Читать книгу Yoga ist ein Arschloch - Christine Bielecki - Страница 9
OM STATT OMEPRAZOL? Klischee: Yoga heilt alle Krankheiten.
ОглавлениеDas stimmt nicht. Auch in Tibet und Mysore gehen die Menschen zu einem Arzt, wenn sie krank sind. Wann Yoga trotzdem helfen kann.
Das Buch Licht auf Yoga ist erstmals 1966 erschienen und gilt bis heute als das Lehrbuch des Hatha-Yoga. Es ist in 17 Sprachen übersetzt worden und ein absoluter Bestseller. Der Autor B. K. S. Iyengar wurde vom Time Magazine 2004 zu einem der einflussreichsten Männer der Welt gekürt. 2014 verstarb Iyengar im Alter von 95 Jahren. „Wer Yoga übt, entfernt das Unkraut aus dem Körper, so dass der Garten wachsen kann“, hat er über Yoga gesagt. Nun gut, das mag sich zunächst etwas seltsam anhören. Aber es stimmt. Wie viel Unkraut wir alle in unserem Körper tragen, lässt sich alleine schon daran erkennen, dass uns permanent Gedanken und Bilder durch das Hirn rasen, die zum Teil nicht einmal Sinn ergeben. Man könnte jetzt natürlich sagen, na und? Wo ist das Problem? Aber dieses ständige Kopfkino ist anstrengend. Unkraut haftet generell etwas Störendes an. Das gilt auch für das Unkraut im Kopf, das man auch einfach Stress nennen könnte.
Wir haben es verlernt, unserem Kopf eine Pause zu gönnen. Oder uns so sehr nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren, dass unserem Gehirn vor lauter Gedankenquatsch nicht schwindelig wird. Doch Yoga schafft das: dass wir uns voll konzentrieren und für einige Momente einmal an rein gar nichts denken. Das geht wirklich und ist sehr … sagen wir einmal „befreiend“. Das ist das, was Menschen meinen, wenn sie sich nach einer Yogastunde so gut fühlen, aber nicht erklären können, warum. In Wirklichkeit passiert etwas in unserem vegetativen Nervensystem, das für viele von uns nur sehr schwer zu fassen ist. Und das ist der Zauber von Yoga. Neben den verschwindenden Rückenschmerzen natürlich und der neuen Beweglichkeit, den wachsenden Bauchmuskeln und dem besser definierten Gluteus Maximus – den Nebenwirkungen also, die eine regelmäßige Yogapraxis beispielsweise noch so mit sich bringt.
Es gibt eine Illustration von Janosch. „Herr Janosch, Herr Janosch: Wie heilt man sich selbst?“, steht da über dem Mann in der tigerentengestreiften Latzhose, der auf dem Kopf steht. „Kopfstand. Das ist Yoga, alles wird umgekehrt, und oben wird unten, und kaputt wird voll gut“, ist Janoschs Antwort. Das ist sehr süß und eine schöne Definition für diejenigen, die wie ich der Meinung sind, dass es manchmal hilft, seine Welt auf den Kopf zu stellen. Es erklärt aber nicht alles. Der Essener Psychologe und Mediziner Dr. Holger Cramer bezeichnet Yoga als starke, konzentrierte Hinwendung zum Körper. Das trifft es ziemlich genau. Man achtet einfach besser darauf, was im Körper geschieht. Dass Yoga Auswirkungen auf unseren Körper haben kann, ist vielen Wissenschaftlern nicht entgangen, und daher gibt es mittlerweile unzählige Studien, die sich damit beschäftigen. Spätestens, als Maharishi die Beatles in den 1960er Jahren in die Geheimnisse der Transzendentalen Meditation einweihte, begann auch die westliche Schulmedizin, sich für fernöstliche Methoden zu interessieren. Heute gibt es zum Glück viele Studien über die positiven Eigenschaften von Yoga. Nachzulesen sind sie beispielsweise im Internet auf Pubmed.com, einer Meta-Datenbank mit medizinischen Artikeln.
