die Behörden machen uns einen Strich durch die Rechnung. Es tut mir leid.«
Marleen blies die Luft aus. Sie hatte nicht mal bemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte.
»Das war‘s dann? Ich kann Patrick mit nach Hause nehmen – und ihm beim Sterben zusehen?«
Doktor Kurz setzte das Gesicht auf, das er vermutlich für trauernde Angehörige reserviert hatte. »Es gibt die Möglichkeit, ihn in ein Hospiz …«
Mit einer Geste schnitt ihm Marleen das Wort ab. »Nein! Vergessen Sie‘s. Patrick – er wird nicht sterben. Das werde ich nicht zulassen!«
»Aber Frau Hoffmann …«
Sie ließ ihn stehen und rannte beinahe den Flur hinunter.
Im Aufenthaltsbereich wischte eine Putzfrau zwischen den Sesseln.
»Hallo! Haben Sie die alte Dame gesehen, die eben noch hier saß?«, fragte Marleen aus einem Impuls heraus.
»Alte Dame? Ne. Ich habe gewartet, bis Sie weg waren, damit ich hier sauber machen kann. Von einer Dame hab ich nischt gesehen.«
Dann eben nicht, dachte Marleen und schaute in den Papierkorb. Sie war sicher, die alte Frau hatte die Zeitung in den Eimer geworfen.
»Haben Sie den Papierkorb geleert?«
»Na hör‘n Se mal. Ich hab gerade angefangen. Außerdem ist da doch eh nischt drin. Watt wollen Se denn?«
»Nichts. War nur eine Frage, danke.«
Sie tastete in den Hosentaschen nach der Anzeige, die die Frau ihr gegeben hatte. Das Papier knisterte beruhigend zwischen ihren Fingern.
Mein Leben bricht gerade auseinander und ich drehe komplett durch.
Sie wollte weg. Raus aus dem Krankenhaus, irgendwohin.
***
Eine kleine Glocke bimmelte aufgeregt, als sich die Tür öffnete, und noch einmal, als die Tür langsam wieder ins Schloss fiel.
Der Laden roch alt – wie eine Mischung aus feuchtem Keller und zugestelltem Dachboden, auf dem schon seit Jahren niemand mehr gewesen war. Sie wartete einen Moment, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, und auch darauf, dass jemand auftauchte, um sie in Empfang zu nehmen. Als nichts dergleichen geschah, wagte sie sich weiter vor.
»Hallo?«
Zögernd näherte sie sich dem altmodischen Verkaufstresen, die Dielen unter ihren Füßen knarrten protestierend. Um besser zu sehen, zog sie ihr Handy aus der Tasche und benutzte das Display als Taschenlampe. Der Strahl huschte über verblasstes Holzspielzeug, einen Globus und immer wieder Bücher, vom Alter gebeugt und zerfleddert. Porzellanpuppen mit aufgemalten Gesichtern glotzten sie vorwurfsvoll an, während sie von dem kalten LED-Licht geblendet wurde.
»Oh, verzeihen Sie, meine Liebe. Ich habe keinen Besuch erwartet.«
Die Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken wie Fingernägel auf einer alten Schultafel.
Marleen fuhr herum. Vor ihr stand ein Mann unbestimmten Alters. Seine hagere, hochaufgeschossene Gestalt steckte in einem Morgenmantel oder Kaftan. Jedenfalls in einem Kleidungsstück, das vor ihrer Zeit modern gewesen war. In das schmale Gesicht hatte die Zeit tiefe Furchen gefräst. Man hätte es aristokratisch nennen können, wenn die lange Nase und die kaum vorhandenen Lippen den Gesamteindruck nicht gestört hätten.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann.
»Sind Sie Herr Mondstein?«
Er nickte. »Albert Nicolas Mondstein. Zu Ihren Diensten.«
Marleen räusperte sich. »Gut. Ähm, ich komme wegen der Anzeige.« Mit zitternden Fingern legte sie die zerknitterte Annonce auf den Tresen, wo sie unbeachtet liegen blieb.
»Das heißt, eigentlich komme ich wegen der Frau im Krankenhaus«, fuhr sie fort. Was redest du da?
Der Mann zog die Brauen hoch und schwieg.
