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30. Tag des Assben im 24. Jahr Satons

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Die Sonne strahlte über dem Kasernengelände, als Rahor gemeinsam mit seiner Schwester die Rasenfläche erreichte, auf der einige ältere Schüler, unter ihnen auch Lennys, ihre freien Stunden genossen. Racyl schlug das Herz bis zum Hals. So nah war sie Satons Tochter seit ihrem ersten Tag hier nicht mehr gewesen.

"Lennys, du kennst meine Schwester Racyl ja schon. Auch wenn es eine Weile her ist."

Racyl deutete eine leichte Verbeugung an.

"Ich habe ein gutes Gedächtnis, Rahor, es ist unnötig mich an sie zu erinnern."

Sie bewegte sich keinen einzigen Schritt auf das flachsblonde Mädchen zu. "Dann sag mal, ...ist dein Bruder zu Hause auch immer so furchtbar vernünftig? Mir scheint, er will gar keinen Spaß im Leben haben."

Racyls Lippen bebten. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

"Nun... ich... also... ich weiß nicht..."

"Tut mir leid, Lennys." grinste Rahor. "Ich fürchte, Racyl ist noch viel vernünftiger als ich. Sie lernt viel, weißt du."

"Ach? Wie langweilig. Und ich dachte immer, die Familie Req-Nuur hätte ein bisschen Feuer im Blut."

"Nicht jedes Feuer brennt auf die gleiche Weise." Racyl wusste nicht, warum sie das gesagt hatte, es war ihr einfach nur so herausgerutscht, doch Lennys lächelte. Verblüfft starrte Racyl sie an.

"Ich treffe mich nach Sonnenuntergang mit ein paar Leuten hinter der Mauer bei den Stallungen. Ihr könntet mitkommen. Damit ihr nicht noch eines Tages an eurer Vernunft erstickt. Das gilt auch für dich." Sie sah zu Garuel, der sich mittlerweile aufgesetzt hatte und der Unterhaltung gespannt folgte.

"Gern." sagte er jetzt. "Wird Karuu auch da sein?"

"Vermutlich."

"Und Sama?"

"Hoffentlich nicht. Ich finde sie in letzter Zeit ziemlich lästig. Du hast mir keinen Gefallen damit getan, dass du sie abgewiesen hast, Rahor."

Garuel und Rahor lachten. "Sie mag dich eben."

"Ich kann nichts mit Leuten anfangen, die sich bei mir anbiedern, nur weil mein Vater..."

"Hee..." tönte es diesem Moment von den Schlafgebäuden herüber. "Heee... Lennys!" Orcus, der vorlaute Säbelschüler stolperte ihnen entgegen.

"Na, der hat mir gerade noch gefehlt." murmelte Lennys missmutig. "Was ist denn?"

Als Orcus sie erreichte, war er nur mäßig außer Atem. Er hatte eine gute Kondition, auch wenn er gerade über das ganze Gelände gerannt zu sein schien.

"Stimmt es, dass ihr euch heute abend hinter der Mauer trefft?"

Lennys verdrehte die Augen. "Angenommen, du hättest vor, geringfügig gegen einige - wenn auch überflüssige - Regeln zu verstoßen, was würdest du dann davon halten, wenn jemand anderes das über den ganzen Platz posaunen würde?"

"Also stimmt es?" Er strahlte.

"Orcus, du redest zu viel. Und manchmal hörst du auch zu viel. Behalte das also für dich, klar?"

"Klar! Darf ich auch kommen? Ich kann Sijak mitbringen!"

Rahor prustete. "Sijak? Wo willst du den denn hernehmen?"

"Hab ihn gewonnen. 'Ne Wette mit dem Tavernenwirt. Zwei Flaschen!"

Lennys zuckte die Achseln. "Ist nicht viel. Außerdem haben wir schon welchen. Aber wenn du unbedingt willst, dann komm. Und wehe, du verplapperst dich!"

"Nee, tu ich nicht. Was is' mit euch? Oh, da ist ja Racyl. Hab dich gar nicht geseh'n. Ihr kommt auch, oder?"

"Sie trauen sich nicht." bemerkte Lennys trocken.

"Das stimmt nicht!" Rahor protestierte. "Es ist nur..."

"Was? Unvernünftig? Schon klar, Rahor. Garuel, was ist mit dir?"

Garuel lächelte. "Verehrte Lennys, wie könnte ich mich deiner Gesellschaft entziehen? Natürlich komme ich."

"Endlich mal jemand, der sich zu benehmen weiß. Orcus, geh rüber zu Karuu und frag ihn, wer heute am Osttor Wache hat. Ich will keine bösen Überraschungen erleben."

Orcus nickte eifrig und hastete davon. Auch Garuel stand auf und klopfte sich ein paar Grashalme von der Kleidung. "Wenn du mich bitte auch entschuldigst, ich möchte mich sicherheitshalber noch bei Tinogal blicken lassen, damit er nicht misstrauisch wird."

"Mach das."

"Bis später!" Er nickte Rahor und Racyl zu und folgte dann Orcus.

Lennys wandte sich wieder den Geschwistern zu. "Nun, und ihr wollt sicher wieder lernen?"

"Ich nicht." kam Racyl ihrem Bruder zuvor.

"Ach nein?"

"Ich... würde gern... also..."

"Racyl, bist du verrückt geworden?" Rahor sah sie ungläubig an. "Ich meine, wenn Garuel oder ich... also, keiner wird uns wegen sowas rauswerfen, aber du bist noch im ersten Jahr..."

"Rahor, du solltest deine Schwester selbst entscheiden lassen. Aber wie wäre es, wenn du einfach ebenfalls kommst und auf sie aufpasst? Dann kann ja wohl nichts passieren."

Nur wenig später lagen und saßen die jungen Krieger im Schutz der östlichen Kasernenmauer. In ihrer Mitte standen mehrere Sijakflaschen, askaryscher Rum und ein Korb Obst, den jemand, den Racyl nicht kannte, mitgebracht hatte. Es stellte sich bald heraus, dass dieser Jemand den Namen Juta trug und eigentlich der Lehrling eines Silberschmieds war. Nach allem, was sie aus den Unterhaltungen heraushörte, traf er sich häufiger mit einigen Säbelschülern, mal hier an der Mauer, mal in der Taverne in der Stadt und er war sogar zu Lennys' Geburtstag in die Burg Vas-Zarac eingeladen worden.

Lennys selbst war wie so oft der Mittelpunkt der Unterhaltungen, obwohl sie es gar nicht darauf anlegte. Im Gegenteil, gerade an diesem Abend schien sie lieber zuzuhören, statt zu reden und sie machte auch keine Anstalten, andere zu Schaukämpfen und ähnlichen Übungen herauszufordern, wie sie es sonst so gern tat. Stattdessen lag sie im Gras, trank bereits ihren dritten Becher Sijak und beobachtete die Anwesenden. Racyl überkam ein Schauer, als die schwarzen Augen sich wieder auf sie richteten. Bildete sie sich das ein oder war sie häufiger als alle anderen das Ziel von Lennys' Interesse?

Auch Rahor entging dieses Verhalten nicht.

"Du gefällst ihr." raunte er Racyl leise zu.

"Ich?"

"Na sicher. Das sieht man. Schwesterchen, sei vorsichtig. Lennys ist nicht Irgendjemand. Und das Schlimmste ist: Sie weiß das."

In diesem Moment stellte Lennys den Kelch ab und richtete sich auf. "Sie hat ihren eigenen Kopf, Rahor."

Weder Racyl noch ihr Bruder wussten, ob sie gehört hatte, was Rahor gesagt hatte, aber zumindest konnte sie es sich denken. Verlegen stand der junge Mann auf. "Ich... werde mal nachsehen, ob die Luft noch immer rein ist. Um diese Zeit macht Tinogal gern einen Spaziergang."

"Er hat Magenschmerzen." bemerkte Garuel mit schwerer Zunge. "Hab ihn vorhin geseh'n. Wollte früh ins Bett."

"Trotzdem. Entschuldigt mich bitte."

Lennys sagte nichts dazu, doch kaum war Rahor verschwunden, wanderte ihr Blick wieder zu dessen Schwester.

"Er macht sich nur Sorgen." sagte sie ernst.

Racyl war überrascht. "Ich... ich weiß. Er meint es nicht böse."

"Nein, das tut er nicht. Er ist gut. Einer der Besten in der Kaserne."

"Ja, ich weiß."

"Beneidest du ihn?"

"Nein. Ich freue mich. Ich bin stolz auf ihn."

"Er wird einmal viel erreichen. Vielleicht wird er sogar ein Cas."

"Bestimmt wird er das." Racyl strahlte.

"Und du? Willst du auch eine werden?"

Racyl dachte kurz nach. "Ich weiß nicht. Ich muss meinen Weg noch finden, glaube ich."

"Komm her." Es klang verbindlich und wie von selbst stand Racyl auf und setzte sich neben Lennys. Sie bemerkte das Grinsen von Garuel, Karuu, Orcus und Juta sehr wohl, versuchte aber, es zu ignorieren.

"Du siehst nicht aus wie eine Batí."

"Ich... ich bin eine halbe Batí. Meine Mutter... ist... war eine Mituana. Rahor ist mein Halbbruder."

"Eine Mituana." Lennys streckte die Hand aus und griff nach einer hellblonden Haarsträhne, die Racyl über die Schultern hing. "So so. Ja, ich habe einmal davon gehört. Und von deinem Vater. Natürlich."

"Er ist..."

"Ich weiß, wer er ist. Aber das alles bedeutet nichts. Nichts bedeutet irgendetwas. Nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft. Verstehst du?"

Lennys war offensichtlich schon etwas betrunken, aber ihr Blick war noch klar.

"Nicht so ganz."