Vor allem in den USA wird mehr und mehr Geld in die Yoga-Forschung gesteckt. Und hierzulande zieht man nach. Manche Yogakurse werden von Krankenkassen bezuschusst – jeder, der mit Yoga beginnt, sollte sich über diesbezügliche Möglichkeiten informieren –, und das hat verschiedene Gründe. Beigetragen hat dazu unter vielen anderen Dr. Holger Cramer. Auch er beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Studien zum Thema Yoga. Für ihn hat sich bestätigt, dass Yoga eine wirksame Methode gegen Rücken- und Nackenschmerzen ist. Dabei scheinen vor allem körperbetonte Yogaformen wie Iyengar-Yoga oder Viniyoga wirksam zu sein. Die bislang durchgeführten Studien deuten darauf hin, dass Yoga nicht nur vorbeugend, sondern auch schmerzlindernd und heilend auf Nacken- und Rückenprobleme wirken kann. Das liegt daran, dass Yoga die Muskulatur gerade in diesen Bereichen aufbaut, was wiederum dafür sorgt, dass wir eine bessere Haltung einnehmen können.
In einer seiner Studien fand Cramer heraus, dass bereits neun Wochen regelmäßigen Yogaunterrichts chronische Nackenschmerzen lindern können. Er beobachtete zwei Gruppen, die beide täglich zehn Minuten Rückenübungen zu Hause absolvierten. Eine Gruppe aber praktizierte zusätzlich zusammen mit einem zertifizierten Yogalehrer und Physiotherapeuten einmal in der Woche Iyengar-Yoga. Beide Gruppen berichteten nach neun Wochen über geringere Nackenschmerzen, aber die Yogagruppe war deutlich erfolgreicher. Ihre Teilnehmer fühlten sich mobiler und zeigten durchgehend eine allgemein verbesserte Lebensqualität. Yoga erlebten sie als Stressmanagement- und aktive Selbsthilfestrategie, mit der sie in belastenden Situationen Schmerz lindern oder sogar vorbeugen konnten. Einige Patienten konnten dadurch sogar den Gebrauch von Schmerzmitteln reduzieren.
Durch ihr neues Körperbewusstsein begannen die Patienten zudem, bewusst auf ihre Körperhaltung zu achten und Fehlhaltungen zu verändern, wodurch sie den Schmerzen weiter entgegenwirkten. Sie erkannten ihre Grenzen besser und waren eher bereit, diese zu respektieren. „Gerade bei Nackenschmerzen gehen oft Haltungsprobleme mit einher. Dadurch werden die Nackenschmerzen natürlich noch schlimmer“, erklärt Cramer. „Die Patienten unserer Studie, die Yoga machten, konnten im Alltag plötzlich auch besser auf ihre Körperhaltung achten. Sie spürten beispielsweise, wenn ihre Schultern zusammenfielen, und achteten dadurch mehr darauf, wieder eine gute Haltung einzunehmen.“ Natürlich hilft allein schon die richtige Haltung bei Nacken- und Rückenschmerzen ein wenig weiter.
Gerade bei Beschwerden wie Rückenschmerzen kann Yoga helfen – auch älteren Menschen.
Nackenschmerzen sind in unserer Gesellschaft ein Volksleiden geworden. Wir sitzen zu viel, vorwiegend am Computer, schlafen in unbequemen Positionen und vernachlässigen unsere Körperhaltung. Wer von uns achtet schon darauf, dass die Schultern beim Gehen nicht hängen, dass der Rücken beim Sitzen nicht krumm ist oder dass das Becken beim Stehen in der richtigen Position ist – nämlich leicht aufgerichtet und nicht vor den Schultergürtel geschoben? Deswegen ist es so wichtig, sich damit auseinanderzusetzen.