Sie begann zu schwitzen. »Also, es geht um meinen Verlobten. Patrick. Er liegt im Sterben, weil«, sie räusperte sich erneut, »Krebs. Im Endstadium. Und da war diese Frau, die sagte, dass Sie mir helfen können. Sie hätten ihr auch geholfen, mit Herbert. Damit er weiterlebt, verstehen Sie? Jedenfalls würde ich alles tun, alles. Weil – ich ihn liebe«, schloss sie lahm.
Der Mann betrachtete sie stumm. Eine Minute, zwei, ihr halbes Leben? Sie hätte es nicht sagen können.
Plötzlich lächelte er. »Wie sehr lieben Sie Ihren Verlobten?«
»Mehr als mein Leben!«, antwortete Marleen, und sie fühlte tief in ihrem Inneren, dass es stimmte.
»Ausgezeichnet!« Herr Mondstein rieb sich die dünnen Finger. »Dann habe ich etwas für Sie.«
Er verschwand in einem Nebenraum und kehrte kurz darauf mit einer kleinen Schmuckdose zurück. Andächtig öffnete er das Kästchen und hob eine silberne Kette heraus, an der ein weißer, zu einem Herzen geschliffener glitzernder Kristall hing.
»Was ist das?«, fragte Marleen, gefangen von der Reinheit des Steins.
»Das, meine Liebe, ist ein Mondstein.«
»Ein Mondstein? Er heißt wie Sie?«
»Umgekehrt. Ich habe mich nach diesem Stein benannt, weil er ein überaus seltenes, kostbares Exemplar ist. Genau wie ich.«
Er lachte über seinen eigenen Witz, während Marleen sich mit Mühe ein Schmunzeln abrang.
»Und wie soll der helfen?«
Er schaute sie an wie ein begriffsstutziges Kind. »Ich könnte Ihnen was von Meteoriten auf ihrem einsamen Weg durch das Universum erzählen, und von Sternengeburten, aber das wäre profan. Stattdessen spreche ich von einem Stein, geformt aus den Tränen des Nordwinds, gehärtet in den Feuern des Polarlichts und von solcher Seltenheit, dass seine Existenz allein an ein Wunder grenzt. Dabei ist das noch nicht alles.«
Schweigend sah er Marleen an, die darauf wartete, dass er weitersprach.
»Auf seinem Weg durch die Mysterien des Weltalls hat er eine einzigartige Kraft gesammelt, die einen immer wieder staunen lässt: das Leben selbst.«
Marleen sah ihn irritiert an. »Ich verstehe nicht«, bekannte sie schließlich.
Er lächelte. »Dieser Kristall«, er hielt das Herz mit Daumen und Zeigefinger gegen das Licht, sodass die Strahlen darin funkelnde Regenbogen gebaren, »dieser Stein konserviert das Leben selbst. Er speichert Lebenskraft. Geben Sie mir Ihre Hand.«
Zögernd streckte Marleen ihre rechte Hand aus. Überraschend kräftig schlossen sich seine knochigen Finger um ihr Handgelenk.
Er legte den Kristall auf den Tresen, zog eine Schublade auf und zog eine lange Nadel hervor.
Marleen zuckte zurück, doch er hielt sie fest.
»He? Was … Au! Sind Sie verrückt geworden?«
Blut quoll aus einem Loch mitten in ihrem Handteller, doch Mondstein ließ die junge Frau nicht los.
»Sind Sie vollkommen übergeschnappt?«
Schweigend ließ der Alte den Stein in ihre Hand gleiten und schloss ihre Finger darüber zur Faust.
»Was …?«
Er legte den knochigen Zeigefinger auf seine Lippen. »Lassen Sie uns teilhaben an den Mysterien des Universums.«
Da das offenbar die einzige Antwort war, die er zu geben gedachte, blieb Marleen nichts übrig, als zu warten. Sie spürte das Herz in ihrer Handfläche. Es pulsierte warm, als wäre es lebendig. Ihre Handfläche pochte.
»Das dürfte reichen«, unterbrach er ihre Gedanken und ließ los.
Misstrauisch faltete Marleen die Finger auseinander und stieß einen kleinen Schrei aus. Ihre Handfläche war nicht blutverschmiert, wie sie erwartet hatte. Stattdessen leuchtete das Herz, das sie für einen einfachen Bergkristall gehalten hatte, in reinem, klarem Rubinrot. Der Alte nickte zufrieden.