"Es zählt nur der Moment. Deshalb sind wir hier. In ein paar Stunden, in ein paar Tagen, Wochen, Monaten, Jahren... irgendwann kommen Kämpfe und Kriege und Schlachten. Aber nicht jetzt. Warum sollen wir nicht also jetzt unsere Zeit nutzen? Wir haben Spaß, wir trinken und feiern. Warum auch nicht?"

"Aber es ist trotzdem nicht erlaubt."

Lennys lachte. "Und? Wir tun es trotzdem. Du im übrigen auch. Und je länger du hier bist, desto häufiger wirst du es tun."

"Wenn... ich darf."

"Du darfst es auch jetzt nicht."

Doch Racyl schüttelte den Kopf. "Das meine ich nicht. Ich meine... ich würde es nur wollen... mit Rahor und... und Rahor ist oft mit dir zusammen. Und wenn du nicht willst, dass ich dabei bin, dann..."

Lennys beugte sich nach vorn. Racyl konnte den Alkohol in ihrem Atem riechen, aber es störte sie nicht. Gerade heute abend fand sie Lennys faszinierender und anziehender als je zuvor.

"Hast du gerade den Eindruck, dass ich etwas dagegen habe, dass du hier bist?"

"Nein..., aber..."

"Warum sollte ich also beim nächsten Mal etwas dagegen haben? Es gibt keinen Grund. Solange du mir keinen lieferst."

"Das... freut mich."

"Du denkst an das, was er dir vorhin gesagt hat, oder? Dass du dich vor mir... in acht nehmen musst."

"Das hat er nicht gesagt!"

"Aber gemeint. Wie denkst du darüber?"

"Gar nicht. Also... ich denke nicht darüber nach."

"Seltsam für jemanden, der angeblich so vernünftig ist."

"Vielleicht will ich gar nicht vernünftig sein."

Eine Bewegung lenkte Racyls Aufmerksamkeit für einen Moment von Lennys ab.

"'S ist schon spät." Leicht schwankend stand Juta auf und verbeugte sich übertrieben, wobei Garuel ihn stützen musste. "Muss morgen früh aus den Federn, mein Meister hat 'nen Großauftrag 'reinbekommen vom Tempel. So gehabt euch wohl, meine Freunde, es war wieder nett mit euch. Hohe... hicks... Lennys, es war mir wie immer eine Ehre!"

Kaum war Juta in der Dunkelheit verschwunden, unterdrückte auch Garuel ein Gähnen. Karuu, Orcus und zwei weitere Männer, deren Namen Racyl bereits wieder vergessen hatte, sahen ebenfalls schon recht müde aus.

"Falls ihr glaubt, aus Höflichkeit bleiben zu müssen, irrt ihr euch." Lennys schenkte sich Sijak nach. "Ich bin es schon gewohnt, dass ihr kein großes Durchhaltevermögen habt. Verschwindet in eure Betten."

Erleichtert nickten die Angesprochenen und fingen an, die Überreste des Abends zu beseitigen.

"Und du?" fragte Lennys nun leiser. "Hast du auch schon genug?"

Racyl schüttelte den Kopf. "Um ehrlich zu sein... gefällt es mir hier gerade sehr gut."

Die Säbelprüfungen der höchsten Klassen waren bei allen Kriegern ein besonders beliebtes Spektakel. Freunde und Angehörige waren eingeladen, dabei zuzusehen, wie sich die Schüler schlugen und die Anführer der Wachriegen hielten Ausschau nach Nachwuchskämpfern. Anders als bei den Prüfungen der unteren Klassen wurden hier häufig schon vielverprechende Angebote an die Zöglinge gemacht, nach ihrer Ausbildung dem einen oder anderen Regiment beizutreten und in vielen Fällen entschied sich an diesem Tag die ganze Zukunft eines jungen Gebieters der Nacht. Kein Wunder also, dass die meisten Probanten dem Ereignis auch ein Stück weit nervös entgegensahen.

Andere allerdings maßen dem bevorstehenden Tag weit weniger Bedeutung zu. Ihre Wege waren schon vorgezeichnet, ihr Name schon auf der einen oder anderen Notiz dick unterstrichen und ihre Siegesliste länger als die der Turmwachen.

Natürlich gehörte Lennys dazu. Alle wussten um ihr Talent und sie musste sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen. Dasselbe galt für Rahor Req-Nuur und Garuel Mala-Rii. Allerdings war es eine seltene Gelegenheit, diese besonderen Schüler nun endlich einmal aus der Nähe und bei einer wahren Herausforderung zu bewundern.

Und so waren die Ränge der aufgebauten Holztribünen auf dem großen Kasernengelände zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder bis auf den letzten Platz gefüllt. Niemand, der durch seine Verwandtschaft oder Bekanntschaft zu einem der Prüflinge oder einem hohen Vertreter der Nacht die Möglichkeit erhielt, diesem Schauspiel beizuwohnen, wollte darauf verzichten. Dies führte auch dazu, dass das Publikum so erlesen wie selten war.

Natürlich hatte der Shaj der Nacht es sich nicht nehmen lassen, alle Silbergeschäfte für diesen einen Tag ruhen zu lassen, um den lange erwarteten Kampf seiner Tochter mitanzusehen, doch auch die neun Cas waren gekommen, sowie zahlreiche Säbelwächter der Heere, die Tempelvorsteherin Semon-Seys, Celdros Req-Nuur und Afnan, Lennys' Leibdiener aus Vas-Zarac.

Saton hatte es sich unter einem schattenspendenden Baldachin bequem gemacht und nippte an gekühltem Wein, während er über die ausgelassene Stimmung schmunzelte.

"Was ist nur los mit den Leuten?" fragte er Wandan und Cala, die zu seiner Rechten und Linken standen. "Sie benehmen sich wie bei einer Krönungszeremonie, dabei sollen hier nur ein paar junge Kämpfer ihr Können beweisen."

"Tu doch nicht so..." knurrte Wandan. "Du weißt genau, warum sie alle hier sind."

Saton lachte.

"Und das ärgert dich immer noch? Oder hast du Angst, dass sich einer von beiden blamiert?"

"Unsinn..."

"Wem gilt deine Sympathie? Bohain oder Lennys? Wen möchtest du siegen sehen?"

"Du bist ungerecht! Natürlich wünsche ich mir, dass sie gewinnt... einerseits. Aber Bohain und ich sind alte Freunde. Und er wurde noch nie von einem Schüler im Duell geschlagen - schon gar nicht von einem so jungen Mädchen! Nicht einmal Celdros ist das damals gelungen! Ich möchte nicht, dass Bohain auf seine alten Tage noch gedemütigt wird."

Cala schüttelte sachte den Kopf.

"Wer redet denn von Demütigung? Es ist keine Schande, von der Tochter des Shaj besiegt zu werden. Eher eine Ehre. Und wir wissen ja noch gar nicht, wie es ausgeht."

"Das stimmt." nickte Saton bekräftigend. "Eigentlich würde es mich überraschen, wenn Lennys ihr Versprechen wahr macht. Und falls dies der Fall ist, hat Cala mehr Grund, sich zu beschweren als du. Du hast es ihm doch hoffentlich gesagt, Wandan?"

Doch Cala nahm dem obersten Cas die Antwort strahlend ab.

"Das hat er. Und ich scheue mich nicht, diese Herausforderung anzunehmen."

"Freu dich nicht zu früh." konterte Wandan schnippisch. "Na endlich... da kommen sie. Meine Güte, wenn ich daran denke, als sie alle ihren ersten Tag hier hatten. Da waren es fast noch Kinder. Sie sind kaum wiederzuerkennen."

"Wer ist das Mädchen da vorn?" fragte Saton irritiert. "Ist sie in Lennys' Klasse? Irgendwie kommt sie mir bekannt vor.... aber sie scheint viel zu jung für die Prüfung."

"Racyl Req-Nuur - Rahors Schwester. Sie ist nur als Zuschauerin hier." Irgendetwas schien Wandan auch an diesem Umstand zu missfallen. "Fragt sich nur, für wen."

"Wie meinst du das?"

"Beobachte sie nachher einfach, wenn die Schüler herauskommen. Dann siehst du, was ich meine."

Saton beschloss, sich nicht von Wandan die Laune verderben zu lassen und erwartete gespannt die Eröffnung der Prüfung.

Tinogal, der Kasernenvorsteher und Bohain, der oberste Säbelmeister und Ausbilder dieser Klasse, traten als erste in die Mitte des runden Platzes. Dann verlas Tinogal feierlich die althergebrachten Willkommensworte und erklärte noch einmal, was genau das Publikum erwartete. Die meisten kannten das Regelwerk in- und auswendig, dennoch bejubelten sie jeden Augenblick der Zeremonie.

Gekämpft wurde nach der Reihenfolge ihres Könnens, das in den vergangenen Jahren durch ein kompliziertes Notenverfahren dokumentiert worden war, beginnend beim schwächsten Schüler. Zunächst würden sich drei alte Säbelmeister als Gegner zur Verfügung stellen, die zuerst die Grundtechniken prüfen würden, bevor sie schlussendlich zu einem echten Gefecht aufforderten.

Natürlich sollte dieses nicht tödlich enden, jedoch war bekannt, dass es bei derartigen Auseinandersetzungen durchaus schon zu schweren Verletzungen gekommen war.

Die fünf besten Schüler des Jahres aber würden sich Bohain gegenüber sehen und gegen ihn ihr Können beweisen. Niemand erwartete einen Sieg, aber ein solch würdiger Gegner vermochte die Prüflinge durchaus zu Techniken herausfordern, die sie sonst nicht zeigen konnten.

"Wer darf eigentlich gegen Bohain ran?" fragte Cala neugierig. "Außer Lennys natürlich.."

"Rahor Req-Nuur." erwiderte Wandan. "Das war ja klar. Dann der junge Mala-Rii. Das ist auch keine Überraschung."

"Und sonst?"