„Bei Rücken- und Nackenschmerzen hilft es grundsätzlich, sich zu bewegen“, sagt Cramer. Das wisse man heute. „Prinzipiell ist es egal, wie man sich bewegt, aber beim Yoga kommt noch der soziale Aspekt hinzu, ohne dass ich, wie bei anderen Sportarten, mit meinen Mitstreitern in Konkurrenz treten muss.“ Zusätzlich habe Yoga einen starken Entspannungseffekt, und gerade das sei ein wichtiger Punkt, wenn es um Rücken- oder Nackenschmerzen gehe. „Patienten mit Rücken- und Nackenschmerzen müssen oft noch mal lernen, wie sie sich entspannen können, weil die Schmerzen eine permanente Spannung erzeugen.“ Yoga kombiniert Bewegung und Entspannung, und genau das macht es so wertvoll.
Das Karolinska Institutet in Stockholm hat in einer weiteren Studie festgestellt, dass Yoga zu den kostensparendsten Methoden zählt, Rückenschmerzen im unteren Bereich der Wirbelsäule zu behandeln. Kein Wunder also, dass Krankenkassen Yogakurse so gerne bezuschussen. Mittlerweile gebe es auch vielversprechende Studien zum Thema Osteoporose, berichtet Cramer. „Einige dieser Studien zeigen, dass Yoga die Knochendichte verbessern kann.“ Wenn es darum geht, Osteoporose vorzubeugen, ist Bewegung, also sportliche Betätigung, ohnehin gut. Für Menschen, die bereits an Osteoporose leiden, mag das nicht wie die richtige Lösung klingen. Hier können Bewegungstherapien wie Yoga aber die motorischen Fähigkeiten und die Balance merklich verbessern.
Cramer hat außerdem herausgefunden, dass Yoga körperliche und psychische Akut- und Spätfolgen von Brustkrebserkrankungen lindern kann. „Wie man weiß, ist starke Erschöpfung oft eine Begleiterscheinung der Brustkrebserkrankung, aber auch eine mögliche Nebenwirkung der Chemotherapie. Hier kann Yoga helfen. Was wir ebenfalls kürzlich in einer Studie herausgefunden haben, ist, dass Yoga bei menopausalen Beschwerden hilft. Brustkrebspatientinnen müssen häufig antihormonelle Medikamente einnehmen, die frühzeitig Wechseljahrbeschwerden auslösen können. Diesen kann Yoga entgegenwirken. Es ist aber wichtig, zu erkennen, dass Yoga keinesfalls eine Alternative zur Chemotherapie ist. Yoga lindert Begleiterscheinungen von Krebs oder Therapie, ist aber kein Heilmittel für Krebs. Yoga erhöht lediglich die Lebensqualität von Brustkrebspatienten.“ Yoga ist also als unterstützende Therapie zu sehen. Studien zeigen zudem, dass Yoga auch gesunden Frauen mit Wechseljahrbeschwerden als Hormontherapie helfen kann. Mit gewissen Yogaübungen in Verbindung mit einer speziellen Atemtechnik können Eierstöcke, Schilddrüse und Hypophyse stimuliert werden. Diese Übungen regen so die Hormonerzeugung auf natürliche Weise an.
Ebenfalls erwiesen ist, dass Yoga Angst und Stress reduzieren kann, da es den Spiegel von Cortisol, einem Stresshormon, im Blut senkt. Die Boston University School of Medicine untersuchte außerdem den Zusammenhang zwischen Yoga und Gamma-Aminobuttersäure-Konzentration im Gehirn. Gamma-Aminobuttersäure (kurz GABA) ist ein Botenstoff, der Angst und Stress lindert, indem er unsere Gedanken beruhigt. Es wird vermutet, dass Depressionserkrankungen mit einem niedrigen GABA-Spiegel zusammenhängen, da Menschen, die an Depressionen oder Angsterkrankungen leiden, meist weniger GABA als gesunde Menschen haben. Die Studie kam nun zu dem Ergebnis, dass bei Menschen, die regelmäßig Yoga trieben, der GABA-Spiegel durchschnittlich um 27 Prozent anstieg. Dieser Anstieg erklärt auch das Glücksgefühl nach einer Yogastunde, das viele Yogis kennen. Besonders Yogaübungen, die der Körperaufrichtung dienen, können Depressiven helfen. Diese Asanas, so nennt man die Körperstellungen im Yoga, sind stimmungshebend – was wahrscheinlich wiederum mit GABA in Zusammenhang zu bringen ist.