»Das ist unmöglich. Ich meine, wo ist das Blut? Ist das ein Trick? Ich verstehe nicht …«
»Sie halten das für einen Trick? Ah ja! Sie denken an diese Metalle, die ihre Farbe je nach Temperatur ändern. Das ist Kinderkram! Dieser Stein jedoch«, wieder schloss er ihre Finger um den Anhänger, »dieser Stein hat Ihre Lebenskraft aufgenommen.«
Marleen öffnete den Mund, doch er hielt abwehrend die Hand in die Luft. »Nicht alle. Fünf Jahre, würde ich schätzen. Solange Ihr Verlobter diesen Stein trägt, wird Ihre Kraft, Ihre Lebensenergie, auf ihn übergehen. Fünf Jahre, die Sie Ihrem Patrick geschenkt haben, und die Sie kürzer leben werden.«
»Fünf Jahre, die ich ihm geschenkt habe«, flüsterte sie. Ungläubig strich sie über den Handteller, in dem die Wunde weder zu sehen noch zu fühlen war. Ein Stück Leben, das dir genommen wurde, raunte eine kleine, böse Stimme in ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, als müsste sie eine lästige Mücke verscheuchen.
»Also, der Kristall ist mit meinem Blut – meinem Leben? – rot geworden? Was, wenn ich ihn …?«
»Er wird dunkler, je länger Sie ihn in der Hand halten, ja. Und umgekehrt …« Er brach ab.
»… verblasst er, je mehr von dem darin gespeicherten Leben verbraucht ist«, beendete Marleen den Satz. »Wie eine Batterie.«
Er nickte.
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das war – ungeheuerlich! Wahnsinnig und furchtbar zugleich.
»Sie sind ein Monster«, flüsterte sie. »Das heißt: Ich schenke ihm fünf Jahre und müsste dafür dabei zusehen, wie sein Leben wieder zu Ende geht? Noch einmal könnte ich das nicht ertragen!«
»Es liegt an Ihnen, diese Batterie wieder aufzuladen«, bemerkte er kalt.
»Und jedes Mal verliere ich einen Teil meiner eigenen Lebensjahre?«
Er lachte. »Sie waren bereit, für ihn zu sterben. Nun, das werden Sie. Aber schließlich sterben wir alle irgendwann. Sie eben ein bisschen früher, als die Natur vorgesehen hatte.«
Das blutrote Herz lag in ihrer Hand wie eine offene Wunde. Heiße Wellen schossen durch ihren Körper.
»Das … ist grotesk! Abnorm! Ich gebe ihn zurück. Hören Sie? Ich will ihn nicht. Ich mache den Deal rückgängig.«
Sie legte den Anhänger auf die Theke.
Er schüttelte den Kopf. »Einen Vertrag, der mit Blut geschlossen wurde, kann man nicht einfach auflösen. Sie müssen den Stein zertrümmern, wenn Sie Ihre Jahre zurückhaben wollen. Doch in dem Fall …«, er kam um den Tresen herum und baute sich unmittelbar vor ihr auf, »… würde Ihr Geliebter umgehend sterben.«
Was habe ich getan?
Sie wich zurück, bis sie das Regal im Rücken spürte. Mondstein beobachtete sie mit kalten, schwarzen Augen, als wäre sie eine Fliege in seiner Suppe.
Du feilschst mit dem Tod. Hast du erwartet, er würde es dir leicht machen?, raunte die kleine Stimme in ihrem Kopf. Patrick wird leben, nur das zählt!, widersprach eine andere. Wenn er hört, was du für ihn getan hast …
Auf dem Gesicht des Alten breitete sich ein Grinsen aus wie ein Pilzgeflecht, das nur die Augen freiließ. »Bevor ich es vergesse: Sie dürfen Ihrem Verlobten keinesfalls von unserem kleinen Abkommen erzählen. Niemals, das wäre sein Tod. Und die Jahre, die in dem Stein gespeichert sind«, er richtete seinen spitzen Zeigefinger auf Marleen wie einen Dolch, »diese Jahre gehören dann mir!«
Marleen kämpfte eine Welle von Übelkeit nieder, als ihr das wahre Ausmaß ihres Handels bewusst wurde. »Davon leben Sie, richtig? Von verzweifelten Menschen, enttäuschter Liebe und von Geheimnissen, die nicht lange geheim bleiben«, wisperte sie.