"Ich glaube, der eine heißt Karuu. Frag mich nicht nach seinem Nachnamen. Und diese... Caja... oder so ähnlich."

"Caja? Das klingt wie Cala..." lachte sein Freund.

"Sonst hast du nichts mit ihr gemein. Sie ist ziemlich ehrgeizig, das stimmt schon. Und nicht die Schlechteste. Aber auch nicht herausragend."

Dann wurden die Prüflinge aufgerufen. Jubel brandete auf und obwohl jeder Einzelne mit viel Applaus begrüßt wurde, so war es doch nicht verwunderlich, dass Lenyca Ac-Sarr den meisten Beifall bekam.

Satons Blick schweifte über die Menge und blieb an Racyl Req-Nuur hängen.

Natürlich hatte das blonde Mädchen besonders ihren Bruder beklatscht, doch ihre Augen klebten förmlich an Lennys.

"Hast du das gemeint?" fragte er Wandan. "Dass sie meine Tochter anhimmelt?"

"Mehr als das. Die beiden wurden schon ein paar Mal zusammen gesehen."

Der Shaj atmete erleichtert auf. "Ich könnte mir einen schlechteren Umgang für Lennys vorstellen als eine Req-Nuur. Du wirst mir in einer ruhigen Minute ein bisschen mehr über sie erzählen müssen."

Die Säbelschüler nahmen in der vordersten Reihe Platz und nur allmählich ebbten auch die Beifallsstürme ab. Vier Feuerschalen wurden in die Mitte des Areals getragen und entzündet. In ihrer Mitte sollten die Kämpfe stattfinden.

Es stellte sich schnell heraus, dass Tinogal gut daran getan hatte, die schlechteren Schüler gegen einfache Säbelmeister antreten zu lassen, die Bohain in Sachen Können und Gewandtheit weit unterlegen waren. Schon an diesen Männern bissen sich die angehenden Kriegerinnen und Krieger beinahe die Zähne aus und nur Zweien gelang es, die harten Duelle für sich zu entscheiden, wenn auch nur eben so.

Eine kurze Pause folgte, dann betrat Bohain den Kampfplatz.

Die Menge blieb still, die Spannung war fast greifbar.

Zuerst hob Caja den Säbel. Die geforderten Angriffs- und Verteidigungshaltungen beherrschte sie gut, wenn auch nicht ganz fehlerfrei. Bei einer schnellen Drehung, bei der zugleich der Säbel von einer in die andere Hand geworfen werden musste, entglitt ihr beinahe die Waffe.

"Sie wird nicht die geringste Chance haben." prophezeite Wandan.

Er hatte recht.

Nur ein einziges Mal schaffte sie es, Bohains vergleichsweise sanften Angriff abzuwehren, dann legte sich die gegnerische Klinge an ihren Hals.

Mit vor Enttäuschung zusammengepressten Lippen trottete Caja zu ihrem Platz zurück.

Karuu, der nächste Prüfling, schlug sich schon erheblich besser. Wandan bemerkte, dass Saton einige Male überrascht aufsah, als der junge Mann die Aufgaben nicht nur fehlerfrei bewältigte, sondern sich auch erstaunlich lange gegen Bohain auf dem Platz hielt. Dann aber fiel sein Säbel doch noch klirrend zu Boden.

"Nicht übel." bemerkte Cala. "Gar nicht übel."

Saton nickte nur, sagte aber nichts.

Tinogals Stimme schallte über die Tribünen.

"Wir sehen nun Garuel Mala-Rii aus Semon-Sey, den ersten der drei Sichelträger dieses Jahrgangs."

Die Menge applaudierte. Doch schon bald ging ihr bislang eher zurückhaltender Jubel in überraschte Schreie über. Der Kampf der beiden Kontrahenten wollte einfach nicht zu Ende gehen und zweimal schien es fast, als könne Garuel seinen Gegner ernsthaft in Bedrängnis bringen. Dann aber kostete ihn ein Wimpernschlag der Unachtsamkeit den Sieg.

Wandan stieß einen leisen Pfiff aus.

"Das hätte ich nicht gedacht. Bohain war nicht schlechter als sonst. Saton, bitte gestatte mir, diesen Jungen in den Burgdienst zu stellen. Ein solches Talent dürfen wir nicht verkümmern lassen."

Der Shaj lächelte. "Das erlaube ich gern. Wer solches Können beweist, darf auf keinen Fall als Turmwache enden. Merke ihn vor und lass ihm ausrichten, dass ich ihn nächste Woche in Vas-Zarac zu sehen wünsche."

"Rahor Req-Nuur, ebenfalls aus Semon-Sey, ebenfalls Sichelträger und Notenbester seines Jahrgangs." tönte nun wieder Tinogals Stimme.

"Eigentlich ist es unfair." murrte Wandan. "Wenn Bohain gegen Lennys antritt, hat er bereits vier Kämpfe hinter sich."

"Bestenfalls drei." berichtigte Cala. "Das Aufeinandertreffen mit Caja kannst du kaum einen Kampf nennen. Aber er hat viel mehr Erfahrung als Lennys. Das gleicht alles aus."

Rahor stand Garuel in nichts nach. Auch er brachte den alten Bohain ernsthaft in die Bredouille und schaffte es, Garuels Gefecht noch an Dauer zu übertreffen. Es endete, als sich beide Säbelspitzen gleichzeitig gegen die Schlagader des Gegenübers drückten.

"Unentschieden!" rief Wandan fassungslos. "So etwas habe ich noch nie erlebt! Was für ein Kämpfer!"

Die Zuschauer waren kaum noch auf ihren Sitzen zu halten und in Racyls Augen schienen sogar Freudentränen zu glitzern. Der Jubel war ohrenbetäubend.

"Lenyca Ac-Sarr, Tochter unseres hohen Shaj Saton Ac-Sarr, jüngste Sichelträgerin Cycalas', Notenbeste ihres Jahrgangs!"

Viele standen auf. Andere beugten sich soweit wie möglich nach vorn und wieder andere rissen nicht nur die Augen, sondern auch die Münder weit auf, als könnten sie so noch besser das nun Kommende verfolgen.

Nur Wandan lehnte sich entspannt zurück.

"Wenn sie gewinnt, dann nur, weil Rahor Bohain ziemlich zugesetzt hat. Aber das glaube ich nicht. Auf jeden Fall können wir uns auf ein längeres Schauspiel einstellen."

"Du traust meiner Tochter wohl nicht viel zu?"

"Oh doch, Saton. Mehr als jedem anderen. Aber ich kenne Bohain. Er wird sich noch einige Reserven bewahrt haben."

Nach einer perfekten Absolvierung der Grundtechniken verneigte sich Bohain knapp vor seiner Gegnerin.

"Es ist mir eine Ehre." sagte er. "Yami solei!"

"Arhat zen!"

Kaum jemand im Publikum vermochte, den Bewegungen der Shajkane noch zu folgen, so schnell wirbelten sie herum. Beide - Bohain und Lennys - vollzogen derart anspruchsvolle Angriffe und Abwehrmanöver, dass es eine wahre Freude war, ihnen zuzusehen.

"Sie spielt." sagte Saton, doch er lächelte nicht mehr. "Sie spielt mit ihm. Wenn sie wollte..."

"Er fordert sie..." beharrte Wandan ohne zuzuhören. "Wenn er wollte, könnte er..."

Ein Aufschrei in der Menge.

Die beiden Kämpfer waren mitten in ihrer Bewegung erstarrt und zuerst vermochte keiner zu sagen, wer die Oberhand über den anderen hatte.

Nur wenige, nämlich die, die ganz vorn saßen, erkannten es.

Ein einziger Blutstropfen perlte von Bohains Hals.

Die Klinge des Shajkans glänzte, als Lennys die Waffe zurückzog.

Bohains Augen leuchteten vor Freude.

"Endlich." sagte er so leise, dass nur Lennys es hören konnte. "Mein Leben lang habe ich darauf gewartet."

Ein heftiger Regenguss verwandelte die Straßen Semon-Seys in Sturzbäche, die sich ihren Weg schäumend um Lennys' Stiefel bahnten. Windböen peitschten ihr die eisigen Tropfen ins Gesicht, so dass sie ihren Umhang unwillkürlich fester um sich zog und ihren Schritt beschleunigte. Endlich erreichte sie ihr Ziel – ein großzügiges Gebäude aus hellgrauem Stein, hinter dessen hohen Fenstern schummriges Licht glimmte. Schnell eilte sie die wenigen Stufen zum Eingang hinauf und klopfte dreimal an die schwere Tür.

Ein verwegen aussehender, bärtiger Mann öffnete und als er ihr Gesicht erblickte, nickte er nur und trat zur Seite, um sie einzulassen.

Sie stand im Eingang zu einem einzigen Raum, der beinahe das gesamte Erdgeschoss einnahm. Nur ganz hinten gab es noch eine weitere Tür zu einem Nebenzimmer, das, wie sie wusste, die Kostbarkeiten des Besitzers beherbergte. Daneben führte eine steile Steintreppe ins Obergeschoss.

Eine schon recht abgeschrammte Theke verlief an der hinteren Wand nahezu über die ganze Breite der Schenke. Dahinter hatte ein stämmiger Wirt mit einigen spärlichen grauen Haarbüscheln und umso dichteren, buschigen Augenbrauen im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun. Sijakflaschen, Rumkrüge und mächtige Kelche mit den unterschiedlichsten Inhalten wechselten hier die Seite und wurden gierig von den verschiedensten Männern in Empfang genommen. Derbe Bauern, gut gekleidete Händler, mehrere muskelbepackte Soldaten und sogar ein ältlicher Priester drängten sich am Tresen und um die ausladenden Tische, die scheinbar wahllos im Gastraum verteilt herumstanden. An einigen saßen nur zwei oder drei Gestalten, die über ihre Becher gebeugt in ihr Gespräch vertieft waren, um die meisten anderen aber scharten sich größere Gruppen, die immer wieder ihre Trinkgefäße hoben und sich zuprosteten, wobei sie laut lachten und grölten, als wollten sie so beweisen, dass ihre Runde die lustigste im Wirtshaus sei. Gerade jetzt erhob ein junger Bursche die Stimme.