Yoga hat noch eine ganze Reihe weiterer nützlicher „Nebenwirkungen“. Es erhöht beispielsweise die Reaktionsfähigkeit und verhilft zu einem besseren Körperbewusstsein – nicht nur in der Yogastunde. Ein besseres Körperbewusstsein? Das mag ziemlich abgehoben klingen, fast so wie Unkraut im Körper. In der Tat ist es aber extrem praktisch, denn unser Körper ist unwahrscheinlich intelligent. Wenn wir ihm nur mehr zuhören würden, ließe sich so manches verhindern. Schmerzen etwa sagen uns immer, dass irgendetwas nicht stimmt. Es liegt dann aber an uns, etwas mit dieser Information anzufangen. Ein gutes Körperbewusstsein kann da ziemlich hilfreich sein. Wer regelmäßig Yoga treibt, lernt, sich auf seinen Körper einzulassen und ihm auch zuzuhören. Denn bei Yoga geht es nicht um schneller, höher, weiter. Das ist einer der Unterschiede zu anderen Fitnesskonzepten oder Sportarten. Yoga sollte frei von Konkurrenzdenken sein. Es geht um den eigenen Körper, darum, sich wohlzufühlen – auch wenn man das bei manchen Dehnhaltungen kaum glauben mag.
2013 erschien im Geo-Magazin eine 23-seitige Reportage darüber, „was Yoga kann“. Einige der oben genannten Studien werden auch dort zitiert. Die Autorin Hania Luczak ist nicht nur eine mehrfach preisgekrönte Journalistin, sie ist auch Biochemikerin und normalerweise niemand, der leicht durch Heilsversprechen zu beeindrucken ist. Sie mache einen großen Bogen um „räucherstäbchenselige Sinnfindungsinstitute“, schreibt sie in ihrem Artikel. Vielleicht haben deswegen bei diesem Bericht plötzlich viele aufgehorcht, die für Yogatreibende bisher nur mitleidige Blicke übrig hatten. Schließlich handelt es sich bei Geo um ein Magazin, das sich mit neuen wissenschaftlichen Trends beschäftigt und für seine ausführlichen und gut recherchierten Reportagen bekannt ist. Und eben hier war nun zu lesen, dass hinter Yoga mehr steckt als Räucherstäbchenseligkeit.
Es ist kein Geheimnis, dass Stress krank machen kann. Bei bis zu 80 Prozent aller Krankheiten sollen Stress und ein damit verbundener ungesunder Lebensstil ursächlich oder beteiligt sein, schreibt Luczak. Durch Meditation, bestimmte Atemtechniken und Körperübungen lasse sich Stress zähmen. Dass Yoga auch bei Migräne helfen und Bluthochdruck senken kann, erfuhr die Journalistin von Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde im Immanuel Krankenhaus Berlin und Professor der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Was Yoga Sport voraus hat, ist die Kombination von Atemübungen, Meditation und Körperübungen. Alles gehört zusammen, und durch die Koppelung von Atmung und Übungen erreicht man viel. So lässt sich durch eine effektivere Atmung der Puls senken – das lässt sich ganz einfach ausprobieren, dazu muss man kein Yoga praktizierender Mönch sein.