Er zuckte die Schultern. »Unterschätzen Sie niemals die menschliche Eitelkeit.«
»Wer. Sind. Sie?«
Er schlenderte zu seinem Tresen zurück. »Das wollen Sie nicht wissen. Nur so viel: Ich handle mit Zeit. Eine Ressource, die Menschen zuweilen reichlich geschenkt wird, und die sie wenig zu nutzen wissen. Auch Sie werfen etliche Jahre weg, weil Sie einem Traum hinterherjagen. Aber ein ganzes Leben ist eine verdammt lange Zeit, um ein Geheimnis zu bewahren. Deshalb wird auch Ihre Lebenskraft am Ende mir gehören.«
»Niemals!«, schrie Marleen. »Sie haben keine Ahnung von echter Liebe, Sie, Sie Zeitvampir!«
Er lachte. »Glauben Sie mir: Wahre Liebe ist noch viel seltener als Mondsteine, deshalb gewinne ich am Ende immer.«
Marleen schnappte den Stein vom Tresen und jagte zur Tür hinaus, verfolgt von dem krächzenden Lachen eines Monsters, dem sie Patricks und ihr Leben zum Fraß vorgeworfen hatte.
***
Übermütig warf sie die Tür hinter sich zu.
»Patrick? Ich war im Reisebüro. Schau mal, lauter Prospekte über Australien. Du, das wird fantastisch. Patrick?«
Drei Monate waren seit seiner Spontanheilung vergangen. Jeden Tag kontrollierte Marleen, ob er den Glücksbringer trug, wie sie den Stein nannte. Mit den Haaren kehrte auch sein Lebensmut zurück, und doch – manchmal erschien es Marleen, als würde sich langsam eine Wand zwischen ihnen aufbauen, die mit jedem Tag höher wurde.
Mit einem Geschirrtuch in der Hand kam er aus der Küche. »Marleen, ich muss mit dir reden. Setz dich bitte.«
»Du bist so ernst. War was bei der Nachsorge? Musst du wieder ins Krankenhaus?«
Er schüttelte den Kopf, wich ihrem Blick aber aus. »Nein, alles in Ordnung. Die Ärzte sprechen von einem Wunder, einem geschenkten Leben. Genau das ist es, worüber ich mit dir reden möchte.«
Behutsam legte sie die Prospekte auf den niedrigen Wohnzimmertisch und sank in einen Sessel. Das einsetzende Dröhnen ihres Pulses in ihren Ohren ignorierte sie.
»Die Ärzte sprachen von einer zweiten Chance. Das stimmt. Ich hatte im Krankenhaus genug Zeit, mir Gedanken zu machen. Es ist doch so: Australien … das war eigentlich immer dein Traum, nicht meiner. Und mir ist klar geworden, dass ich viel lieber eine Familie gehabt hätte.«
Patricks Worte tropften wie Salzsäure in ihre Gedanken, wo sie den Traum von Sand und Meer unaufhaltsam zerfraßen und eine stinkende Pfütze zurückließen. »Du – Familie? Seit wann das denn? Und du willst Vater werden? Auf einmal? Wie? Du weißt genau, dass ich keine Kinder haben kann - haben will, das war für dich immer in Ordnung. Und plötzlich ist alles anders? Du hast mich die letzten Monate glauben lassen, alles wird wieder gut, und jetzt heißt es: April, April? Antworte mir!«
Das Tuch in seinen Händen zitterte leicht. »Es tut mir leid. Das Leben kann überraschend schnell vorbei sein, das weiß ich jetzt. Daher will ich keine Minute mehr davon verschwenden. Ja, ich will Papa sein.« Er zögerte einen Moment und schluckte schwer, bevor er sich verbesserte: »Ich werde Papa sein.«
Die einsetzende Stille konnte man fast mit Händen greifen. Marleens Gehirn weigerte sich, die letzten Worte ihres Verlobten zu verarbeiten. Schließlich würgte sie nur ein Wort hervor. »Wer?«
Er sah sie unglücklich an. »Bitte, Marleen, das spielt doch keine Rolle. Ich habe mich neu verliebt, und ich werde neu anfangen. Mach es uns nicht unnötig schwer.«
»Wer?«, wiederholte sie.
»Du kennst sie: Susanne. Schwester Susanne, wenn du es genau wissen willst.«
Marleen nickte, als hätte sie genau das erwartet. Sofort hatte sie die kleine, pummelige, blonde Schwester vor Augen, mit ihrem mütterlichen Gesicht. Doch schnell verwandelte sich das Gesicht in eine abstoßende Fratze mit tiefen Falten, die sie hämisch angrinste. Ein ganzes Leben ist eine verdammt lange Zeit, um ein Geheimnis zu bewahren.