„Eines Tages werde ich ebenso reich wie mein Meister. Und dann, das sage ich euch, werde ich den ganzen Mooshain kaufen!“

Brüllendes Gelächter unter seinen Kumpanen.

„Den Mooshain?“ prustete ein dürrer Krieger, dessen Shajkan nicht mehr im besten Zustand war. „So viel Silber hat höchstens der Shaj! Ach, was rede ich, alle drei Shajs zusammen – vielleicht. Die Sakkala-Beeren sind unbezahlbar!“

„So wie der Sijak hier!“ kicherte ein anderer. „He, Wirt, dein Preis ist Wucher,... so vergraulst du deine besten Kunden!“

„Ach, was jammert ihr....“ plapperte der Lehrling wieder. „Es ist doch auch der beste Tropfen! Aber wäre es nicht herrlich, sein eigenes Sakkala-Feld zu haben?....“

„Träum du nur. Sijak ist ein Geschenk des Gottes, aber ich für meinen Teil würde mit dem Vermögen deines Herrn ganz andere Dinge kaufen...“ Gesprochen hatte jetzt ein älterer Mann, dessen schlammbespritzte Leinenhosen und lehmverkrusteten Stiefel verrieten, dass er kurz zuvor noch sein Vieh von der Weide getrieben hatte.

„Und was?“

Der Viehhirt grinste schief. „Kennst du die Kleine mit den Locken, die sich drüben am Brunnen hin und wieder anbietet?“

Ein träumerischer Ausdruck trat in sein Gesicht. Die anderen kicherten.

Nun meldete sich der Soldat wieder zu Wort.

„Na, die ist ja nun nicht viel wert. Sogar du wirst sie dir eines Tages leisten können. Unsereins ist da anspruchsvoller...“

Verärgert verschränkte der Bauer die Arme. „Ach ja? Wer trifft denn deinen Geschmack?“

Verschwörerisch senkte der Soldat die Stimme. „Ich sage euch, in unseren Kasernen laufen die rassigsten Frauen des ganzen Landes herum. Gerade die jungen. Und kämpfen können die, da bleibt euch die Spucke weg. Da kann unsereins schon schwach werden...“

„Es wäre besser für dich, wenn du jetzt nicht weiter redest.“ Die junge Frau stand nun direkt hinter ihm und ihre klare Stimme ließ nicht nur ihn, sondern auch alle anderen Gäste verstummen.

Die Wangen des Kriegers verfärbten sich scharlachrot.

„Oh... Lennys... verzeih... ich wusste nicht, dass du....“

„Ausgang bekommen hast.“ beendete der Jüngste der Runde, der den Mooshain kaufen wollte, den Satz trocken. Sofort erntete er Gelächter und die Männer im Lokal entspannten sich wieder und wandten sich ihren jeweiligen Gesprächen zu.

Lennys kommentierte die Bemerkung mit einem Achselzucken.

„Ich frage nicht, ob ich gehen darf. Wenn ich es will, dann tue ich es einfach. Merk dir das, Juta.“ Sie nahm einen freien Stuhl, schwang ein Bein darüber und ließ sich verkehrt herum darauf nieder, so dass sie die Arme auf der Rückenlehne verschränkte.

„Recht hast du!“ bestärkte der Bauer sie. „Niemand würde der Tochter des großen Saton Vorschriften machen! Sijak?“

Er reichte ihr seine Flasche. Ohne zu zögern griff sie danach und stürzte einen gewaltigen Schluck herunter. Der Bauer machte dem Wirt über mehrere Tische hinweg ein Zeichen, dass er Nachschub verlangte.

„Es muss ja wirklich entsetzlich langweilig in eurer Kaserne sein, wenn du bei diesem Wetter durch die halbe Stadt hierher kommst.“ sagte Juta. „Wir haben heute nicht mit dir gerechnet.“

„Das habe ich gemerkt.“ Sie musterte den dürren Soldaten. „Sonst wäre manch einer etwas vorsichtiger mit seinen Bemerkungen gewesen.“

„Ich... ich habe nicht....“ fing der Zurechtgewiesene an zu stottern, doch Lennys winkte ab.

„Vergiss es. Schließlich hattest du ja nicht ganz Unrecht.“

Erneut grölten die Männer. Im Hintergrund öffnete sich die Eingangstür der Schenke, doch der große, kräftige Neuankömmling hatte die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen, so dass niemand ihn erkennen konnte und auch keine weitere Notiz von ihm nahm. Er setzte sich zu einem einzelnen Gast in die hinterste Ecke des Raumes, der den anderen Gesellschaften den Rücken zudrehte.

„Sag mal, Lennys,...“ Der Viehhirt versuchte, sich Gehör zu verschaffen. „Stimmt es, dass du deinen Säbelmeister besiegt hast? Bei der Prüfung?“

Lennys machte eine wegwerfende Geste. „Es war nicht besonders schwer.“

Beeindruckt starrten die anderen sie an. Juta winkte aufgeregt. „Ich wette einen halben Wochenlohn, dass du in den nächsten zwei Jahren zur Cas ernannt wirst! Wer hält dagegen?“

„Du bist ein Spinner!“ brummte der Bauer. „Du wirst niemanden finden, der vom Gegenteil überzeugt ist. Lennys hat das Kämpfen im Blut.“

„Und den Sijak!“ Auch der dürre Soldat hatte die Sprache wiedergefunden. „Was ihre Trinkfestigkeit angeht, kann sie schon mit unserem ganzen Heer mithalten!“

„Das ist keine große Kunst!“ spottete Lennys und nahm noch einen Schluck aus der Sijakflasche. „Ihr alten Männer vertragt doch nichts. Nach zwei Bechern Rum liegt ihr schon unter dem Tisch und wisst euren Namen nicht mehr. Und so etwas will sich an den Frauen vergreifen!“

Mit gespielter Verzweiflung hob der Soldat die Hände zur Zimmerdecke. „Was bleibt uns noch? Sie kämpft besser als wir. Sie trinkt besser als wir. Und am Ende laufen die anderen Mädchen in der Kaserne ihr hinterher und nicht uns! Womit haben wir das verdient?“

Alle Männer am Tisch verfielen noch einmal in lautes Gelächter und schlugen sich auf die Schenkel. Nur Lennys wirkte immer noch ein wenig gelangweilt.

„Eines Tages wird sie uns alle mit eisernen Hand regieren!“ verkündete Juta. „Ihr werdet schon sehen. Einen halben Monatslohn darauf, dass sie einmal die Shaj der Nacht wird!“

„Ash-Zaharr bewahre mich davor!“ widersprach Lennys. „Das hätte mir gerade noch gefehlt. Eher werde ich Dienstmagd auf Onsols Schafhof!“

Der Bauer Onsol wollte seinen zahnlosen Mund gerade zu einem Lachen verziehen, als eine dunkle Stimme ihn erstarren ließ.

„Diese Wahl wird nicht von dir getroffen, Lenyca.“

Wie schon kurz zuvor bei Lennys' Auftritt, erstarben auch jetzt alle Gespräche mit einem Schlag. Doch diesmal wagte keiner eine Antwort.

Lennys drehte sich nicht um. Sie wusste, wer hinter ihr stand und nun wusste sie auch, wer kurz nach ihr das Wirtshaus betreten hatte, um von der dunklen Ecke aus jedes Wort mit anzuhören, dass seitdem gefallen war.

„Ich wüsste gern, warum meine Tochter mitten in der Nacht in einer gewöhnlichen Schenke sitzt, sich betrinkt und inmitten des einfachen Volkes solche unbedachten Äußerungen von sich gibt.“

Betont langsam erhob sich Lennys von ihrem Stuhl. Mit festem Blick starrte sie in die schwarzen Augen ihres Vaters. Einige Schritte hinter ihm stand Wandan. Er hatte also bereits in dem Gasthaus auf seinen Herrn gewartet.

„Und ich wüsste gern, warum mein Vater mir hinterher spioniert.“

Ringsum verwandelte sich die Überraschung in den Mienen der Gäste in Fassungslosigkeit. Dass die Tochter Satons hier weilte, war nicht ungewöhnlich. Dass nun aber der Shaj der Nacht höchstselbst unter ihnen war, hatte alle kalt erwischt. Zu hören, wie Lennys auf die Maßregelung reagierte, war jedoch gerade zu unglaublich.

„Weil er Grund dazu hat.“ antwortete Saton schlicht. Er blickte in den Raum hinein, musterte jeden einzelnen und sah dann wieder Lennys an.

„Um deine Sicherheit muss ich mir hier keine Sorgen machen. Du könntest mit all den Männern hier gleichzeitig fertig werden.“ Er deutete auf die Sijakflasche. „Das gefällt mir nicht. Nicht in deinem Alter. Du bist nicht einmal siebzehn. Aber Sorgen, ...nein, Sorgen mache ich mir auch deswegen nicht. Das sind Dinge, die du selbst entscheiden kannst und musst. Ganz gleich, ob sie gut oder schlecht sind. Aber nicht jede Entscheidung, die dich betrifft, steht dir auch zu. Und welche Zukunft dir bevorsteht, beschließt nur einer. Und das wirst nicht du selbst sein.“

Lennys widerstand dem Impuls, eine trotzige Antwort hervorzustoßen. Eine Weile sah sie ihren Vater wortlos an, dann ging sie an ihm vorbei nach draußen ohne sich auch noch ein einziges Mal umzusehen.

Die Blicke im Raum hafteten nun auf Saton.

„Insgeheim weiß sie, dass du Recht hast.“ meinte Wandan.

Saton nickte.

„Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich wünschte, ich könnte ihr das ersparen, was auf sie zukommt."

Saton verzichtete sowohl auf eine Strafe als auch auf eine weitere Unterredung und Lennys vergaß den Vorfall schnell wieder. Natürlich sprach sich - nicht zuletzt dank der Gäste der Schenke - schnell herum, dass der Shaj seine Tochter des Nachts dort aufgegriffen hatte, aber selbst nachdem die Geschichte die anderen Kasernenschüler erreicht hatte, machte niemand den Fehler, in Lennys' Gegenwart darüber zu sprechen.

Nur wenige Tage nach dem unglückseligen Zusammentreffen in der Taverne nutzte sie die freien Abendstunden für ein Treffen mit Rahor, Racyl und Garuel.

Sie hatten sich diesmal nicht an ihren Lieblingsplatz hinter der Mauer zurückgezogen, sondern sich ausnahmsweise an die Vorschriften gehalten und Lennys' eigenes Zimmer aufgesucht. Sie war die einzige Kasernenschülerin, die allein wohnte, was allerdings nicht bedeutete, dass sie auch die Nächte einsam verbrachte.

"Bohain hat diesmal ziemlich viel einstecken müssen." sagte Garuel gerade, als die Sijakflasche, die durch die Runde gereicht wurde, ihn zum zweiten Mal erreichte. "Du hättest ihn schon fast soweit gehabt, Rahor."

"Ich will eigentlich nicht mehr davon reden. Du warst genauso gut, wenn du dir nicht diesen einen Patzer erlaubt hättest. Und das, was Lennys mit ihm angestellt hat,... davon war ich noch meilenweit entfernt."

Lennys lachte.

Sie lag auf ihrem Bett, hörte den beiden Männern amüsiert zu und schien sich dabei ihren eigenen Teil zu denken.

"Könnt ihr nicht endlich damit aufhören? Wen kümmert schon so ein Schaukampf? Und wen kümmert überhaupt der Säbel? Es wird Zeit, dass das ein Ende hat!"

"Ich weiß schon..." erwiderte Rahor. "Du kämpfst lieber mit der Sichel. Was ist denn dran an dem Gerücht, dass du und Cala... ?"

"Er hat die Herausforderung angenommen, wenn du das meinst. Auch wenn Wandan das nicht passt. Aber sie wollen nicht, dass jemand zuschaut. Ich kann dir ja dann erzählen, wie es war."

Racyl sah ihren Bruder und Lennys verwirrt an.

"Cala? Herausforderung? Du meinst... du willst gegen ihn kämpfen? Aber... aber doch nicht etwa... mit der Sichel?"

"Was dagegen, Kleines?" Lennys lachte erneut und zupfte spielerisch an einer Haarsträhne Racyls. "Hast du Angst um einen von uns beiden? Um wen denn genau?"

Sie fing einen Blick von Rahor auf, der sie eindeutig darum bat, nicht weiter zu sticheln. Der Sijak und das Hochgefühl der letzten Tage ließen die Wirkung der Bitte fast vollständig verpuffen, aber schließlich zuckte sie nur die Achseln.

"Lass nur. Wir sind ja hier von großen, anständigen Jungs umgeben. Ich darf gar nicht daran denken, dass ich sie nun überhaupt nicht mehr loswerde. Beide zum Burgdienst in Vas-Zarac befördert... ich frage mich, wann ich mal wieder meine Ruhe habe."

"Es wird sehr einsam hier werden, wenn ihr alle weg seid..." sagte Racyl traurig. Rahor tätschelte ihr sanft die Schulter.

"Wir sind doch gar nicht weg. Wahrscheinlich sind wir an wenigstens zwei Tagen in der Woche hier. Und wenn Saton auf Reisen ist, sogar mehr. Außerdem hast du doch hier noch viele andere Freunde."

"Es ist aber nicht mehr dasselbe."

Garuel grinste. "Stimmt. Es wird Zeit, dass du dich mal mit vernünftigen Menschen umgibst. Nicht immer nur mit Regelbrechern wie uns."

Es schien, als wolle Racyl noch etwas sagen, doch Rahor stand plötzlich auf.

"Lennys... könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?"

"Wozu?" Die Tochter des Shaj räkelte sich auf ihrem Bett und gähnte herzhaft. "Wenn du etwas zu sagen hast, sag es doch. Und wenn du gerade schon stehst, kannst du mir noch einmal die Flasche geben."

"Ich würde dich nicht bitten, wenn es mir nicht so wichtig wäre. Es dauert nur einen kleinen Moment."

"Nervensäge...." zischte sie, rappelte sich dann aber doch auf.

Der Waschraum lag direkt gegenüber von Lennys' Schlafzimmer und war angenehm kühl. Nur selten fielen Sonnenstrahlen durch das winzige Fenster und so war es auch jetzt, obwohl es gerade erst dämmerte, schon fast vollkommen dunkel in der kleinen Kammer.

Rahor war froh darüber. Er war alles andere als feige, aber das änderte nichts daran, dass ihm das, was er sagen wollte, leichter fallen würde, wenn er Lennys Blick dabei ein wenig ausweichen konnte.

"Ich... ich weiß nicht so ganz, wo ich anfangen soll..."

Sie stieß einen ungeduldigen Laut aus.

"Das hättest du dir ein bisschen früher überlegen sollen. Du hast gesagt, es dauert nicht lange."

"Ja... richtig. Also... es... es ist wegen Racyl."

"Ach?" schnaubte Lennys abfällig. "Kommt jetzt die Besorgter-großer-Bruder-Leier?"

"Nein. ... Oder vielleicht doch. Sieh mal... du... also... meine Güte, Lennys, siehst du es denn nicht? Sie ist... verrückt nach dir. Ich hasse es, das zu sagen, aber es ist eben so! Sie redet nur von dir, auch wenn du nicht da bist."

"Ja und?"

"Würde es sehr übertrieben klingen, wenn ich sage, du brichst ihr grade das Herz?"

"Würde es."

"Und wenn es so ist? Wir gehen weg von hier. Wir alle. Du auch. Nur sie bleibt zurück. Egal, was Garuel sagt, Racyl hat recht. Es wird nie mehr so sein wie bisher. Die zwei oder drei Tage, die wir noch hier sind in der Woche... das ist nicht mehr dasselbe."

Gelangweilt trommelte Lennys mit den Fingerkuppen auf den Rand eines steinernen Beckens.

"Und wenn schon? Das wusste sie vorher! Warum tut ihr alle so, als käme das total überraschend?"

"Tun wir doch gar nicht! Aber sie sieht das eben nicht so gelassen wie du! Es verletzt sie, dass es dir überhaupt nichts ausmacht."

"Was sollte es mir denn ausmachen?"

Rahor wurde blass.

"Sie ist dir egal, oder? Sie vergöttert dich und dir ist das egal. Sie würde alles für dich tun, aber du bemerkst es nicht einmal. Und ich weiß, es geht mich nichts an. Das willst du mir sagen, oder? Aber es ist meine Schwester!"

"Das weiß ich. Und du übertreibst maßlos. Du tust so, als wäre sie mir völlig gleichgültig."

"Ist sie das nicht?"

Plötzlich wurde Lennys sehr ernst.

"Nein. Nicht so wie du denkst. Aber ich bin nicht wie du, Rahor. Und ich bin auch nicht wie Racyl. Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich sie trösten, weil unsere Ausbildung vorbei ist? Soll ich so tun, als würde ich den Kasernen nachweinen? Ich war hier zu Hause, ich habe mich wohl gefühlt, aber jetzt beginnt eben ein neues Leben. Wieder daheim, in meiner Burg. Warum soll ich jammern? Nur, weil sie es tut? Willst du, dass ich sie belüge?"

"Wird sie dir denn nicht fehlen?"

"Warum? Sie kann doch genauso gut nach Vas-Zarac kommen an ihren freien Tagen. Wenn wir sie einladen, darf sie das, wo ist das Problem? Außerdem leistest du doch deinen Dienst in der Burg. Sie kann dich besuchen, das ist nicht verboten!"

Rahor hob die Brauen.

"Das würdest du erlauben? Dass sie mich... und dich... besucht?"

"Warum nicht? Ich bin schließlich alt genug!"

Etwas beruhigter lächelte Rahor.

"Könntest... du ihr das vielleicht sagen? Ich meine, es würde sie sicher freuen, wenn sie wüsste, dass du sie auch weiterhin sehen willst..."

"Manchmal bist du wirklich lästig."

Die meisten Säbelschüler verabschiedeten sich ein wenig wehmütig von den Kasernen. Sie standen noch nicht am Ende ihrer Ausbildung, aber es begann trotzdem ein neuer Lebensabschnitt. Vorbei waren die sorglosen Tage, in denen man sich nur um den Unterricht zu kümmern hatte und in denen ein Fehler oder ein regelwidriges Verhalten zwar durchaus unangenehme Konsequenzen haben konnte, jedoch keineswegs das Leben oder die Gesundheit eines anderen bedrohte.

All dies änderte sich nun nach den Säbelprüfungen. Zwar gehörte es immer noch zu ihren Pflichten, regelmäßig den Kasernenunterricht zu besuchen, doch die Theoriestunden und das vergleichsweise harmlose Kampftraining traten nun in den Hintergrund.

Das wahre Leben rief.

Während die weniger begabten Schüler ihren Dienst bei den Turmwachen, den Tempelgarden oder den Stadtpatroullien verbrachten, durften die Besten des Jahrgangs bei hohen Säbelwächtern, Generälen oder gar den Kriegern der Burg Vas-Zarac in die Lehre gehen. Viele Jahre waren schon ins Land gezogen, in denen kein einziger Zögling gut genug für den hohen Burgdienst gewesen war, hin und wieder war aber sogar mehreren zugleich dieser entscheidende Schritt gelungen. Akosh und Iandal, beide seit einigen Wochen wahre "Erwählte", hatten zu diesen besonders talentierten Kämpfern gehört, doch beide schienen nur ein schwacher Schatten derer zu sein, die nun in Vas-Zarac Einzug hielten. Neben Lenyca Ac-Sarr, die wie selbstverständlich nach Hause zurückkehrte, durften auch Rahor Req-Nuur und Garuel Mala-Rii von den Cas lernen, wie anspruchsvoll die Aufgaben der obersten Gebieter der Nacht tatsächlich waren.