Michalsen hat unter anderem herausgefunden, dass sich der Stresslevel von Menschen mit Herzerkrankungen und Bluthochdruck nach nur drei Monaten Yogatraining reduzierte. Auch Cramer forscht im Bereich Herzkreislauferkrankungen. Hier gäbe es noch vieles zu erkunden. Sicher sei allerdings, dass durch Yogatherapie der Blutdruck tatsächlich gesenkt werden könne. Doch er betont auch: „Yoga ist kein Ersatz für Medikation. Die Studienlage zeigt, dass mit Yoga der Blutdruck zusätzlich gesenkt werden kann. Auch Blutzuckerentgleisungen können durch Yoga verbessert werden. Und bei manifesten Herzerkrankungen, also beispielsweise bei Patienten, die einen Herzschrittmacher haben, hilft Yoga durchaus, die Lebensqualität zu verbessern. Es gibt Hinweise darauf, dass durch Yoga Vorhofflimmern verringert werden kann.“ Hier ist aber auch Vorsicht geboten. Yoga bedeutet in diesem Fall nicht, sich auf den Kopf zu stellen. Doch die richtigen Yogaübungen in Kombination mit einer gesunden Ernährung können bei Herzerkrankten erhebliche Gesundheitsfortschritte bewirken. Das vegetative Nervensystem wird ausbalanciert, das Herz schlägt plötzlich ruhiger, die Stresshormone werden gesenkt. Durch die Regulierung der Atemfrequenz auf unter 15 Atemzüge pro Minute hilft Yoga außerdem auch Asthmapatienten.
Nicht zuletzt machen die körperlichen Übungen uns fitter: Bänder, Muskeln, Gelenke und Faszien – die Bindegewebshüllen, von denen in letzter Zeit so häufig die Rede ist –, sie alle sind beim Yoga beteiligt. Natürlich können wir sie auch bei anderen Sportarten trainieren, aber die Bedeutung von Stretching und Dehnübungen wird von den meisten Sporttreibenden unterschätzt. Warum? Weil wir beim Sport gerne schnell sind. Das bringen wir automatisch mit Sport in Verbindung. Sport und Langsamkeit, das passt nur selten zusammen. Und Dehnen ist eine ziemlich langsame Angelegenheit. Man braucht viel Geduld, um Dehnübungen korrekt und effektiv auszuführen. Dafür wiederum bedarf es Achtsamkeit, ebenfalls ein Aspekt, der in anderen Sportarten kaum eine Rolle spielt. Natürlich sei es der Idealzustand, wenn man alles, auch Geschirrspülen oder Zähneputzen, mit Achtsamkeit ausführe, sagt Holger Cramer schmunzelnd. Aber wer macht das schon? Auch beim Joggen ist es möglich, achtsam zu sein, aber es ist nicht unabdingbarer Teil davon. Zum Yoga gehört Achtsamkeit dazu.
Vielleicht ist es gerade das, was wir in unserer schnelllebigen Zeit brauchen: Achtsamkeit und Langsamkeit. In einem Interview mit dem Süddeutsche Magazin sagte B. K. S. Iyengar 2012: „Ihr müsst dahin gehen, wo die Gefühle stecken: in den Körper. Die meisten Intellektuellen haben keine Ahnung, wie sie Gefühle und Gedanken in Verbindung bringen können.“ Und das versucht Yoga. Wir sind umgeben von Hektik, so sehr wir uns auch um Gelassenheit bemühen. Schön beschreibt das der amerikanische Yogalehrer Darren Main in seinem Buch Yoga and the Path of the Urban Mystic. Er erzählt darin, wie er morgens aufsteht, zunächst meditiert und einige Yogaübungen ausführt. Er fühlt sich so richtig wohlig entspannt, als er sein Appartement in San Francisco verlässt, um Frühstück zu besorgen. Zunächst wird er beim Überqueren der Straße trotz grüner Fußgängerampel fast überfahren. Die Fahrerin, die gerade noch rechtzeitig auf die Bremse treten kann, zeigt ihm den Stinkefinger, statt sich zu entschuldigen. Im Supermarkt ist er umgeben von hektischen Menschen, und sein Lieblingsjoghurt ist auch noch ausverkauft. Zurück zu Hause schlägt er die Zeitung auf und liest nur über Börsenkrise, Krieg und Naturkatastrophen. Er ist automatisch wieder im Stress. Er hätte am Morgen noch so viele Stunden meditieren können, der Alltagsstress hätte ihn trotzdem irgendwann eingeholt.