Sie rannte ins Badezimmer und übergab sich.
»Marleen, alles in Ordnung?« Patrick klopfte an die Tür.
Klar ist alles in Ordnung. Ich habe dir buchstäblich Jahre meines Lebens geopfert. Aber das darf ich dir nicht sagen, weil du sonst tot umfällst, und das war es dann mit dem trauten Babyglück.
Sie lehnte sich an die Tür und weinte. Ihr ganzer Körper schien plötzlich nur noch aus Tränen zu bestehen.
Er klopfte erneut. »Es tut mir leid. Du musst das verstehen. Ich liebe Susanne. Wir werden heiraten.«
Sie schnaubte verächtlich. »Du hast keine Ahnung.«
»Was hast du gesagt?«
Sie riss die Tür auf. »Ich sagte: Du hast überhaupt keine Ahnung, was es heißt, jemanden zu lieben! Du weißt nicht, was es bedeutet, ein Leben lang für jemand anderen verantwortlich zu sein!«, schrie Marleen verzweifelt. »Du Arschloch!« Ihre Stimme überschlug sich.
Patrick stand da wie vom Donner gerührt. Behutsam streckte er die Hand nach ihr aus.
»Fass mich nicht an!«, keifte sie. »Nie mehr! Hau ab! Geh!«
»Marleen …«
»Verschwinde!«
Wortlos schnappte er sich seine Jacke. Bevor er ging, legte er den Wohnungsschlüssel und den Glücksbringer auf den Tisch.
Mit brennenden Augen starrte Marleen den Mondstein an. »Du bist schuld«, zischte sie. »Mit dir hat alles angefangen. Ich werde dich vernichten, du verdammtes Stück Dreck!«
Sie räumte die unterste Küchenschublade aus, bis sie den Hammer gefunden hatte. Er wog wohltuend schwer in ihrer Hand.
***
»Wie geht es ihm heute?«
»Unverändert. Leider.«
Die blonde Frau nickte. Leise öffnete sie die Tür zum Krankenzimmer, in dem Patrick lag, hilflos an Schläuche gefesselt und wieder abgemagert bis auf die Knochen.
Ächzend wuchtete sich die Frau mit ihrem Babybauch auf die Bettkante und strich dem jungen Mann zärtlich über die Wange. Seine Lider flatterten.
»Susanne.« Er versuchte ein Lächeln.
»Streng dich nicht an, Liebster«, meinte sie. »Ich bin nur kurz da, weil wir gleich einen Termin im dritten Stock haben, die Zwillinge und ich.«
Er lächelte und legte die Hand auf ihren Bauch. »Hallo, ihr zwei.«
Möglichst unauffällig wischte sich die Blonde eine Träne aus dem Auge. »Ich wollte dir nur schnell die Post bringen. Hier, ein Päckchen von Marleen. Soll ich es aufmachen?«
»Bitte«, krächzte er.
Sie öffnete das Päckchen und ein kleiner Anhänger an einer silbernen Kette rutschte heraus. Der Stein war schwarz wie die Nacht, mit einem eigentümlichen, lebendigen Feuer.
»Hier ist noch ein Brief«, erklärte Susanne.
»Lies … lies vor.«
Mein lieber Patrick,
ich habe von deinem Rückfall gehört, und es tut mir so leid. Ich würde Dir gerne helfen, aber wie damals könnte ich wieder nur versuchen, Dir bei deinem Kampf beizustehen. Eine Aufgabe, die Susanne übernommen hat.
Daher möchte ich Dir, als Erinnerung an alte Zeiten, den Mondstein schenken. Auch wenn Du es für Aberglauben hältst: Einmal hat er schon geholfen, daher tu mir bitte den Gefallen und trag ihn!
Nicht, um Dich an mich zu erinnern, oder weil ich mich in Dein Leben drängen will. Sondern um Deiner Familie, um des Babys willen. Trag ihn! Jeden Tag! Wundere Dich nicht, wenn der Stern im Laufe der Jahre immer heller wird, das ist normal.
Ich gehe nach Australien und lebe meinen Traum, wir werden uns also nicht wiedersehen. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles Gute und viele glückliche Jahre.
Marleen
»Ich glaube, sie hat dir verziehen. Hoffentlich findet sie ihre große Liebe noch und wird so glücklich wie wir«, meinte Susanne.
»Ja, hoffentlich«, hauchte Patrick und nahm die Hand seiner Frau.