Und es gab viel zu tun. In allererster Linie galt es, den Shaj vor jedwedem Angriff, aber auch vor Störungen und Belästigungen zu schützen. Am Aufgang zu Satons Privatgemächern hielten - sofern er dort weilte - zwei Cas dauerhaft Wache, in seiner Abwesenheit wurden sie durch Säbelwächter ersetzt. Hielt sich der Shaj in anderen Teilen der Burg auf, waren auch hier die Cas nie weit und standen ihm entweder direkt zur Seite oder schützten sämtliche Zugänge. Doch sie nahmen auch an wichtigen Sitzungen und Besprechungen teil, durchsuchten Gäste und prüften die Arbeit der ihnen unterstellten Krieger. Natürlich war es den drei jungen Schülern nicht gestattet, an sämtlichen Aktivitäten der Erwählten teilzuhaben, doch sie hatten in vielerlei Hinsicht mehr Rechte als alle anderen Gebieter der Nacht und zudem einen recht engen Kontakt zum Herrscher selbst.

In ruhigen Stunden nutzte Saton die Gelegenheit, besonders Rahor und Garuel näher kennenzulernen und er bot ihnen überdies an, ihn jederzeit aufzusuchen, wenn sie seinen Rat und sein Wissen wünschten. In dieser Hinsicht - so der Shaj - sei es ihnen genauso erlaubt, um eine Unterredung mit ihm zu bitten, wie es seiner Tochter und den Cas gestattet war. Nur der Zugang zu seinen Privatgemächern blieb den beiden jungen Kämpfern versagt.

"Eines Tages..." so erklärte er in einem ernsten Gespräch mit ihnen, "..werdet ihr auch dieses Recht haben. Aber noch ist es nicht an der Zeit. Seid dankbar dafür."

Und sie waren es.

Das Können der neuen Säbelriege sprach sich schnell in ganz Vas-Zarac herum. Und obwohl Wandan alle Mühen walten ließ, gelang es ihm doch nicht, zu verhindern, dass bald ein Gerücht die Runde machte, welches besagte, dass Lennys den hohen Cas Cala im Sichelkampf geschlagen habe. Die Cas selbst schwiegen eisern über jenes Ereignis und selbst Lennys, die sonst nicht daran sparte, ihre Siege zu betonen, verzichtete darauf, jemandem davon zu berichten. Seit der Säbelprüfung und ihrem Erfolg gegen den alten Bohain zog sie es vor, ihre Stärke nicht mehr allzu offen zur Schau zu stellen.

Calas Niederlage zwang allerdings den Shaj Saton, in anderer Hinsicht zu reagieren.

Rahor Req-Nuur versah gerade einen recht langweiligen Wachdienst im unteren Festungsbereich und rechnete im Stillen aus, ob der Schatten, in dessen kühlen Schutz er stand, langsam genug wanderte, um sich bis zu seiner Ablösung in seiner Nähe zu halten. Gerade als er zu dem Schluss kam, dass er zumindest einen Teil seines Dienstes in der sengenden Nachmittagssonne würde verbringen müssen, bog der Cas Ruis um die Ecke.

Rahor mochte den bärtigen Haudegen, der nie um eine barsche oder ironische Antwort verlegen war, aber sich in der Geschichte der Herrscherlinien und der Burg wohl so gut auskannte, wie kaum ein anderer Erwählter.

"So lässt es sich aushalten..." brummte er und musterte Rahor schief. "Musst dich nicht mit anstrengenden Bittstellern herumärgern, kannst im Schatten vor dich hinträumen und heute abend hast du frei. So schön möchte ich es mal haben..."

"Mir wäre es lieber, ich hätte etwas zu tun. Es liegt mir nicht, herumzustehen."

"Du wirst es schon noch lernen, Junge. Irgendwann weißt du solche ruhigen Stunden zu schätzen."

"Mag sein. Wir können gern tauschen, wenn du lieber..."

"Werden wir auch." sagte Ruis. "Deshalb bin ich ja hier. Ich löse dich ab."

"Jetzt schon? Mein Dienst geht noch mindestens vier..."

"Ja, jetzt. Der Shaj will dich sehen. Na, immer noch so scharf darauf, wegzukommen?"

"Der Shaj?" Rahor runzelte die Stirn. "Willst du mich veralbern? Ich dachte, Saton ist unten bei den Ställen?"

"War er. Und jetzt will er dich sprechen. Na, mach schon. Er ist im Kaminzimmer. Ich würde ihn nicht warten lassen an deiner Stelle, das mag er nämlich nicht. Ich vermute mal, du hast irgendetwas ausgefressen..."

Rahor zwang sich zu einem selbstsicheren Grinsen, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. "Dann hoffe ich für dich, dass er mir nicht den Kopf abreißt. Sonst darfst du hier am Ende noch in der Sonne schmoren, bis ein Ersatz für die Wache gefunden wurde."

Ruis knurrte noch etwas Unverständliches, versetzte Rahor einen derben, aber freundlichen Stoß in die Rippen und gähnte anschließend herzhaft.

"Jetzt mach, dass du wegkommst. Wenn du den Tag überleben solltest, kannst du ja heute abend bei uns vorbeischauen. Wollen doch mal sehen, ob du auch trinken kannst wie wir."

"Ich komme gern... wenn ich darf."

Im Kaminzimmer des Shajs brannte kein Feuer. Nur in den Wintermonaten schürten hier die Diener wärmende Flammen, aber jetzt war es dunkel und kühl. Schwere Samtvorhänge hielten Licht und Sommerhitze davon ab, sich des Raums zu bemächtigen.

Fast glaubte Rahor, Ruis hätte sich doch einen Scherz erlaubt, denn als er eintrat, war niemand zu sehen. Der Lehnstuhl vor der kalten Feuerstelle war leer, ebenso der Sessel vor dem Arbeitstisch, an dem Saton häufig seinen Schriftverkehr studierte, wenn ihm das eigentliche Arbeitszimmer zu eintönig wurde.

Plötzlich erhaschte er eine Bewegung im Augenwinkel.

Der Shaj stand in einer dunklen Ecke des Zimmers und betrachtete eine Landkarte, die seit einiger Zeit dort hing. Sie zeigte die groben Umrisse des gesamten Kontinents und inzwischen waren sogar Grenzlinien, die Bergkette Valahir und ein langer Fluss eingezeichnet. Die Kundschafter arbeiteten gut.

"Setz dich." sagte Saton, ohne Rahor anzusehen. "Ich bin froh, dass du so schnell gekommen bist. Sonst hätte ich es mir womöglich noch einmal anders überlegt."

Zögernd nahm Rahor auf einem Hocker vor dem Schreibtisch Platz.

"Du musst nämlich wissen..." fuhr der Shaj fort, "... dass ich diese Unterhaltung schon eine ganze Weile vor mir herschiebe. Ich habe mir selbst eingeredet, dass sie noch nicht nötig sei. Wider besseren Wissens natürlich. Und um ehrlich zu sein, verstehe ich noch nicht einmal, was genau mir daran so widerstrebt. Der einzige Grund, der mir einfällt, bist du..."

Rahor verstand kein Wort.

"Herr... ich weiß nicht..."

Aber Saton lächelte milde.

"Dummes Geschwätz eines alten Mannes, verzeih mir. Oh nein, sag nichts. Ich sehe vielleicht nicht alt aus und wenn man meine Lebensjahre zählt, bin ich es wohl auch nicht, aber ich fühle mich so. Manchmal. Du wunderst dich, warum ich so offen bin, nicht wahr? Nun, ich werde gleich noch sehr viel offener werden. Und ich hoffe, dass du es wert bist. Dass ich mich dahingehend irre... dieser Zweifel ist wohl die Ursache für mein Zögern."

Jetzt endlich wandte Saton seinen Blick Rahor zu, der sich bemühte, eine möglichst selbstsichere und aufrechte Haltung zu bewahren.

"Ich will nicht länger so geheimnisvoll tun. Denn eigentlich ist es gar kein Geheimnis. Aber nicht jeder wagt es, die Wahrheit auszusprechen. Manchmal muss man das trotzdem tun. Ich erwarte von dir, dass du mir in diesem Gespräch ehrlich antwortest, auch wenn du vielleicht Dinge sagen musst, die nicht angenehm sind. Kannst du das?"

Rahor nickte.

"Natürlich, Herr, wenn ihr es wünscht."

"Dann sage mir, Rahor Req-Nuur, wie wird deine Zukunft aussehen? Was denkst du?"

Das war keine leichte Frage. Insbesondere nicht, wenn er sie ehrlich beantworten sollte. Ehrlich - das bedeutete auch, keine falsche Bescheidenheit an den Tag zu legen. Das bedeutete, sich nicht zu verstellen. Aber andererseits... er hätte Saton auch nie belügen können.

"Ich kenne meine Zukunft nicht, Herr. Vielleicht habe ich keine. Vielleicht falle ich schon sehr früh im Kampf oder habe einen Unfall."

"Nun, gehen wir einmal davon aus, dass das nicht der Fall ist..."

"Ich hoffe, dass ich eines Tages ein Cas werde, Herr. Ich möchte euch dienen und ich glaube, dass ich gut genug dafür bin, in die oberen Ränge aufzusteigen. Wenn ich mir keinen schweren Fehler erlaube... dann... dann glaube ich, dass das meine Zukunft ist. Oder sein könnte."

Saton sah ihn nachdenklich an.