Natürlich kann uns Meditation dabei helfen, eine Distanz zu diesem Alltagsstress zu finden. Ganz davon lösen können wir uns aber vermutlich nie. Auch „Meditationsprofis“ werden beim Meditieren immer mal wieder von Gedanken und Gefühlen gestört. Das ist auch nicht weiter schlimm. Es geht darum, zu lernen, damit umzugehen. Ich werde immer noch erschrecken, wenn mich ein Auto beim Überqueren des Zebrastreifens fast über den Haufen fährt. Ob ich mich darüber aber noch Stunden später ärgere, ist meine Entscheidung. Genauso ist es mit dem Lieblingsjoghurt, das im Supermarkt ausverkauft ist, obwohl ich mich schon den ganzen Morgen darauf gefreut habe. Besonders gut beobachten kann man übrigens beim Autofahren, wie leicht wir uns stressen lassen. Wie herrlich können wir uns dabei über sieben verlorene Sekunden ereifern! Sind diese sieben Sekunden wirklich so wichtig, oder haben wir es einfach nur verlernt, geduldig zu sein? Ist es wirklich so schlimm, wenn wir fünf Minuten später an unserem Ziel ankommen? Vielleicht ja, aber hätten wir dann nicht einfach etwas früher aufstehen müssen, statt den anderen Autofahrern die Schuld an unserer Verspätung zu geben? Ist uns Langsamkeit wirklich so unangenehm, oder ist sie nur ungewohnt geworden? Zu lernen, mit Erwartungen anders umzugehen, hat sehr viel mit Yoga zu tun. Das heißt aber nicht, dass wir abstumpfen sollen. Nachrichtenmeldungen, wie wir sie tagtäglich lesen und sehen, werden uns hoffentlich auch nach jahrelanger Meditationspraxis berühren.
Für viele Menschen ist die Yogamatte angesichts des hektischen Alltags ein Zufluchtsort. Während wir Yoga machen, kann alles Mögliche passieren, aber weil wir gerade sowieso keinen Einfluss darauf nehmen können, spielt es keine Rolle. Das gilt natürlich auch für alle anderen Sportarten und Hobbys, bei denen man sein Mobiltelefon mal aus den Augen lässt. Nirgendwo wird es aber so offen thematisiert wie beim Yoga, und nirgendwo ist das Verweilen im Moment, in der Gegenwart ein so wesentliches Element. Wenn der Yogalehrer dann auch noch betont, dass wir immer wieder auf diese Yogamatte zurückkehren und hier zur Ruhe kommen dürfen, nehmen wir ihm das sogar ab.
Im Zeitalter des Burnout-Syndroms wird die Entschleunigung plötzlich wieder interessant. Eine ganze Weile hatten Ruhe und Erholung einen schlechten Ruf, und nur wer so richtig viel Stress hatte, erschien wichtig. Heute gibt es Magazine, die heißen Flow – Das Magazin für Achtsamkeit, Positive Psychologe und Selbstgemachtes oder Happinez oder My Harmony – Das Magazin für gute Ideen und schöne Gedanken. Sie haben eine Auflage von über 100.000 Exemplaren. Es sind die hippen Menschen, die in den Zeitschriftenläden stehen, mit einem Coffee-to-go in der Hand, und diese Magazine durchblättern. Es sind dieselben Leute, die in Berlin, München oder Hamburg am Abend nach dem Job, der ihnen ein ziemlich gutes Gehalt einbringt, ihre Yogamatten ausrollen. Weil es ihnen guttut. Irgendwann, vielleicht nachdem sie die Geo-Reportage gelesen haben, konnten sie sich überwinden und sind zum Yoga gegangen. Oder vielleicht hat es ihnen ihr Arzt empfohlen.
In Los Angeles sitze ich in der Praxis von Dr. Steven M. Krems. Er ist ein Arzt, wie man sich Ärzte aus Los Angeles wohl vorstellt. Ohne Probleme könnte er in einer dieser kalifornischen Fernsehserien mitspielen, in der alle Menschen so unglaublich gut und gesund aussehen. Obwohl er über das Alter, in dem andere ihre Midlife-Crisis haben, längst hinaus ist, wirkt er topfit. Er ist unter anderem der Mannschaftsarzt des NBA-Teams L.A. Clippers, des Basketball-Teams, das zwar etwas weniger bekannt ist als die Stadtrivalen Lakers, aber zuletzt deutlich erfolgreicher spielte. Ich frage Krems, wie häufig er seinen Patienten Yoga empfiehlt. (Ich hatte gelesen, dass in den USA angeblich 14 Millionen Menschen Yoga durch ihren Arzt empfohlen worden sei. Mir erscheint diese Zahl zwar etwas hochgegriffen, und vor allen Dingen stelle ich es mir relativ schwierig vor, sie statistisch zu erfassen, dennoch bin ich beeindruckt.) Krems lacht. Ein praktizierender Allgemeinmediziner, ein Arzt, dem nicht nur die Frauen, sondern auch 2,11 Meter große Profi-Basketballspieler vertrauen, sagt: „Erst heute habe ich es wieder empfohlen.“
Es sei eine junge Patientin gewesen, noch keine 30, die sich bei ihm über Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen beklagt habe. Nach einigen Fragen bestätigte sich, was Krems sofort vermutet hatte: Diese Frau stand unter Druck. Sie war gestresst von ihrem Alltag. „Es gibt keine Pillen für das, was Yoga kann“, sagt Krems. Er selbst praktiziert Yoga seit 1992. „Es hat mich immer vor Verletzungen geschützt.“ Wenn ein Basketballspieler der Clippers ihm sage: „Ich möchte meine Karriere verlängern“, habe er nur eine Empfehlung: Yoga. Das sei der einzige ratsame Weg. „Wenn ältere Menschen kommen, empfehlen wir Ärzte ihnen immer Stretching, Kräftigung und Entspannungsübungen. Warum also sollte Yoga für irgendjemanden schlecht sein?“
Bei vielen Zipperlein greifen wir schnell zu Medikamenten, statt zunächst nach den Ursachen zu forschen. Es sei schade, sagt Krems, dass Menschen heute, wenn sie nicht schlafen könnten, Schlaftabletten schluckten, statt der Ursache auf den Grund zu gehen. Es wird geschätzt, dass zwischen 50 und 70 Millionen Amerikaner unter Schlafstörungen leiden. Auch in Deutschland zählen Schlafstörungen zu den häufigsten Patientenbeschwerden. Und bei der Hälfte der Betroffenen muss das Schlafproblem behandelt werden, weil es chronisch geworden ist. Schon 2004 veröffentlichte Bostons Brigham and Women’s Hospital (BWH) eine Studie, wonach Frauen mit Schlafstörungen nicht nur ihre tatsächliche Schlafzeit verlängern konnten, sondern auch effektiver schlafen konnten, wenn sie regelmäßig Yoga praktizierten. Die Teilnehmerinnen der Studie schliefen schneller ein und brauchten am Morgen weniger lange, um wieder richtig wach zu werden.