"Ja und nein. Alles, was du sagst ist richtig. Du bist nicht dumm, Rahor. Es ist nicht nötig, dir zu sagen, dass du ebenso vielversprechend bist, wie Wandan es seinerzeit war. Aber... du hast etwas sehr Entscheidendes gesagt. 'Ich möchte euch dienen.' Das waren deine Worte. Nicht wahr?"

"Ja Herr. Und sie sind wahr."

"Und deshalb bist du hier. Darüber muss ich mit dir reden. Denn du bist jung. Sehr jung. Sogar noch jünger als Wandan, als er geweiht wurde. Jünger als die meisten. Auch jünger als Akosh und Iandal."

Das war es also. Es war keine Überraschung, doch Rahor wunderte sich, dass Saton dieses Thema so ernst nahm.

"Herr..." begann er eine Spur erleichterter, "...ich weiß, dass ich noch warten muss. Vielleicht viele Jahre. Und ich wünsche mir, dass es noch lange dauert, denn das würde bedeuten, dass alle Cas noch lange Zeit gesund sind und euch dienen können. Dafür warte ich sehr gern. Mein ganzes Leben, wenn es sein muss."

Aber Saton schien nicht beruhigt. Er sah noch ernster aus als zuvor.

"Das ist nicht der Grund, warum ich dich sprechen wollte. Du bist vernünftig, Rahor, du weißt, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist. Wir sind der Wahrheit nahe, aber du hast sie noch nicht erreicht. Also denke nach. Du bist jung, wie ich bereits sagte. Du musst warten, bis die Cas zu alt sind, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Zu geschwächt. Oder tot. Wir scheuen diese Gedanken nicht, sie gehören zu unserem Leben als Krieger. Wenn du an deine Zukunft denkst, dann denkst du unweigerlich an die, die bereits jetzt an der Stelle stehen, die du eines Tages erreichen möchtest. Findest du nicht, dass es noch jemanden gibt, den du in deine Träume miteinbeziehen solltest? Sage mir noch einmal, was du tun willst. Was dein Wunsch ist. Und dann sage mir, ob es nur die Cas sind, die in deinem Leben eine Rolle spielen."

Rahor zögerte.

"Hoher Shaj... ihr... ihr seid nicht... alt... Also, falls ihr meint, dass..."

"Hast du jemals einen Gedanken daran verschwendet, dass nicht ich der Herr bin, dem du eines Tages dienen wirst?" fragte Saton jetzt unverblümt.

"Nun,... ich..."

"Weißt du, wie ein Shaj gewählt wird?"

Die Frage überraschte Rahor aufs Neue.

"Ja,... natürlich. Er wird gewählt. Von den Cas. Aus ihren Reihen. Ash-Zaharr wiegt ihre Stimmen und letztendlich entscheidet er. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären kann, aber..."

"Aber du hast es verstanden. Das ist gut. Und du weißt, dass einer der Cas eines Tages mein Nachfolger sein wird."

"So will es das Gesetz. Aber, Herr, daran jetzt schon zu denken..."

"Ich muss daran denken. Die Zukunft unseres Reichs hängt davon ab. Ich nehme an, dass du bereits im Unterricht gelernt hast, dass der Shaj der Nacht auch auf andere Art ernannt werden kann?"

"Ja. Ich gebe aber zu, dass ich es nicht so ganz begriffen habe. Es hat etwas mit den Kämpfen zu tun."

"So ist es. Ein Shaj der Nacht kann in Schlachten fallen. Eigentlich ist genau das auch sein Schicksal. Wir sind ein Land der Krieger und wenn unser oberster Krieger stirbt, dann... dann folgt ihm jemand auf den Thron. Findet er im Sichelland sein Ende, so wird der Nachfolger gewählt, ganz wie du es gelernt und beschrieben hast. Fällt er jedoch in der Fremde, fern der Heimat, ...dann sind nur die Cas bei ihm. Und sie beschließen sozusagen sofort, wer an sie Stelle des Toten tritt. Jeder für sich. Und Ash-Zaharr fällt sein Urteil. Ohne Zeremonie. Es ist einfach so. Mit dem Tod des alten Shaj steht auch der neue fest. Nur bei den Gebietern der Nacht wird so gehandelt."

"Ich habe davon gehört. Es klingt sehr einfach, aber ich glaube, das ist es nicht."

"Möglicherweise einfacher als du denkst."

"Herr,... warum ...?"

"Warum ich dich solche Dinge frage? Weil du verstehen musst. Eines Tages sterbe ich. Vielleicht schon morgen. Vielleicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren. Wer weiß das schon. Vielleicht bist du dann ein Cas, vielleicht noch nicht. Aber - da stimme ich dir zu - du wirst einer werden, wenn das Schicksal sich nicht als besonders grausam erweist. Du bist einer von denen, die auch den nächsten Shaj beschützen müssen. Und deshalb bist du jetzt hier."

Rahor öffnete den Mund. Erst jetzt ahnte er, worauf Saton wirklich hinauswollte. Doch der Herrscher kam ihm zuvor.

"Wir wissen, wer das sein wird. Du weißt es. Ich weiß es. Die Cas wissen es. Zweifelst du?"

Die Frage kam zu schnell. Bis zum heutigen Tag hatte Rahor zwar das eine oder andere Mal einen vagen Gedanken in die Zukunft geschickt, aber so ernsthaft hatte er sich nie vorzustellen gewagt, was nach Saton kommen konnte. Und ja, es war offensichtlich. Aber ob er zweifelte, das konnte er doch nicht so einfach sagen. Er brauchte Zeit, viel Zeit, um sich darüber im Klaren zu werden.

"Herr,... ich glaube es. Ich glaube, eines Tages wird die Nacht des Sichellandes von eurer Tochter beherrscht. Aber ob ich zweifle, kann ich nicht sagen. Es ist, wie ihr sagtet. Manchmal tut es weh, die Wahrheit zu sehen und euer Tod ist eine Wahrheit, die ich nie sehen wollte. Deshalb habe ich es mir nie vorgestellt."

"Das ist sehr ehrlich. Ich bin nicht nur ein Herrscher, Rahor. Ich bin auch ein Vater. Ein Vater, der sich sehr wohl Sorgen macht. Nicht nur um sein Land, sondern auch um sein Kind."

Er sprach nicht weiter, sondern sah Rahor einfach nur an. Durchdringend, aber nicht unfreundlich. Ernst, aber nicht niedergeschlagen. Dies war der entscheidende Moment. Keine Fragen mehr. Keine Hilfen. Es war der Moment, in dem Rahor aus eigenem Antrieb erkennen und verstehen musste. Der Augenblick, in dem er beweisen musste, dass er zu Recht hier saß. Er würde ihn nicht drängen und ihn nicht durch Ungeduld unter Druck setzen. Selbst wenn es die ganze Nacht dauern würde.

Es war schwer, zu sagen, wie viel Zeit wirklich vergangen war. Zeit, in der sie sich vollkommen schweigend angesehen hatte, beide jeweils in die schwarzen Batí-Augen des Gegenübers starrend.

Irgendwann hob Rahor den Kopf, ohne den Blick abzuwenden.

"Was auch immer geschieht - was auch immer ich bin oder sein werde. Ich bin bereit, mein Leben für sie zu geben. So wie ich es für euch geben würde. Ob sie heute oder morgen über das Land gebietet, ob ich ein Knecht bin oder ein Cas. Ich bin bereit, jedes Gesetz zu akzeptieren, das mein Handeln erschwert oder mich innerlich zerreißt. Ich bin bereit, für sie zu sterben und alles in meinem Leben aufzugeben, um diese Pflicht zu erfüllen. Ohne Ausnahme."

Saton zeigte keinerlei Regung.

"Du kannst gehen." sagte er schlicht.

Erst viel später, als er schon lange allein war, stand der Shaj auf, sah hinauf zur Decke des Kaminzimmers als würde sich der Himmel über ihn öffnen und flüsterte:

"Es sind Menschen wie er, die du Verfluchte nennst. Du bist nicht gnädig, Ash-Zaharr. Aber als dein ergebenster Diener bitte ich dich, gerecht zu sein."

Lennys mochte keine Sonne. Sie verabscheute sie, und mit ihr alles, was hell oder wärmend war. Ganz gleich ob Feuer oder den Sommer oder ein strahlend erleuchtetes Dampfbad.

Jetzt musste sie zugeben, dass ein einzelner Sonnenstrahl in der Kühle des Morgens durchaus seine Reize hatte. Er fiel direkt durch eine Spalte des Vorhangs hindurch auf hellblondes, seidiges Haar und er ließ es leuchten wie die Sonne selbst. Heller als Bernstein, heller als Honig, heller als Gold. Ihr fiel nichts ein, was sich mit dieser Farbe vergleichen ließ.

Racyl schlief noch. Sie atmete ganz ruhig, aber manchmal bewegte sie sich fast unmerklich und der Sonnenstrahl auf ihren Strähnen glitzerte, als wäre das Haar von feinstem Edelsteinstaub bedeckt. Diamantstaub.

Sie konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. Nach einer Weile beugte sie sich dichter über die Schlafende und sog ihren Duft ein. Er erinnerte an Blumen, vielleicht an Rosen. Nein, viel sanfter. Veilchen. Sie hatte keine Ahnung. Selbst in Vas-Zarac, der düsteren Festung der Krieger, gab es Blumen, aber sie hatte sich nie eingehend damit beschäftigt. 'Vielleicht', so dachte sie; 'vielleicht gibt es irgendwo hellgoldene Blüten, die genauso duften.'

Ihre Hand strich vorsichtig über Racyls Schulter. Die Haut hatte die Farbe feinsten Porzellans und war dabei weich wie Samt.

Über den Rücken.

Das Seidenlaken glitt zur Seite und gab den Blick auf den feingliedrigen, schmalen Körper frei, der jetzt erschauerte.

"Es ist kalt." flüsterte Racyl, ohne die Augen zu öffnen.

Widerstrebend zog Lennys das Laken wieder über ihre Schultern.

Racyl drehte sich zur Seite und der Sonnenstrahl verschwand aus ihren Haaren, um irgendeine nichtssagende Stelle auf den Kissen zu beleuchten.

"Bist du schon lange wach?"

Lennys schüttelte den Kopf.

"Es ist zu hell zum Schlafen."

"In den Kasernen ist es heller."

"Mag sein." Mit einem Ruck sprang Lennys aus dem Bett und warf sich ein dünnes Morgengewand über. "Gefällt es dir dort besser?"

"Nein. Es ist sehr schön hier in Vas-Zarac. Du musst wirklich glücklich sein, hier wohnen zu dürfen."

"Es geht. Eigentlich habe ich darüber nie nachgedacht. Ich finde, es gibt Wichtigeres als ein großes Bett oder silberbeschlagene Türen."

Racyl lachte leise.

"Sicher gibt es das." Sie schwang nun ebenfalls ihre langen Beine über die Bettkante, bedeckte ihren Körper aber mit dem Seidenlaken. "Aber schön ist es trotzdem."

"Ansichtssache. Ich bin lieber draußen. Nachts. Nur ich und meine Sichel. Eigentlich müsste es dir genauso gehen."

"Mir? Aber... ich habe doch noch gar keine Sichel."

"Du bist doch eine Kriegerin, oder nicht? Wir denken alle so! Die Batí natürlich besonders, aber auch die anderen. Und du bist zumindest eine halbe Batí."

Verlegen zupfte Racyl an einem Zipfel des Lakens.

"Ich.. ich habe die Säulenprüfung noch nicht gemacht. Erst dann bin ich wirklich eine Kriegerin."

"Ja, und? Willst du es dir vielleicht nochmal anders überlegen?" Lennys lachte spöttisch. "Am Ende willst du wohl noch Priesterin werden? Vergiss das mal ganz schnell wieder. Wer einmal den Säbel in die Hand nimmt, der lässt ihn nie wieder los. Das gilt auch für dich."

"Aber ich bin nicht so wie du. Es macht mir Spaß, ja, aber... irgendwie..."

"Spaß?" Zu Racyls Überraschung sah Lennys ein wenig ärgerlich aus. "Das hat doch nichts mit Spaß zu tun! Wie könnten wir je etwas anderes tun? Es gehört zu unserem Leben, so wie das Atmen! Wir wollen das Blut der Feinde trinken, wollen ihnen beim Sterben in die Augen sehen, wollen sie ausmerzen - jeden Einzelnen! Weil es unsere Bestimmung ist! Unser Wille! Unser Verlangen! Nenn es nicht Spaß! Es ist kein Spaß! Es ist viel mehr!"

Bei diesen Worten überkam Racyl erneut ein Schauer. Immer, wenn Lennys über das Kämpfen sprach, machte ihr die Wandlung in der Gefährtin Angst. Es war, als würde ein eiskaltes Feuer in ihr schwelen und manchmal glaubte sie, in ihren Augen die des Dämons zu erkennen, wie er nach Blut lechzte und danach gierte, seine Feinde zu zerreißen.

Zugleich aber erregte sie diese Gefährlichkeit und obwohl sie sich selbst in solchen Momenten schwach und unwürdig vorkam, fühlte sie sich wie magisch davon angezogen. Denn sie hatte gelernt, diesen Hauch des Dämons, zweifellos begründet im reinen Batíblut, der in Lennys schlummerte, zu zügeln. Sie erhob sich vom Bettrand, ließ das Laken fallen und ging - vollkommen nackt - auf Lennys zu.

"Es gibt noch andere Dinge, die weit mehr sind als Spaß..." hauchte sie und legte ihre Hände auf Lennys' Schultern. Die Wirkung trat sofort ein. Das Eisfeuer in den pechschwarzen Augen erlosch und ihre Muskeln entspannten sich. Das Morgengewand glitt zu Boden.

"Vergiss nicht, was du bist." sagte die Tochter des Shajs, klang aber dabei eine Spur sanfter. "Priester sind schwach. Willst du schwach sein?"

Obwohl diese Worte sie verletzten, lächelte Racyl.

"Manchmal bin ich es, auch wenn ich es nicht will. Kennst du dieses Gefühl nicht?"

"Nein. Nichts geschieht gegen meinen Willen."

Racyls Mundwinkel zuckten. In der Tat schien das Leben ganz nach Lennys' Vorstellungen zu verlaufen, aber eigentlich hatte die angehende Cas es sich in letzter Zeit abgewöhnt, darauf hinzuweisen. Inzwischen verbrachte sie ungewöhnlich viele Stunden allein, zurückgezogen von den Kriegern und den geselligen Treffen hinter Kasernenmauern oder Rosenhecken. Sie sprach mit niemandem darüber, was sie in dieser Zeit tat, aber Racyl vermutete, dass sie heimlich lernte. Denn wann immer jemand eine Frage stellte, sei es zu den Fremdländern, zur Landespolitik, zu den Tempeln oder zu den Minenerträgen - Lennys kannte stets die Antwort. Und das, obwohl sie im Unterricht nicht gerade durch Anwesenheit glänzte.

'Wahrscheinlich', so dachte Racyl weiter, 'will sie einfach nicht zugeben, dass es sie interessiert. Wahrscheinlich will sie nicht als lerneifrig und ehrgeizig gelten. Alle sollen denken, der Unterricht wäre ihr egal.'

Doch sie machte nicht den Fehler, sie danach zu fragen. Lennys war leicht aufbrausend und sie hasste es, wenn sich irgendjemand allzu neugierig in ihre Angelegenheiten mischte. Vielleicht war dies auch der Grund, warum sie Racyls Nähe häufig zuließ - denn die Schwester des inzwischen hoch angesehen Rahor Req-Nuur zeichnete sich durch Verschwiegenheit und Stille aus. Sie plapperte nicht wie andere Mädchen ihres Alters unaufhörlich vor sich hin und zugleich hatte sie ein schon beinahe unheimliches Gespür dafür, wann die Tochter des Shajs alleingelassen werden wollte.

Racyl machte sich nichts vor. Sie glaubte zu wissen, dass Lennys nicht alle Nächte allein verbrachte, auch wenn sie nicht da war. Natürlich gab es niemanden, der ihr davon berichtet hätte, aber keine Dienerstochter, keine Dorfdirne und auch kein Säbelschüler oder Krieger war klug genug, diese heimlichen Treffen vor ihr zu verbergen. Manche machten sogar vage Andeutungen, halb stolz, halb enttäuscht und verletzt und diese Mischung verriet Racyl mehr als alles andere, dass die Stunden mit Lennys für sie mehr als nur ein Wunschtraum gewesen waren.

Nur sie durfte wiederkommen.

Sehr zu Rahors Missfallen, denn er sah das Treiben seiner kleinen Schwester überhaupt nicht gern. Mehr als einmal hatte er Racyl schon zur Seite genommen. An eine dieser Unterredungen erinnerte sie sich besonders genau.

Es war noch nicht lange her. Genaugenommen am Tag nach ihrem ersten Besuch in der Burg, gleich nachdem sie wieder die Kaserne erreicht hatte. Rahor hatte sie schon erwartet und um ein Wort unter vier Augen gebeten.

"Ich weiß, was du mir sagen willst." war sie ihm zuvor gekommen. "Es gefällt dir nicht, dass ich mich mit Lennys treffe. Und das auch noch in Vas-Zarac."

Und er hatte es bestätigt.

"Du hast recht. Es gefällt mir nicht. Ihr passt nicht zueinander, sie und du. Du... du bist liebenswürdig, rücksichtsvoll, sensibel. Das genaue Gegenteil zu ihr. Früher oder später wird sie dir wehtun und das möchte ich nicht. Warum sie? Warum ausgerechnet die Tochter Satons? Warum suchst du dir nicht einen netten Jungen oder meinetwegen auch ein nettes Mädchen, das zu dir passt?"

"Man kann sich so etwas nicht aussuchen." hatte sie lächelnd geantwortet. "Aber bis jetzt gab es doch keine Probleme. Und deine Angst... ich kann sie ja verstehen. Sie ist eben so. Und ich weiß das. Sie kann mich nicht damit verletzen, dass sie auch hin und wieder... mit anderen zusammen ist. So gut kenne ich sie schon. Es gehört eben dazu. Und ich kann das akzeptieren. Vielleicht... kannst du es auch."

"Es fällt mir schwer. Es ist nicht in Ordnung, was sie tut. Sie kann natürlich machen, was sie will, aber mir wäre es lieber, wenn nicht ausgerechnet du das ausbaden müsstest. Aber erzähle es um Himmels Willen nicht unserem Vater."

Ja, das war Rahors größte Sorge gewesen. Erzähle deinem Vater nicht, dass du das Bett mit Satons Tochter teilst.

Celdros war ein großzügiger, toleranter Mann, ein Krieger, den so leicht nichts aus der Fassung brachte. Und er glühte vor Ehrfurcht vor seinem Shaj. Vor Feinden hatte er keine Angst, vor dem Tod oder schweren Wunden auch nicht. Aber vor dem Zorn seines Herrn. Nicht auszudenken, wenn eines seiner Kinder - ganz gleich welches - irgendetwas tat, was Lennys verärgerte oder gar verletzte. Nicht auszudenken, wie Saton darauf reagieren würde, wenn ein Req-Nuur ein Mitglied der Ac-Sarr-Familie enttäuschte.

Nein, das wollte sie auch nicht. Sie würde beweisen, dass ihre Treue echt war. Und sie würde Lennys, Saton und vor allem auch Rahor beweisen, dass sie viel härter im Nehmen war, als man es ihr je zugetraut hätte.

Das Blut des Sichellands

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