Yoga kann also so einiges, aber trotzdem nicht alles. Die Einstellung, „Ach, Yoga wird’s schon richten“, ist nicht der richtige Weg. Keinem Bluthochdruckpatienten ist geraten, von heute auf morgen seine Medikamente abzusetzen und es stattdessen mit Yoga zu versuchen. Vielleicht macht es zunächst mal die Kombination aus beidem. Und je nachdem, wie sich Yoga auf die Krankheit auswirkt, kann man dann irgendwann vielleicht wirklich die Medikamentendosis verringern. In meiner Ausbildung habe ich vieles gehört, was Yoga kann, aber auch, was nicht. Yoga kann Multiple Sklerose nicht heilen. Yoga heilt keine Psychosen. Yoga in Verbindung mit gesunder Ernährung kann Diabetes Typ 2 heilen, aber nicht Diabetes Typ 1 – der ist leider grundsätzlich noch nicht heilbar. Yoga kann auch den Grünen Star nicht heilen. Es ist sogar so, dass Patienten mit Grünem Star unter gar keinen Umständen Umkehrhaltungen machen sollen, wie beispielsweise einen Handstand, da sich dann der Augeninnendruck erhöht. Das wiederum bedeutet nicht, dass jemand mit Grünem Star kein Yoga machen darf. Die Übungen müssen aber entsprechend angepasst werden. Das gilt genauso für Bluthochdruckpatienten oder Herzkranke. „Beim Bluthochdruck haben wir keine verlässlichen Daten darüber, dass Umkehrhaltungen diesen Patienten schaden, aber es ist naheliegend“, sagt Dr. Cramer. „Weil diese Menschen tendenziell ein hohes Schlaganfallrisiko haben, soll der Blutstrom zum Gehirn nicht erhöht werden.“
Eine regelmäßige Yogapraxis führt übrigens auch nicht zu schmerzfreien Geburten – ich spreche da aus eigener Erfahrung. Doch genau das hatte eine Yogalehrerin in Kalifornien mir gegenüber einmal behauptet – aber vielleicht hatte die Frau auch einfach nur eine andere Vorstellung von „schmerzfrei“ als ich … Dennoch ist eine Schwangerschaft ein wunderbarer Grund, mit Yoga anzufangen, wenn man es nicht schon vorher probiert hat. Viele Schwangere haben mit Rückenschmerzen zu kämpfen, denen Yoga, wie bereits beschrieben, erwiesenermaßen entgegenwirken kann. Es kann darüber hinaus sehr angenehm sein, durch verschiedene Yogapositionen das Gewicht des Kindes für eine Weile vom Becken zu nehmen oder, wenn das Baby von unten auf das Zwerchfell drückt, durch Yogaübungen wieder mehr Raum zum Atmen zu finden. Die Beckenbodenmuskulatur wird trainiert, und nicht zuletzt hilft das Erlernen der richtigen Atmung, bei den Wehen ruhig zu bleiben.
Yoga kann also vieles positiv unterstützen. Ein Allheilmittel ist es nicht. Es gibt auch keine Sensations-Asanas, keine Einzelübungen, die wie Wunderpillen gegen bestimmte Beschwerden wirken. Das wäre ja schön einfach! Dann würden wir überall nur noch Yogatreibende sehen, die in der Öffentlichkeit schnell mal eine Yogastellung einnehmen, um Kopfschmerzen oder akute Verstopfung zu bekämpfen. Yoga ist nicht die Lösung für alles, und tatsächlich gehen auch die Menschen in Tibet und im indischen Yoga-Mekka Mysore zum Arzt, wenn sie krank sind. In Indien gibt es viele sehr gut ausgebildete Mediziner. Sie alle wären arbeitslos, wenn Yoga ein Allheilmittel wäre. „Der Buddha ist nicht im Alter von 29 Jahren aus seinem Königshaus ausgezogen, um eine Methode zu finden, Hämorrhoiden zu kurieren“, zitiert Spiegel-Autor Ulrich Schnabel den Religionswissenschaftler und praktizierenden Buddhisten Alan Wallace. Damit will er sagen: Meditation wurde nicht erfunden, um Krankheiten zu heilen. Sie kann andere Therapien ergänzen, nicht ersetzen. Und so ist es auch mit Yoga.
Tatsächlich können akut Kranke mit der plötzlichen Verschreibung von Yoga auch überfordert sein. Es ist also immer genau abzuwägen, wann Yoga weiterhelfen kann und wann nicht. Und alleine, ohne Anleitung eines ausgebildeten Yogalehrers – und nicht einfach mit einer DVD bewaffnet! – sollte sich niemand, der nicht fortgeschritten ist, auf die Yogamatte begeben. Ein Lehrer, der Fehlstellungen korrigiert und Hilfestellung gibt, ist ganz wichtig für Anfänger. Und bei aller Euphorie, die Yogatreibende gerne verbreiten, sollte man nicht vergessen, dass die Wissenschaft beim Thema Yoga immer noch einiges zu tun hat.